Wie Union und SPD, Schönbohm und Stolpe auf den Eklat im Bundesrat hinsteuerten und am Ende doch nicht alles wie geplant verlief
POTSDAM/BERLIN, 25. März. Die Auftritte von Parteivorsitzenden vor den Jugendverbänden ihrer jeweiligen Parteien sind oft aufmunternde Vorstellungen. Da darf auch ein Parteivorsitzender mal nach Herzenslust loslegen und alle Bedenklichkeiten fahrenlassen. Da kommt mitunter eine Stimmung auf, die man sonst bestenfalls vom politischen Aschermittwoch kennt. In einer solchen Stimmung schilderte der CDU-Landesvorsitzende von Brandenburg, Schönbohm, den Mitgliedern der Jungen Union am 17. November des vergangenen Jahres, welche Konsequenzen das von der rot-grünen Bundesregierung geplante Zuwanderungsgesetz für die Landesregierung in Potsdam haben könnte.
Der Bundestag werde, so Schönbohm, das Gesetz beschließen. Am 20. Dezember würde es zu einer ersten Lesung in den Bundesrat kommen, am 22. März zur Abstimmung. "Dann kommt es zum Schwur", sagte Schönbohm, dem klar war, daß SPD-Ministerpräsident Stolpe dem Gesetz zustimmen, die CDU aber dagegen sein würde. Auf Brandenburgs vier Bundesratsstimmen werde es ankommen, erklärte Schönbohm. Da könne sich für die Potsdamer Koalition die Existenzfrage stellen. Noch heute ist selbst die CDU-Führung erstaunt nicht nur über die Hellsicht ihres Landesvorsitzenden, sondern auch über die Tatsache, daß er das Thema im Kreis der Jungen Union angesprochen, ein paar Stunden zuvor auf einer Veranstaltung seiner Partei mit der Vorsitzenden Merkel jedoch kein Wort davon gesagt hatte.
Es kam die Bundesratssitzung am 20. Dezember heran, die zur ersten Belastungsprobe für die Koalition hätte werden können. Stolpe, immer für Überraschungen gut, trat jedoch ans Mikrofon und verkündete vier Forderungen, die erfüllt werden müßten, damit Brandenburg zustimmen könne. Erst am letzten Februarwochenende einigten sich SPD und Grüne doch noch auf einen Kompromiß. Die SPD verkündete, Stolpes Forderungen seien erfüllt, und nun müsse Brandenburg zustimmen. Für einen Augenblick gab es Verwirrung in der brandenburgischen CDU, auch bei Schönbohm. Der ließ die Vorlage prüfen und hielt offen, ob er zustimmen könne. Schon einen Tag später aber waren sich die Spitzen der Union und Schönbohm einig: Ablehnung des Gesetzes. Die Stolpe-Punkte seien zwar dem Buchstaben nach erfüllt, das Gesetz aber atme einen anderen Geist.
Schon im Januar allerdings war in einem Gespräch zwischen Schönbohm und seinen Freunden die Möglichkeit aufgeblitzt, gegen ein Ja Stolpes ein Nein Schönbohms zu setzen, um so Brandenburgs Stimme ungültig zu machen. Das habe es bislang zwar nur einmal 1949 gegeben, aber es könnte eine Lösung sein. Der Gedanke wurde verworfen. Ende Februar jedoch war diese Idee schon eine der erwogenen Möglichkeiten, wie es die Koalition in Brandenburg schaffen könnte, unter dem Druck des Wahlkampfes und der Bundespolitik nicht zu zerbrechen.
Die Frage, wie bei der geteilten Stimmabgabe eines Bundeslandes zu verfahren sei, war ganz unvermittelt schon einmal im September vergangenen Jahres bei der Vorbereitung einer Personalentscheidung aufgekommen: Als die damalige Justizministerin des Landes Sachsen-Anhalt, Schubert, zur Nachfolgerin des im Mai an die Altersgrenze gelangenden langjährigen Bundesratsdirektors Oschatz nominiert werden sollte, da wurde aus der großen Koalition in Bremen ein gespaltenes Votum angekündigt, der bremische CDU-Koalitonspartner war nicht bereit, den SPD-Vorschlag mitzutragen.
Dieser Fall (der dann nicht eintrat, da die Entscheidung von der Tagesordnung des Bundesrates genommen wurde und die Ministerin ihre Bereitschaft zur Kandidatur aufgab) bewirkte immerhin Nachfragen, Erörterungen und erzeugte so einen Kenntnisstand, der unter anderem auf dem Handbuch des Bundesrates beruhte: Dort heißt es, wenn die Mitglieder eines Landes auf einer uneinheitlichen Stimmabgabe beharren: dann "wäre die Abstimmung dieses Landes wegen Verstoßes gegen Artikel 51 Grundgesetz ungültig".
