Obskurität durch Öffentlichkeit - Lobotomien der Aufmerksamkeit in der Mediengesellschaft
Erinnern Sie sich noch an letztes Jahr? Da war doch diese Sache mit den zwei Türmen, oder? In Amerika. Washington. Aber nein, New York. Genau. In New York war das.
Ein gespenstisches Phänomen der Mediengesellschaft: Während noch kaum ein Tag vergeht, an dem man nicht die Flugzeuge ins WTC rasen sieht, gerät das Ereignis gleichzeitig in Vergessenheit, überschreitet den Ereignishorizont zu jenem schwarzen Loch der Bedeutungslosigkeit, in dem alles verschwindet, was wir medial, nun ja, erleben. Dies zu einem Zeitpunkt, an dem der politische Fallout der Katastrophe erst so richtig auf uns herabzuregnen beginnt, und an dem ihre Konsequenzen, wenn auch im Verborgenen, wenn auch im Detail, unseren Alltag mitzugestalten sich anschicken.
Spätestens seit dem Jahreswechsel ist klar, dass es sich auch bei der medialen Nachbereitung von 9-11 um ein krasses Beispiel für "Obskurität durch Öffentlichkeit" handelt: Während in der ersten Zeit nach der Katastrophe der Zuschauer durch ein nichtendenwollendes Trommelfeuer von Bildern, Expertenrunden, schrillen Politikeräußerungen blindgeballert wurde, verschwinden die sehr relevanten Veränderungen der politischen Plattentektonik in den Hintergrundartikeln auf Seite 10 der Tageszeitung, die nur noch von den Politnerds gelesen werden. Das Gedröhn der totalen Hysterie ist durch ein total unübersichtliches Gefussel im politischen Unterholz ersetzt worden; dies ein um so verwirrenderer Vorgang, als sich beide Aufbereitungs- und Darstellungsweisen partiell noch überlappen: Auf n-tv sieht man noch einmal die Explosionen, in der Tagesschau wird die Verabschiedung der "Anti-Terrorpakete" unter ferner liefen abgehandelt.
Es ist leicht zu sehen, dass die dröhnende Ausrufung des 3. Weltkriegs wie das behend-stille Administrieren der Apokalypse zwei verschiedene Seiten einer Maschinerie der vorschnellen Historisierung sind, dass sie das oben erwähnte schwarze Loch erst erzeugen. Für die Zeit unmittelbar nach den Anschlägen wird das in einer seltsamen Redensart deutlich, die praktisch auf den Tisch kam, als das WTC noch nicht eingestürzt war: "Nach diesem Anschlag wird nichts so sein wie zuvor." Die Fetzen flogen noch und waren schon historisch.
Die diskreten Tagungen der Expertenstäbe und die leise dahingehauchten Artikel der "Analysten" weiter hinten markieren ohnehin nur noch die fortschreitende emotionale Entrückung der Ereignisse. Adorno nannte es einst den "Verblendungszusammenhang" in der Kulturindustrie: Im scheinbar hellen Scheinwerferlicht, das die Medien auf die Welt richten, verschwindet die Bedeutung der größten Ungeheuerlichkeiten. Dieser Prozess der Entwirklichung, der seit Tschernobyl immer mehr an Fahrt gewinnt, erreicht anscheinend immer noch höhere Grade der Perfektion.
In dem schwarzen Loch, das die Medien für das Jüngstvergangene reserviert haben, sind nicht nur die Anschäge verschwunden, sondern auch ein ganzer Krieg, Anthrax-Terror, "uneingeschränkte Solidarität" säckeweise, 3900 deutsche Soldaten, die dann doch nicht gebraucht wurden, weil der Krieg zu schnell zu Ende war, und, bis auf weiteres, Osama Bin Laden. Eine ganz eigene "Furie des Verschwindens" ist da am Werk, die kolossale Ereignisse mit der lässigen Eleganz eines Taschenspielers wegzaubert.
Kanonenbootpolitik
Auch die aus hiesiger Sicht zweifellos interessanteste Entwicklung, nämlich die insgesamt ständig wachsende militärische Beweglichkeit des neuesten Deutschlands, ist in diesem Abgrund der Aufmerksamkeit verschwunden. Man müsste vielleicht sagen, sie fährt fort zu verschwinden, denn es ist ja gerade die unendlich geduldige Beharrlichkeit des stetigen Fortschritts in dieser Angelegenheit, die ihn vor den Augen des Publikums verbirgt. Was durch Gewöhnung selbstverständlich geworden ist, erregt kein Stirnrunzeln mehr. Ob die BRD "lead nation" beim Mazedonien-Einsatz der KFOR wird, ob sie eine Militärbasis in Dschibuti eröffnet oder ob deutsche ABC-Einheiten in Kuwait stationiert werden - außer ein paar "Linksradikale" interessiert diese in Samt und schöne Worte gepackte Imitation der deutschen Kanonenbootpolitik vom Beginn des letzten Jahrhunderts niemand. Die herkömmlichen Medien befassen sich mit demThema ohnehin, als sei es mit ein paar tangentialen "Enthüllungsartikeln" über die Kapriolen des Ministers Scharping erschöpfend behandelt.
So geht es mit allem, was im Gefolge des 11.9.2001 angeleiert, beschlossen, durchgesetzt wurde. Gehandelt wird pausenlos. Geklärt wird nichts. Das Publikum wird, wenn überhaupt, vor vollendete Tatsachen gestellt, die es sich ex post bis zum Erbrechen ansehen darf, und alle Hintergrundberichte der feineren und weniger feinen Blätter erhellen nicht den Hintergrund. Die Grundannahme des Verschwörungstheoretikers, nämlich, dass die wahre Politik im Verborgenen stattfindet, ist wie immer richtig, aber seine paradoxe Behauptung, dennoch genau zu wissen, was geschieht, schlägt wie immer fehl: Teile des Verborgenen liegen offen zutage (wofür nicht zuletzt die Paramedien der Verschwörungtheoretiker sorgen) und der Rest wird uns so lange verborgen bleiben, bis er nicht mehr relevant ist.
Angesichts dieses Zustands der Aufbereitung von Nachrichten geht die ehrbare Forderung nach Transparenz ins Leere, weil die Medien für Transparenz offensichtlich nicht zuständig sind, und weil Transparenz nur in Gesellschaften existieren kann, die sie überhaupt ertragen. Unter anderem deswegen heißt die wahre Parole in der Weltpolitik derzeit nicht "Nach diesen Anschlägen ist nichts mehr wie zuvor", sondern "business as usual". Bis zum nächsten 11.9.