Brechreiz an den Börsen

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Brechreiz an den Börsen

 
05.06.02 12:08
Nach dem Tyco-Schock glaubt kaum noch jemand an eine baldige Erholung der US-Börsen. Drei schwer wiegende Probleme werden auch in den kommenden Wochen für schlechte Stimmung sorgen.

New York - Eigentlich hätte es ein richtig netter Tag für die Wall Street werden können. Laut der neuesten Umfrage, die das Institute of Supply Management (ISM) monatlich unter Einkaufsmanagern durchführt, gibt es kaum noch Zweifel an der Erholung der US-Wirtschaft. Lange galt die Frage, ob der Aufschwung nachhaltig ist, als die größte Sorge der Börse.
Die Konjunktur ist aber plötzlich das kleinste Problem. Eine Reihe von Faktoren, die keine noch so gute ökonomische Prognose voraussehen oder beziffern kann, werden den Börsenbullen wohl auf längere Zeit das Geschäft verhageln.

Keines der Grundprobleme ist wirklich neu - gestern entwickelten sich die schlechten Nachrichten jedoch zu einer explosiven Mischung. "Tyco, El Paso und der drohende Krieg zwischen Indien und Pakistan - das war einfach zu viel und die Aktien haben dem Druck nachgegeben", so Robert Bloom von LF Capital. "Ich glaube wir werden Kotztüten brauchen, bevor die Woche um ist".

Die drei Themenkomplexe dürften dafür sorgen, dass die schlechten Nachrichten auch in den kommenden Wochen nicht ausgehen werden, und die Börse in regelmäßigen Abständen Schläge einstecken muss.

Enronitis: Die verschleppte Lungenentzündung

Einige Zeit schien es, als sei die Enron-Episode weitgehend abgeschlossen. Eine krasse Fehleinschätzung: Der gestrige Rücktritt des Tyco-Chefs Dennis Kozlowski zeigt, dass das Thema Bilanzpraktiken und Unternehmenssteuerung (Corporate Governance) die Märkte noch länger beschäftigen wird. Zwar sind bisher nur in wenigen Fällen tatsächliche Verfehlungen von Managern und Firmen nachgewiesen worden - allein gestern wurden jedoch neue Untersuchungen bei dem Energieunternehmen Williams und dem Aktienhändler Knight Trading bekannt. Selbst ehemalige Musterknaben wie Microsoft sehen sich inzwischen dem Vorwurf ausgesetzt, ihre Gewinne über Jahre hinweg unkorrekt bilanziert zu haben.

Es wird Monate, wenn nicht Jahre dauern, bis alle Fälle aufgeklärt und die entsprechenden Börsen- und Finanzregularien überarbeitet worden sind. Bis dahin dürfte die Wall Street von einem hohen Maß an Misstrauen und Nervosität geprägt bleiben. Wie gestern, als bekannt wurde, dass Charles Rice, der Finanzchef des Houstoner Energieunternehmens El Paso Selbstmord begangen hat. Börsianer fühlten sich sofort an den Freitod des Enron-Managers Clifford Baxter Anfang desa Jahres erinnert. Die angenommene Ähnlichkeit mit dem Enron-Suizid reichte aus, um El Pasos Aktie massiv einbrechen zu lassen. Tatsächlich dürften schwere gesundheitliche Probleme der Grund für Rices Suizid gewesen sein.

Krieg und Terror: Die ständige Angst vor dem großen Knall

Ein weiterer enormer Unsicherheitsfaktor sind der Nahost-Konflikt und die Kaschmir-Krise. "Die psychologische Verfassung der Märkte ist mies", so Keith Gertsen von der Deutschen Bank in New York gegenüber dem "Wall Street Journal". Es sei zu erwarten, dass die meisten Marktteilnehmer in den kommenden drei bis sechs Monaten eine abwartende Haltung einnähmen.