Aber es gab natürlich noch andere Möglichkeiten: Andere Koalitionen könnten dem Gesetz die Zustimmung verweigern, oder der Vermittlungsausschuß könnte angerufen werden. Die letzten politischen Initiativen zu dem Zweck, den Gang der Verhandlungen über die Einwanderungsnovelle zu beeinflussen, unternahm die Union vor zwei Wochen bei einer Klausurtagung in Wörlitz. Da wurde verabredet, es solle versucht werden, eine Mehrheit im Bundesrat für die Anrufung des Vermittlungsausschusses zu finden; das Saarland sollte den Antrag vorbereiten. Eine Woche später wurde von der Unionsführung präzisiert, die Überarbeitung des Gesetzes im Vermittlungsausschuß habe grundlegend zu sein, sie solle sich nicht nur auf Einzelpunkte beschränken. Trotzdem kam es einige Tage danach, am Montag/Dienstag vergangener Woche, noch zu einem letzten Versuch der Unionsführung, einen Kompromiß mit dem Land Brandenburg über die Anrufung des Vermittlungsausschusses zu finden. Die Unionsführung verständigte sich am Montag abend auf acht Punkte, die das Vermittlungsverfahren umfassen sollte.
Am Dienstag, dem 19. März tagte das Potsdamer Kabinett. Schönbohm schrieb acht Punkte auf, die am Gesetz durch ein Vermittlungsverfahren verändert werden sollten. Dann schob er den Zettel zu Stolpe hinüber. Stolpe redigierte die Punkte und gab den Zettel zurück - "entkernt", wie Schönbohm meinte.
An dem Dienstag wurde klar, Brandenburg selbst würde keinen Vermittlungsausschuß beantragen, sich bestenfalls einem Antrag eines anderen Landes anschließen. Aber selbst dann wäre unklar, was der Vermittlungsausschuß vermitteln sollte. Stolpes acht Punkte waren Feinheiten, Schönbohms acht Punkte stellten das Gesetz grundsätzlich in Frage. Klar war nun auch, daß der Ministerpräsident den Koalitionsvertrag brechen würde.
Spätestens am Dienstag also begannen die schlaflosen Nächte. Schönbohm erwog für einen Augenblick, zurückzutreten. Brandenburg hätte ja sagen können, und er wäre politisch nicht beschädigt gewesen. Die SPD streute derweil, in der CDU werde erwogen, ohne Schönbohm weiterzumachen.
Am Mittwoch wurden Hinweise aus Stolpes Umgebung in Brandenburg öffentlich, die Verfassung des Landes billige dem Ministerpräsidenten allein das Recht der Vertretung des Landes nach außen zu; Stolpe selbst wurde mit dem Satz wiedergegeben, er habe die brandenburgische Verfassung bei seinem Berliner Kollegen Wowereit, dem Bundesratspräsidenten, "hinterlegen lassen". Die Botschaft sollte lauten, wenn Schönbohm mit Nein stimmte, überstimmte ihn ein Ja Stolpes. Aus Stolpes Andeutungen läßt sich schließen, daß Wowereit zu diesem Zeitpunkt zumindest schon nahegebracht worden war, wie er sich am Freitag nach einem geteilten Votum im Sinne der SPD verhalten solle.
Am Mittwoch trafen Wowereit und Stolpe anläßlich eines Treffens der ostdeutschen Ministerpräsidenten zusammen. Der sächsische Ministerpräsident Biedenkopf (CDU) berichtete später darüber in Kreisen seiner Partei, er habe während des gemeinsamen Essens der Regierungschefs Wowereit gefragt, wie denn wohl zu verfahren sei, wenn Brandenburg am Freitag gespalten stimme; Wowereit habe gemutmaßt, dann seien die brandenburgischen Stimmen wohl ungültig.
Am Donnerstag stand die Frage, wie Wowereit agieren werde, immer mehr im Zentrum der Erwägungen. Wowereit ging nachmittags aus dem Abgeordnetenhaus in das benachbarte Gebäude des Bundesrates und ließ sich vom scheidenden Bundesratsdirektor Oschatz die herrschende Rechtsauffassung in einem Vermerk vortragen. Am Nachmittag ließ Wowereit erstmals öffentlich erkennen, daß er die geteilte Stimme Brandenburgs womöglich als Zustimmung werten werde. Die Deutsche Presse-Agentur berichtete, auf die Frage, ob er der Empfehlung der Bundesratsverwaltung folge, habe Wowereit entgegnet, er sei "als Präsident des Bundesrates nicht gehalten, mich nach dem Votum der Verwaltung zu richten".
Am Donnerstag abend trafen sich die sozialdemokratischen Ministerpräsidenten in der bremischen Landesvertretung mit dem Bundeskanzler. In der Bundes-SPD wurde darüber gesprochen, ob Stolpe nicht Schönbohm noch vor der Abstimmung entlassen sollte; das wurde verworfen. Teilnehmer berichteten, es sei Stolpe nochmals bedeutet worden, wie viel von seiner Zustimmung zu dem Gesetz am folgenden Tage abhängen werde; es kann als sicher gelten, daß Wowereit in diese Erwägungen einbezogen wurde.
