Aus der FTD vom 30.10.2001
Kommentar: Blanker Unsinn am Markt
Von Wolfgang Münchau, Hamburg
Der Oktober war einer der besten Börsenmonate seit langem. Seit dem 1. Oktober stieg der MSCI World Index um 6,2 Prozent, der Dax 30 gar um 13,7 Prozent. Langsam kriechen die Marktoptimisten wieder aus den Löchern, in die sie sich zu Jahresanfang verkrochen hatten, und knüpfen an ihre alten Erklärmuster an.
Die Geschichte von den Umstrukturierungen in der Wirtschaft; von der hohen Liquidität und den niedrigen Zinsen; vom günstigen Verhältnis der jeweiligen Renditen in Bond-Märkten und Aktienmärkten; und zu guter Letzt die Story, dass Märkte die konjunkturelle Trendwende meist vorwegnehmen. Nach dieser Analyse reagieren die Märkte schon jetzt auf den Aufschwung, der auf die Rezession folgen wird, die uns noch bevorsteht. "The next big move is up", so Morgan Stanley, bislang die pessimistischste unter den großen US-Investmentbanken.
Geschichte als Menetekel
Diese Versuche zur Erklärung der Kursrally mögen verlockend klingen. Sie sind alle blanker Unsinn. Der wiederaufkommende Glaube an die sicheren Börsengewinne zeigt, dass viele Marktteilnehmer nichts aus der Technologieblase des vergangenen Jahres gelernt haben, und dass das Gedächtnis an den Börsen im Allgemeinen sehr kurz ist. Optimisten, Pessimisten und Charttechniker haben eines gemein: Sie können Marktentwicklungen nicht vorhersagen. Es ist durchaus möglich, dass die jetzige Kursrally im November weitergeht. Aber man sollte sich vor einem Irrglauben an Thesen hüten, die weder ökonomisch noch historisch belegbar sind.
Historisch betrachtet schwankte das Verhältnis von durchschnittlichen Aktienkursen zu den Gewinnen pro Aktie in einer Bandbreite zwischen 10 und 15. Dabei gab es lange Perioden, in denen das Kurs-Gewinn-Verhältnis höher oder niedriger lag als dieser Mittelwert. Entscheidend war immer, dass nach Perioden der Abweichung eine Phase der Korrektur in entgegengesetzte Richtung erfolgte. Nur so entstand der langfristige Mittelwert.
So lag das durchschnittliche KGV in der zweiten Hälfte der 70er Jahre zwischen fünf und zehn - was einer Unterbewertung der Aktien entsprach. Während des Höhepunktes des New-Economy-Booms Anfang 2000 sprang das durchschnittliche KGV des S&P Composite Index auf 45. Und heute steht es bei immer noch schwindelerregenden 29,5 Punkten. Wenn die durchschnittliche KGV-Spanne von 10 bis 15 immer noch gilt, dann müssten die KGVs der großen Aktienmärkte auf weit unter zehn fallen, um den Durchschnitt wiederherzustellen. Das heißt, die S&P-Kurse müssten bei gleichen Gewinnerwartungen um mehr als zwei Drittel fallen, also auf ein Drittel des heutigen Wertes.
Eine weitere Methode, die Bewertung von Aktienkursen zu beurteilen, ist Tobins Q, benannt nach dem Ökonomie-Nobelpreisträger James Tobin. Q misst das Verhältnis des Marktwerts zum Wiederbeschaffungswert des Kapitalstocks (corporate net worth). Die Theorie besagt: Wenn Q größer ist als eins, wenn also der Marktwert der Unternehmen höher ist als der Wiederbeschaffungswert, sind die Märkte überbewertet.
