Ladenhüter sind mehr als einen Blick wert
Billige Aktien haben es bei Anlegern schwerer als teure
Es gibt wohl kaum einen Ort, an dem das spontane Bauchgefühl dem wohl überlegten Kopfdenken so oft und so sehr gegenübersteht wie an der Börse. Beispiel gefällig?
Auf der einen Seite prüfen Analysten und Medien laufend Aktien auf ihren vermeintlichen Wert, und Anleger interessieren sich auch durchaus für die Analysen. Doch auf der anderen Seite kaufen sie die Anteilsscheine nicht nach diesen scheinbar objektiven Kriterien. Vielmehr neigen Anleger dazu, Aktien immer dann zu erwerben, wenn sie gerade am teuersten sind und nicht dann, wenn sie billig herumliegen.
Konkreter ausgedrückt: Aktien fristen ein Mauerblümchendasein, solange sich der Kurs nicht bewegt. Dabei ist es meistens egal, ob sie gerade teuer oder billig sind. Viele Papiere kommen erst dann in Mode, wenn ihr Kurs angesprungen ist und einen gewissen Preis überschritten hat. Beispiele gibt es zuhauf. Lange links liegen gelassen, obwohl der Ölpreis seit über einem Jahr drastisch steigt, erfreuen sich Energie-Aktien wie Exxon Mobil und Royal Dutch erst seit Februar großen Zuspruchs.
Ursache für den Kurssprung ist weniger der nahe liegende Grund, also das teure Öl. Denn der Rohstoffpreis stieg schließlich schon lange, ohne dass sich die Aktienkurse deshalb bewegten. Vielmehr ist eine menschliche Kettenreaktion verantwortlich: Zuerst dümpelt der Kurs vor sich hin, obwohl die Aktie günstig ist und das Öl immer teuer wird. Dann wagen sich erste Anleger aus der Deckung, kaufen, und der Kurs springt an.
Sofort springen neue Anleger auf und sorgen für immer höhere Kurse. Analysten und Medien werden aufmerksam und neue Anleger kommen ob der sichtbaren Gewinne mit höheren Geboten. Dabei hätten dieselben Anleger die Aktie vorher und über einen langen Zeitraum hinweg viel billiger erwerben können – bei gleichen Voraussetzungen. Doch mit vermeintlichen Ladenhütern schmückt sich niemand gern.
Diese Erkenntnis zeigt sich derzeit besonders deutlich bei der einstigen Lieblingsbranche Technologie. Noch immer haben Anleger den Dotcoms und Telekomfirmen ihren Absturz nach dem grandiosen Höhenflug bis zum Frühjahr 2000 nicht verziehen. Selbst Gewinn- und Dividendensprünge helfen Aktien wie der Deutschen Telekom nicht wirklich auf die Beine. Rational wissen Anleger, dass viele Technologiewerte derzeit preiswerter sind als in den vergangenen Jahrzehnten. Doch der Bauch sagt: „Einmal verbrannt, Finger weg!“
Kein Zweifel, nachdem alle übrigen Branchen die große, dreijährige Baisse hinter sich gelassen haben, werden eines Tages auch Telekom- und viele High-Tech-Aktien das Tal der Tränen verlassen. Noch ist nicht genug Gras über die verbrannte Börsenerde gewachsen. Doch langfristig gewinnt nur, wer sein in der Vergangenheit verletztes Bauchgefühl mit dem kühlen Kopf und einem nüchternen Blick in die Zukunft in Einklang bringt.
Quelle: HANDELSBLATT, Donnerstag, 21. April 2005, 07:03 Uhr
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Der Einsame Samariter