Die Ministerpräsidenten und die Parteiführung von CDU und CSU erörterten ihre Taktik am Donnerstag Abend in der CDU-Zentrale. Es kam dort nach Berichten von Teilnehmern erst im Verlauf der Sitzung - nachdem Schönbohm zu Beginn sein "Nein" für die Abstimmung angekündigt hatte - die Mutmaßung auf, Wowereit könne womöglich die Jastimme Stolpes für ausschlaggebend halten und statt der Ungültigkeit die Zustimmung Brandenburgs feststellen. Darüber habe es dann eine erregte Debatte gegeben in der Runde der Unionspolitiker; vor allem der thüringische Ministerpräsident Vogel sei aufgebracht gewesen. Es sei für diesen Fall die Verabredung getroffen worden, die unionsregierten Länder sollten dann eine Sitzungsunterbrechung im Bundesrat beantragen; es sei schließlich noch debattiert worden, ob die Union in einem solchen Fall gezwungen sei, vor das Bundesverfassungsgericht zu ziehen; darüber habe am Ende Einigkeit geherrscht. Am Montag hieß es, insofern habe der saarländische Ministerpräsident Müller recht mit seiner Bemerkung, daß es am Donnerstag in der Unionsrunde Empörung gegeben habe und daß Verabredungen für den Freitag getroffen worden seien. Es sei jedoch keineswegs die Empörung selbst verabredet worden.
Es kam der Freitag. Am Morgen sahen sich Stolpe und Schönbohm noch einmal unter vier Augen im Brandenburg-Zimmer im Bundesrat. Stolpe sagte, er würde dem Gesetz zustimmen. Er gebe Schönbohm die Möglichkeit, in der Abstimmung einmal nein zu sagen. Vereinbart wurde, daß nicht Stolpe Brandenburgs Stimmverhalten verkünden würde, sondern SPD-Sozialminister Ziel. Ein zweites Nein Schönbohms nach dem Ja Stolpes würde die Entlassung bedeuten, setzte Stolpe hinzu.
Dann begann die Sitzung. Stolpe und Schönbohm sprachen vor dem Bundesrat. Stolpe wünschte ein paar Klarstellungen, die Innenminister Schily pauschal gab. Schönbohm hielt eine bewegende Rede und machte klar, wie er sich bei der Abstimmung verhalten würde. Dabei deutete er auch an, daß er mindestens einige Schritte von Wowereits Reaktion vorausahnte. Er kündigte sein Nein an und bat Wowereit, er möge ihm bei der Abstimmung "Nachfragen ersparen". Auch debattierte Schönbohm mit Stoiber in einer Ecke des Plenarsaales darüber, wie er sich bei Nachfragen verhalten solle, ohne die brandenburgische Koalition doch noch zu gefährden. Stolpe sagte später, er habe nachgezählt: Achtzehn Mal sei Schönbohm in interne CDU-Runden gezogen worden. Schließlich wurde im Bundesrat schon vor der Abstimmung bekannt, die von der Union geführten Länder wollten die Sitzung verlassen, falls Wowereit die brandenburgischen Stimmen als Ja werte und dann das Begehren der Union, die Sitzung zu vertagen, keine Mehrheit finde.
Vieles mag an diesem Tag abgesprochen und gekungelt gewesen sein. Die Entscheidung aber, die Schönbohm dann traf, traf er für sich allein. Die Abstimmung begann. Nach Ziels Ja kam Schönbohms Nein. Bundesratspräsident Wowereit fragte daraufhin den Ministerpräsidenten. Stolpe sagte, als Ministerpräsident des Landes Brandenburg stimme er dem Gesetz zu. Schönbohm hätte nach dem Drehbuch jetzt schweigen müssen. Er sagte aber: "Sie kennen meine Auffassung, Herr Präsident."
Der Bundesrat hielt in diesem Moment buchstäblich den Atem an. Das war kein Nein, aber doch ein mutiges letztes Wort. Wowereit fragte ein drittes Mal. Stolpe beugte sich zu Schönbohm herüber und sagte: "Das war ein Satz zuviel." Schönbohm entgegnete: "Dann sei es so."
Wowereit wertete die Stimme Brandenburgs als Jastimme. Es brach der vorbereitete Tumult los. Stolpe entließ seinen Innenminister nicht, sondern sprach vielmehr nach der Sitzung davon, daß er selbst den Koalitionsvertrag gebrochen habe und die Vertrauensfrage im Landtag stellen wolle. Schönbohm wurde mit Beifallsstürmen von seinen Anhängern am Freitag abend auf einer CDU-Delegiertenversammlung gefeiert. Daß die gemeinsame Bilanzpressekonferenz zur Halbzeit der Legislaturperiode von SPD und CDU an diesem Dienstag aus dem Programm genommen wurde, ist der geringste Verlust. Es heißt, sie sei nur nach Ostern verschoben. Der Koalitionsausschuß soll noch in dieser Woche tagen. Er wird wohl die Fortsetzung der großen Koalition empfehlen. Allein über die Bedingungen wird zu verhandeln sein.