Nach einer Schätzung von Andrew Smithers und Stephen Wright* ist der Wert von Q seit Anfang der 90er Jahre von ungefähr eins auf über zwei gestiegen - und liegt damit höher als im Jahr 1929. Auch auf der Basis heutiger Aktienkurse verharrt der Wert von Q noch weit über dem langfristigen Durchschnitt. Sicherlich ist die Messung von Q nicht unproblematisch. Zum Beispiel gibt es enorme Schwierigkeiten bei der Bezifferung des Wiederbeschaffungswertes. Das ändert aber nichts daran, dass die Schätzung von Q zu dem gleichen Ergebnis führt wie der Vergleich des KGV mit dem langfristigen Mittelwert. Beide Indikatoren zeigen, dass die Aktienmärkte auch nach dem 11. September stark überbewertet sind.
Es gibt gute Gründe dafür, dass die Märkte bislang nicht weiter gefallen sind. Zum einen ist es die großzügige Liquiditätsversorgung der Federal Reserve. Unter der Leitung von Alan Greenspan hat die Fed die Stabilisierung der Finanzmärkte, und insbesondere der Aktienmärkte, zu einem eigenständigen Ziel der Geldpolitik erhoben. Liquidität ändert zwar nichts Grundsätzliches an langfristiger Bewertung, hat aber kurzfristig einen enormen Effekt. Mit ausreichender Liquiditätsversorgung können Zentralbanken Finanzmärkte stabilisieren. Der Preis, den sie nach einiger Zeit dafür zahlen, ist der Verlust monetären Spielraums.
Der Käufer hüte sich
.Seit Dezember hat die Federal Reserve den Zinssatz für den Federal Funds Rate von sechs Prozent auf 2,5 Prozent gesenkt. Gleichzeitig kam es zu einer erheblichen Lockerung in der US-Haushaltspolitik durch eine Kombination von rückwirkenden Steuersenkungen und einem Konjunkturprogramm. Damit haben die USA ihren geld- und haushaltspolitischen Spielraum weitgehend ausgeschöpft. Theoretisch können die Zinsen zwar noch stärker zurückgehen, aber der Wirkungsgrad weiterer Zinssenkungen wird geringer. In so einem Prozess verliert die Geldpolitik irgendwann an Bedeutung. Es kann sogar sein, dass eine überaktive Geldpolitik, die sich an den Finanzmärkten orientiert, zunächst eine Baisse abmildert, dann aber nicht in der Lage ist, weitere Abstürze zu verhindern. Genau das ist in Japan passiert.
Einer der Gründe für den Aktienboom in den späten 90er Jahren war der Irrglaube an das Produktivitätswunder der New Economy. Es war ein doppelter Irrglaube. Zum einen dachte man, dass der Technologieboom das Produktivitätswachstum und somit die potenzielle Wirtschaftswachstum nachhaltig verbessere. Zum anderen glaubte man, dass starkes Produktivitäts- und Wirtschaftswachstum gut für die Aktienmärkte ist. In der Vergangenheit profitierten jedoch Konsumenten und Lohnempfänger zumeist stärker vom neugeschaffen Mehrwert als Kapitaleigner.
Auch zwischen höherem Wirtschaftswachstum und Aktienkursen gibt es im Übrigen keinen kausalen Zusammenhang. Hohes Wachstum bedeutet nicht immer mehr Gewinne. Höheres Wachstum führt in der Regel zu höheren Realzinsen - und dies wiederum zu geringeren Gewinnen an der Börsen. Am Ende hängt alles davon ab, wer von dem Wachstum am meisten profitiert und wie die Inflationserwartungen sind. Die schwache Inflation in den 90er Jahren war gewiss ein Grund für die steigenden KGVs. Andererseits waren die 90er Jahre nicht die einzige Periode geringer Inflation.
Man kann natürlich nicht ausschließen, dass sich die durchschnittliche KGV-Fluktuationsspanne von traditionell 10 bis 15 im langfristigen Trend nach oben verlagert hat. Wenn ja, sind die Gründe bislang nicht erklärt. Mit der neo-expansiven Geld- und Fiskalpolitik, der Deregulierung der Produkt- und Finanzmärkte, dem technologischen Fortschritt und der Ratio der Bond- und Aktienrendite hat es jedenfalls nichts zu tun.
Caveat emptor!