Hinzu kommen die von FBI und CIA derzeit wöchentlich wiederholten Warnungen, der nächste Terroranschlag komme bestimmt. Welche Auswirkungen ein weiterer al-Qaida-Anschlag auf die Finanzmärkte hätte, ist völlig unklar. Anders als Unternehmens- und Wirtschaftsdaten lassen sich Terroranschläge oder internationale Krisen nun mal nicht in einem mathematischen Modell als "Value-at-Risk" beziffern.

Gewinnwarnungen: Die Saison ist eröffnet

Als erstes Unternehmen hat am Montag nach US-Börsenschluss Flextronics, ein Auftragshersteller von Elektronikprodukten, eine Gewinnwarnung herausgegeben - nach Meinung der meisten Marktstrategen werden weitere Folgen. So bestehen an der Wall Street erhebliche Zweifel, ob Chiphersteller Intel seine ambitiöse Gewinnprognose wird aufrecht erhalten können. Knickt der Börsen-Leithammel ein, dürfte das die Märkte erneut kräftig durchschütteln.

Für weiteres Störfeuer in den kommenden Wochen ist gesorgt: Trotz der konjunkturellen Erholung gibt es derzeit kaum Anzeichen dafür, dass die Gewinne der US-Unternehmen in absehbarer Zeit stark ansteigen werden - das Wirtschaftsmagazin "Fortune" sprach kürzlich von einer "Erholung ohne Gewinne". Wenn aber die Gewinne purzeln, wird noch offensichtlicher werden, dass der Markt weiterhin überbewertet ist: Derzeit liegt das 2002er Kurs-Gewinn-Verhältnis aller im S&P 500 enthaltenen Aktien bei etwa 22. Im historischen Vergleich sind das fast 20 Prozent zu viel.

Erst wenn die schlechten Nachrichten abebben, wäre der Weg frei für einen langfristigen Aufwärtstrend. Bis dahin könnte es allerdings noch eine ganze Weile dauern. "Bei der letzten Erholung kauften die Leute noch aus Hoffnung und Optimismus", glaubt Troy Nickerson von Robertson Stephens, "diesmal wollen sie zunächst Beweise."  
Happy End:

Konjunkturdaten liefern Rettungsanker

 
06.06.02 06:02
Die US-Börsen haben ihre Talfahrt zumindest kurzfristig stoppen können. Nach den erheblichen Kursverlusten zum Wochenanfang geben positive Konjunkturzahlen den Aktienmärkten neuen Halt. Vor allem die Blue Chips verzeichneten deutliche Kursgewinne. Nach einem schwachen Start kann sich aber auch der Nasdaq wieder erholen und den Tag im Plus abschließen.  

Für die gute Stimmung an den an der Wall Street ist vor allem der ISM-Index für den Service-Sektor verantwortlich. Im Mai legte der Konjunkturindikator  unerwartet stark von 55,3 auf 60,1 Punkte zu. Damit deutet der Indikator zum vierten Mal in Folge auf ein Wachstum der Geschäftstätigkeit hin, er verzeichnet den höchsten Stand seit August 2000. Analysten hatten mit einem Indexstand von 55,9 Punkten gerechnet. Das kann zumindest kurzfristig die Konjunktur-Optimisten an die Börsen zurücklocken, Dow und Nasdaq gehen mit Kursgewinnen von rund einem Prozent aus dem Handel.

Kaum verwunderlich, dass Aktien aus dem Einzelhandels- und Dienstleistungsbereich zu den größten Tagesgewinnern gehören. Neben den Finanzdienstleistern verzeichnen vor allem der Bekleidungs-Konzern Gap und der Werkzeughersteller Black & Decker Kursgewinne. Die Einzelhandelskette Wal Wart meldete zusätzlich einen Umsatzanstieg von 6,5 Prozent im Mai, der über den Erwartungen lag. Mit einem Plus von 1,56 Prozent geht die Aktie aus dem Handel. Die meistgehandelte Aktie war aber mit einem Plus von 3,7 Prozent der Mischkonzern Tyco. Nach den dramatischen Verlusten vom Montag sind die Gewinne der letzten beiden Tage aber nur ein schwacher Trost. Sie zeigen aber, dass die Anleger dem krisengeschüttelten Unternehmen nach dem Rücktritt des Firmenchefs Dennis Kozlowski wieder etwas mehr Vertrauen schenken.

