Bei Aktien gierig werden, wenn alle anderen ängstlich sind
Kolumne
Gottfried Heller
Quelle: Börse Online, 22.05.2003
Deutschland steht am Rande einer Rezession, die Steuerausfälle sind dramatisch -und trotzdem steigt der DAX am Tag der Horrormeldungen um 2 Prozent. Seit dem Tiefststand im März hat der DAX knapp 30 Prozent zugelegt, doppelt so viel wie der Dow Jones. An meiner im Februar in Börse Online geäußerten positiven Einschätzung der Aktienaussichten für dieses Jahr hat sich nichts geändert. Sie gründet nicht auf einer robusten Konjunktur, im Gegenteil: Eine schwächelnde Wirtschaft verstärkt die Faktoren, die die Börsenkurse in die Höhe treiben. Dazu gehören eine expansive Geldpolitik mit weiterhin niedrigen Zinsen und einer üppigen Liquidität der Kapitalmärkte. Die Zentralbanken halten die Geldhähne weit geöffnet. Das überschüssige Geld, das in der Realwirtschaft nicht gebraucht wird, wandert an die Börsen. Dort sind die Anlagealternativen dünn gesät: Die Renditen 10-jähriger Staatsanleihen liegen beiderseits des Atlantik unter 4%. Festgeld weist unter Berücksichtigung von Zinsen und Inflation sogar eine negative Verzinsung auf. Aktien sind dagegen nach der 3-jährigen Baisse sehr billig. Dank drastischer Kostensenkungen machen die meisten Unternehmen trotz schwacher Konjunktur wieder Gewinne, Tendenz steigend. Der schnelle Sieg im Irak-Krieg hat die Unsicherheit beseitigt. Die geopolitische Ängste nehmen ab und in Amerika beginnt sich die Zurückhaltung zu legen: Die Konsumentenstimmung bessert sich, die Läger werden aufgefüllt und zurückgestellte Investitionen in Angriff genommen. Hinzu kommt, dass der niedrigere Ölpreis wie eine weltweite Steuersenkung wirkt. Er könnte sogar noch tiefer fallen, nicht nur weil die Opec bei ihrem letzten Treffen beschlossen hat, die Ölförderung weniger als erwartet zu drosseln, sondern auch weil der Irak als zusätzlicher Anbieter auf dem Weltmarkt erscheinen wird. Schließlich wird der US-Dollar, der gegenüber dem Euro seit Anfang 2002 um 25% gefallen ist, amerikanische Exporte fördern, das Handelsdefizit vermindern und die Gewinne multinationaler US-Unternehmen steigern. Das alles zusammengenommen wird für ein stärkeres Wachstum in den USA aber auch im Rest der Welt sorgen. Die Börsen nehmen einen Konjunkturaufschwung und steigende Unternehmensgewinne schon etwa 6 Monate vorweg. Die Gewinnrendite des Standard & Poor’s 500 Aktien-Index beträgt heute etwa 6,2%, die Rendite von 10-jährigen Regierungsanleihen dagegen nur 3,7%; das bedeutet, daß die Spanne zwischen Aktien und Anleihen 2,5% ausmacht und Aktien im Verhältnis zu Anleihen sehr billig sind. Anfang 2000 war es genau umgekehrt: Die Spanne zwischen der Gewinnrendite von Aktien und der Rendite von Anleihen betrug etwa 3% zugunsten von Anleihen. Der DAX ist sogar noch stärker unterbewertet – mit 4 Punkten Spanne zwischen Aktien- und Bondrenditen. Viele Investoren schätzen Deutschland als hoffnungslosen Fall ein. Ich teile diese Meinung nicht, sondern betrachte die Hiobsbotschaften aus Politik und Wirtschaft wie einen Segen – in Verkleidung! Erst, wenn die Krise von allen wahrgenommen und „Vater Staat“ sichtbar pleite ist, wächst in unserem Land der Besitzstandswahrer die Bereitschaft zu Opfern und Reformen. Seit der längsten Baisse, von 1929 bis 1932 ist die Zeit der defensiven Anlagestrategie vorbei. Anfang 2000 war alle Welt gierig auf Aktien, obwohl sie stark überbewertet und höchst riskant waren. Heute ist es genau umgekehrt: Obwohl Aktien billig sind, grassiert der Pessimismus und die meisten sind ängstlich. Es findet eine rege Diskussion darüber statt, ob bei Aktien alte Börsenweisheiten, wie „kaufen und halten“ nicht überholt und stattdessen Trading angesagt ist. Diese Debatte hätte Anfang 2000 geführt werden müssen. Wer heute einen Anlagehorizont von mehreren Jahren hat, der muss bei Anleihen ängstlich und bei Aktien gierig werden.