© 2001 Financial Times Deutschland
Kommentar: Blanker Unsinn am Markt
Von Wolfgang Münchau, Hamburg
Der Oktober war einer der besten Börsenmonate seit langem. Seit dem 1. Oktober stieg der MSCI World Index um 6,2 Prozent, der Dax 30 gar um 13,7 Prozent. Langsam kriechen die Marktoptimisten wieder aus den Löchern, in die sie sich zu Jahresanfang verkrochen hatten, und knüpfen an ihre alten Erklärmuster an.
Die Geschichte von den Umstrukturierungen in der Wirtschaft; von der hohen Liquidität und den niedrigen Zinsen; vom günstigen Verhältnis der jeweiligen Renditen in Bond-Märkten und Aktienmärkten; und zu guter Letzt die Story, dass Märkte die konjunkturelle Trendwende meist vorwegnehmen. Nach dieser Analyse reagieren die Märkte schon jetzt auf den Aufschwung, der auf die Rezession folgen wird, die uns noch bevorsteht. "The next big move is up", so Morgan Stanley, bislang die pessimistischste unter den großen US-Investmentbanken.
Geschichte als Menetekel
Diese Versuche zur Erklärung der Kursrally mögen verlockend klingen. Sie sind alle blanker Unsinn. Der wiederaufkommende Glaube an die sicheren Börsengewinne zeigt, dass viele Marktteilnehmer nichts aus der Technologieblase des vergangenen Jahres gelernt haben, und dass das Gedächtnis an den Börsen im Allgemeinen sehr kurz ist. Optimisten, Pessimisten und Charttechniker haben eines gemein: Sie können Marktentwicklungen nicht vorhersagen. Es ist durchaus möglich, dass die jetzige Kursrally im November weitergeht. Aber man sollte sich vor einem Irrglauben an Thesen hüten, die weder ökonomisch noch historisch belegbar sind.
Historisch betrachtet schwankte das Verhältnis von durchschnittlichen Aktienkursen zu den Gewinnen pro Aktie in einer Bandbreite zwischen 10 und 15. Dabei gab es lange Perioden, in denen das Kurs-Gewinn-Verhältnis höher oder niedriger lag als dieser Mittelwert. Entscheidend war immer, dass nach Perioden der Abweichung eine Phase der Korrektur in entgegengesetzte Richtung erfolgte. Nur so entstand der langfristige Mittelwert.
So lag das durchschnittliche KGV in der zweiten Hälfte der 70er Jahre zwischen fünf und zehn - was einer Unterbewertung der Aktien entsprach. Während des Höhepunktes des New-Economy-Booms Anfang 2000 sprang das durchschnittliche KGV des S&P Composite Index auf 45. Und heute steht es bei immer noch schwindelerregenden 29,5 Punkten. Wenn die durchschnittliche KGV-Spanne von 10 bis 15 immer noch gilt, dann müssten die KGVs der großen Aktienmärkte auf weit unter zehn fallen, um den Durchschnitt wiederherzustellen. Das heißt, die S&P-Kurse müssten bei gleichen Gewinnerwartungen um mehr als zwei Drittel fallen, also auf ein Drittel des heutigen Wertes.
Eine weitere Methode, die Bewertung von Aktienkursen zu beurteilen, ist Tobins Q, benannt nach dem Ökonomie-Nobelpreisträger James Tobin. Q misst das Verhältnis des Marktwerts zum Wiederbeschaffungswert des Kapitalstocks (corporate net worth). Die Theorie besagt: Wenn Q größer ist als eins, wenn also der Marktwert der Unternehmen höher ist als der Wiederbeschaffungswert, sind die Märkte überbewertet.