Politische Krisen bleiben Unsicherheitsfaktoren

Obwohl der Börsentag im Plus endete, ist eine nachhaltige Trendwende dadurch noch nicht eingeläutet worden. In den vergangenen Tagen konnten selbst beste US-Konjunkturdaten die Kursverluste nur kurzfristig stoppen. Ohnehin hat US-Notenbankchef  Alan Greenspan den Märkten am späten Dienstag klar gemacht, dass es nach wie vor Zweifel an der Nachhaltigkeit der Konjunkturerholung hat. Die Kehrseite von Greenspans Worten: Starke Zinserhöhungen müssen die Börsen nicht befürchten.

Ein Belastungsfaktor für die Aktienmärkte bleiben die Krisenherde der Welt. Am Morgen erschütterte ein neues Selbstmordattentat in Israel mit mindestens 16 Toten die Region. Daneben bleibt auch der Kaschmir-Konflikt ein Risikofaktor. Hinzu kommt, dass seit Wochenbeginn das Vertrauen in die US-Bilanzierungsmethoden durch Gerüchte um den Mischkonzern Tyco und das Brokerhaus Knight Trading angeknackst wurde.

Software-Aktien belasten Tech-Sektor

Im Tech-Sektor sorgte eine Serie von Gewinnwarnungen im frühen Handel für fallende Kurse. Wegen sinkender Umsatzzahlen wird der Software-Hersteller Manugistics im laufenden Quartal in die Verlustzone rutschen. Die Aktien setzen sich mit einem Minus von mehr als 28 Prozent an der Spitze der Nasdaq-Verliererliste. Ähnlich hohe Verluste verzeichnet der Spezialist für elektronische Zahlungssysteme EFunds nach einer Gewinnwarnung. Damit nicht genug, auch der Software-Hersteller Synopsys wird im laufenden Quartal hinter den Erwartungen zurückbleiben. Bereits am Vortag nach Börsenschluss hatte mit Tibco ein weiteres US-Softwareunternehmen vor anhaltenden Absatzschwierigkeiten gewarnt.

Meistgehandelter Tech-Wert war die Worldcom-Aktie mit einem Minus von 2,48 Prozent. Nachdem 2001 und 2002 bereits 12.700 Stellen gestrichen wurden, sollen jetzt noch einmal 16.000 Arbeitsplätze bei dem Telefon-Konzern abgebaut werden, berichtet "USA Today". Das Sparen um jeden Preis scheint den Anlegern langsam Sorgen zu machen. Anders bei IBM, dort wurde der Stellenabbau in der Chip-Sparte wird von den Börsen positiv aufgenommen.

Die AOL Time Warner-Aktionäre können noch nicht aufatmen. Das Investmenthaus Lehman Brothers hatte die Aktien am Dienstag unter Hinweis auf weiter schrumpfende Werbeeinnahmen zurückgestuft. Doch davon ist bislang nichts zu sehen, der Medienkonzern bleibt bei seinen Prognosen für den Werbemarkt und bekräftigt seine Jahresplanung am Mittwoch. Trotzdem gaben die Aktien um 1,16 Prozent nach. Die Anleger haben anscheinend mehr Vertrauen in das Analystenurteil als in die Firmenprognosen.  

Die US-Anleger können aufatmen, der Abwärtssog der Aktienmärkte wurde zumindest kurzfristig gestoppt. Um von einer Trendwende zu sprechen, ist es aber noch zu früh. Immer noch notiert der Dow gefährlich nah an seinem Achtmonats-Tief.
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