Chinas Boom stößt an seine Grenzen, und die Aktienmärkte brechen ein. Anleger setzen vermehrt auf die hiesigen Profiteure des Aufschwungs
von Frank Stocker
Wen Jiabao, Chinas Ministerpräsident, gewann bei seinem Deutschlandbesuch durch seine freundliche Art. Wu Xiaoling ist aus anderem Holz geschnitzt. "Wer mit uns ein Spiel treiben will, sollte sich vorsehen", warnte die stellvertretende Chefin der chinesischen Notenbank vor wenigen Wochen beim Boao-Forum, einer Konferenz der Finanz- und Wirtschaftsverantwortlichen Ostasiens. "Spekulanten werden bestraft." Und kaum hatte sie das ausgesprochen, reagierten die Börsen in Hongkong und Shanghai. Der Hang-Seng-Index ist in den Sinkflug übergegangen. 20 Prozent hat er in den letzten beiden Monaten verloren. Die Anleger befürchten, dass in China in Kürze eine große Blase von Überinvestitionen platzt.
Die Zahlen legen das nahe. Die Wachstumsrate von 9,7 Prozent im ersten Quartal ist für deutsche Verhältnisse schon unvorstellbar. Doch sie spiegelt die rasante Entwicklung noch nicht einmal richtig wider, denn darin fließen auch die Landwirtschaft und das darbende Hinterland ein. Allein die industrielle Aktivität ist im März aber um 19,4 Prozent gestiegen. Der Stromverbrauch wuchs um 16,4 Prozent. Die Investitionen in neue Industrieanlagen und Produktionsstätten legten gar um gigantische 43 Prozent gegenüber dem Vorjahr zu. Derartige Raten konnte selbst Japan während seiner Aufholjagd in den 70er-Jahren nicht aufweisen. "Der Investitionsboom hat zu solchen Exzessen geführt, dass eine anschließende Krise nicht ausgeschlossen werden kann", warnt daher Stephen Roach, Chefökonom von Morgan Stanley.
Die Regierung in Peking und die Notenbank wollen es nicht so weit kommen lassen, sondern die Wirtschaft gezielt zu einer "sanften Landung" bringen. Ende April wies die People's Bank of China in einem ersten Schritt elf staatliche Banken an, für drei Tage keinerlei neue Kredite zu vergeben. Gleichzeitig erhöhte sie die Mindestreservesätze. Und um allen klar zu machen, was die Stunde geschlagen hat, ließ die Regierung zehn Manager einer privaten Stahlgesellschaft festnehmen, weil sie angeblich ohne Genehmigung ein Investitionsprojekt im Umfang von 1,3 Milliarden Dollar weiter vorangetrieben hatten.
Ein weiteres Zeichen und eine weitaus effizientere Maßnahme, den Boom zu bremsen, könnte eine Erhöhung der Leitzinsen sein. Die Investmentbank Crédit Suisse First Boston erwartet, dass die Notenbank die Zinsen ab Juni schrittweise erhöhen wird, um immerhin 200 Basispunke innerhalb der kommenden 18 Monate. Auch Goldman Sachs rechnet mit einer Anhebung um einen Prozentpunkt binnen zwölf Monaten.
Die Frage ist, ob damit die sanfte Landung gelingt oder ob es zu einer Überreaktion kommt. "Wir glauben, dass die Wachstumsrate bei Investitionen von derzeit 43 Prozent bis Ende 2005 auf null bis zehn Prozent zurückgehen wird", äußert sich Andrew Garthwaite von Crédit Suisse First Boston besorgt. "Das würde dann auch ganz klar eine deutlichere Abschwächung des Bruttoinlandsprodukts bewirken als bisher von der Mehrheit der Analysten angenommen." Sie rechnen derzeit mit einem Rückgang auf 8,3 Prozent in diesem und 7,7 Prozent im nächsten Jahr.
"Ich teile diesen Pessimismus nicht", sagt dagegen Stephen Roach. "Immer wieder in den vergangenen Jahren hat China die Schwarzseher eines Besseren belehrt." Das war bei der großen Asienkrise Mitte der 90er der Fall und auch während der globalen Rezession von 2001. Das zentrale Thema der chinesischen Reformen sei "Stabilität". "Und genau das ist es, worauf Frau Wu zielt", so Roach.
Auch Zachary Karabell, Vizechef von Fred Alger Management und Manager von dessen China-US Growth Fonds, glaubt nicht an eine Blase in der wirtschaftlichen Entwicklung. "Es gibt allerdings starke Schwankungen an den chinesischen Aktienmärkten", warnt er. "In den vergangenen Monaten ist viel heißes Geld in chinesische Aktien geflossen", so Karabell. "Bei dem kleinsten Zeichen, dass die Wirtschaft vielleicht nicht mehr ganz so stark wächst, fließt daher viel Geld wieder ab."
Richard Wong, Fondsmanager des HSBC Chinese Equity, sieht das ähnlich. "Wir erwarten, dass der Markt sich im zweiten Quartal weiter konsolidieren wird, weil Anleger angesichts der gegenwärtigen Unsicherheiten erst mal Gewinne mitnehmen", sagt er. "Dennoch glauben wir, dass diese kurzfristigen Sorgen keinen Einfluss auf Chinas langfristige Wachstumsperspektiven haben."
Die Schwankungen an den chinesischen Aktienmärkten werden aber auch in Zukunft groß bleiben. "In einem Schwellenland gibt es immer viel Geld, das am Boom teilhaben will, und wenige Aktien", beschreibt Karabell das Dilemma. Er rät daher, lieber indirekt auf Chinas Erfolg zu setzen. "Es gibt sicher eine Reihe viel versprechender chinesischer Unternehmen, dennoch sollten Investoren sich vor allem die Unternehmen zu Hause anschauen, die direkt in China engagiert sind", sagt er. "Das ist eine Möglichkeit, am Wachstum Chinas teilzuhaben, bei geringerem Risiko als bei einer direkten Anlage in den volatilen chinesischen Aktienmarkt."
Allerdings dürften sich in den kommenden Monaten die Gewichte der Branchen verschieben. Während bisher vor allem Erdöl- und Rohstoffwerte oder Zulieferer für die Stahlindustrie profitierten, könnte sich nun der Schwerpunkt auf den Konsum verlagern. "Die robuste Inlandsnachfrage wird ein wesentlicher Antriebsfaktor für das wirtschaftliche Wachstum und die Aktienkurse bleiben", glaubt Richard Wong. Und Frau Wu wirbt - trotz aller Abneigung gegen Spekulanten - um Mithilfe. "Ich fordere alle dazu auf, zu einer sicheren Reise des chinesischen Boots beizutragen."
Artikel erschienen am 9. Mai 2004
wams