Nach einer Schätzung von Andrew Smithers und Stephen Wright* ist der Wert von Q seit Anfang der 90er Jahre von ungefähr eins auf über zwei gestiegen - und liegt damit höher als im Jahr 1929. Auch auf der Basis heutiger Aktienkurse verharrt der Wert von Q noch weit über dem langfristigen Durchschnitt. Sicherlich ist die Messung von Q nicht unproblematisch. Zum Beispiel gibt es enorme Schwierigkeiten bei der Bezifferung des Wiederbeschaffungswertes. Das ändert aber nichts daran, dass die Schätzung von Q zu dem gleichen Ergebnis führt wie der Vergleich des KGV mit dem langfristigen Mittelwert. Beide Indikatoren zeigen, dass die Aktienmärkte auch nach dem 11. September stark überbewertet sind.
Es gibt gute Gründe dafür, dass die Märkte bislang nicht weiter gefallen sind. Zum einen ist es die großzügige Liquiditätsversorgung der Federal Reserve. Unter der Leitung von Alan Greenspan hat die Fed die Stabilisierung der Finanzmärkte, und insbesondere der Aktienmärkte, zu einem eigenständigen Ziel der Geldpolitik erhoben. Liquidität ändert zwar nichts Grundsätzliches an langfristiger Bewertung, hat aber kurzfristig einen enormen Effekt. Mit ausreichender Liquiditätsversorgung können Zentralbanken Finanzmärkte stabilisieren. Der Preis, den sie nach einiger Zeit dafür zahlen, ist der Verlust monetären Spielraums.
Der Käufer hüte sich
.Seit Dezember hat die Federal Reserve den Zinssatz für den Federal Funds Rate von sechs Prozent auf 2,5 Prozent gesenkt. Gleichzeitig kam es zu einer erheblichen Lockerung in der US-Haushaltspolitik durch eine Kombination von rückwirkenden Steuersenkungen und einem Konjunkturprogramm. Damit haben die USA ihren geld- und haushaltspolitischen Spielraum weitgehend ausgeschöpft. Theoretisch können die Zinsen zwar noch stärker zurückgehen, aber der Wirkungsgrad weiterer Zinssenkungen wird geringer. In so einem Prozess verliert die Geldpolitik irgendwann an Bedeutung. Es kann sogar sein, dass eine überaktive Geldpolitik, die sich an den Finanzmärkten orientiert, zunächst eine Baisse abmildert, dann aber nicht in der Lage ist, weitere Abstürze zu verhindern. Genau das ist in Japan passiert.
Einer der Gründe für den Aktienboom in den späten 90er Jahren war der Irrglaube an das Produktivitätswunder der New Economy. Es war ein doppelter Irrglaube. Zum einen dachte man, dass der Technologieboom das Produktivitätswachstum und somit die potenzielle Wirtschaftswachstum nachhaltig verbessere. Zum anderen glaubte man, dass starkes Produktivitäts- und Wirtschaftswachstum gut für die Aktienmärkte ist. In der Vergangenheit profitierten jedoch Konsumenten und Lohnempfänger zumeist stärker vom neugeschaffen Mehrwert als Kapitaleigner.
Auch zwischen höherem Wirtschaftswachstum und Aktienkursen gibt es im Übrigen keinen kausalen Zusammenhang. Hohes Wachstum bedeutet nicht immer mehr Gewinne. Höheres Wachstum führt in der Regel zu höheren Realzinsen - und dies wiederum zu geringeren Gewinnen an der Börsen. Am Ende hängt alles davon ab, wer von dem Wachstum am meisten profitiert und wie die Inflationserwartungen sind. Die schwache Inflation in den 90er Jahren war gewiss ein Grund für die steigenden KGVs. Andererseits waren die 90er Jahre nicht die einzige Periode geringer Inflation.
Man kann natürlich nicht ausschließen, dass sich die durchschnittliche KGV-Fluktuationsspanne von traditionell 10 bis 15 im langfristigen Trend nach oben verlagert hat. Wenn ja, sind die Gründe bislang nicht erklärt. Mit der neo-expansiven Geld- und Fiskalpolitik, der Deregulierung der Produkt- und Finanzmärkte, dem technologischen Fortschritt und der Ratio der Bond- und Aktienrendite hat es jedenfalls nichts zu tun.
Caveat emptor!
© 2001 Financial Times Deutschland