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Im Handelsraum einer Wertpapierfirma in Schanghai: Anleger verfolgen gespannt die Rekordzahlen, die über die Kurstafel flimmern. |
PEKING. Mühsam kämpft der einzige Ventilator im Saal gegen die drückende Hitze. Die Luft im Handelsraum beim Broker Chang Jiang Securities ist dick. Peking hat am Wochenende mit fast 40 Grad einen Mai-Hitzerekord gemeldet. Und an diesem Montagmorgen drängen wieder besonders viele Menschen in die Filiale des Pekinger Aktienhändlers.
Chinas Kleinanleger sind im Aktienfieber wie nie zuvor. Und täglich heizen Börsenrekorde die Stimmung weiter an. Ob jung, ob alt, ob Student oder Rentner, ob Hausfrau oder Geschäftsmann – alle träumen vom schnellen Geld. Kein Wunder: Die Börsen in Schanghai und in Shenzhen erleben nach langem Dornröschenschlaf einen wahren Boom. Der Leitindex stieg dieses Jahr um fast 60 Prozent, nachdem er im vergangenen Jahr bereits um 130 Prozent zugelegt hatte. Ein Ende ist nicht in Sicht: In dem stickigen Saal von Chang Jiang Securities kommt kurz vor Mittag Stimmung auf. „4,267.96“ – diese Zahl flimmert über den Köpfen auf der Anzeigetafel. Wieder ein Rekord des Index in Schanghai.
Der 39-jährige Chen ist heute zum ersten Mal hier. Auch er will nun endlich einer von Chinas Aktionären werden. Der junge Mann, der bei seinen Eltern in Peking im Restaurant arbeitet, tritt am Beratungstresen ungeduldig von einem Bein auf das andere. Ein Mitarbeiter erklärt ihm geduldig, wo er jedes Formular unterschreiben muss. „Mein erstes Aktiendepot“, sagt Aktienneuling Chen dann und zerrt lachend am T-Shirt, das schweißnass an der Brust klebt. Er besitzt nun die Aktie von Y.u.d Yangtze River Investment Industry Co aus Schanghai. Warum die ihm empfohlen wurde, kann er nicht sagen. Aber der Börsenwert der medizinischen Vertriebsfirma hat sich seit Jahresbeginn verdreifacht. Das reicht momentan als Argument im Reich der Zocker.
Allein im April wurden fünf Millionen Aktiendepots in China eröffnet – so viel wie im gesamten Jahr 2006. Die meisten Chinesen setzen auf Spekulationsgewinne. Schell rein und schnell wieder raus, lautet die Devise. Chinas Anleger zeigten vor allem eines, urteilt das Wirtschaftsmagazin „Caijing“ – „Spielermentalität“. Inzwischen hat die Volksrepublik schon 100 Millionen Depots. Zhu Jianfang, Experte von China Securities, schätzt sogar, dass bereits zwölf Prozent der 1,3 Milliarden Chinesen Kleinaktionäre sind.
Da werden sogar Mönche schwach: Shi Changxing kam in Sandalen und ockerfarbener Kutte zum Investmenthaus Guotai Junan Securities, um ein Aktiendepot zu eröffnen. „Ich will unbedingt in den Aktienmarkt einsteigen, um mehr Gutes tun zu können“, sagte der bekennende Zocker-Mönch. Den irdischen Profit will er nicht für sich.
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<!--/nodist-->Wie Chinas Welt der Kleinanleger durchdreht, zeigt eine SMS-Nachricht, die seit Tagen auf Handys gesendet wird. Darin wurden die Verse der Nationalhymne („Marsch der Freiwilligen“) so verändert, dass der Text nun alle Chinesen auffordert, „ihre Erspartes in den boomenden Aktienmarkt zu investieren“, wie die „Beijing Evening News“ berichtet. Und schon machen Geschichten von Aktienmillionären die Runde. Eine 52-jährige Straßenfegerin soll in wenigen Wochen ein Vermögen erzielt haben. Aber auch die ersten Flops werden bekannt – Betrug, Fehlinvestitionen, Überschuldung.
Pfandleiher Xu Wei in Peking kann sich momentan kaum vor Kunden retten, die aus ihrem Hab und Gut Bares machen wollen, um an der Börse mitspielen zu können. Xu sagt: „Die Leute machen momentan viel mehr Gewinn, als sie bei uns an Zinsen zahlen müssen.“ Das kann sich schnell ändern. Eine Beratung über die Risiken des Börsenhandels gibt es nicht wirklich. Der frischgebackene Anleger Chen kann zumindest nicht erklären, was ein Börsencrash ist.
Dabei haben die Aufsichtsbehörden vergangene Woche angeordnet, dass alle Aktienhändler in der Volksrepublik die Anleger über die Risiken aufklären müssen. Doch all das verpufft momentan – wie der Aufruf, dass junge Leute ihr Studiengeld nicht in Aktien anlegen sollen. Die ersten Fälle sind bekannt, die Folgen noch nicht.
Ebenso wollte niemand die Warnung von Börsen-Guru Alan Greenspan in China hören. Der 81-jährige hatte vergangene Woche erklärt, die jüngsten Kursanstiege seien „ganz klar nicht nachhaltig“; es werde irgendwann einen „dramatischen Einbruch“ geben. Doch Chinas Leitindex hat seitdem weiter zugelegt. Dabei wären von einem Crash in Schangai vor allem die Kleinanleger betroffen. Doch die Mahnungen seien bislang „wie kleine Eiswürfel, die man in kochendes Wasser wirft“, sagt ein Kleinaktionär im Handelsraum von Chang Jiang Securities. Hier gibt es ebenfalls von Abkühlung keine Spur. Die Luft flimmert. „Ich bin überzeugt, dass der Boom bis zu den Olympischen Spielen in Peking anhalten wird“, sagt ein Anleger überzeugt.
<!--nodist-->Lesen Sie weiter auf Seite 3: In China haben auch die Kleinanleger ihre eigenen Geheimtipps
<!--/nodist-->Eine der vielen Rentnerinnen, die hier ihr Geld anlegen, hat sich einen der Plastikstühle erkämpft. Frau Bai ist schon seit 1999 Aktionärin. Sie hat schon im ersten Börsenboom in China 140 000 Yuan (rund 14 000 Euro) angelegt und dann fast alles verloren. „Wenn man solche Flops erlebt hat, hat man keine Angst vor einem Crash.“ Sie sei realistisch: „Ich erwarte eine Korrektur von bis zu 50 Prozent.“ Die einfache Frau in der Küchenbluse hat Block und Bleistift auf dem Schoß. Dabei verfolgt sie genau die Kurse, die an der Wand des Handelsraums auftauchen. Früher habe sie Aktien auf Rat gekauft, sagt sie: „Jetzt habe ich meine eigenen Geheimtipps.“ Zum Beispiel „600602“, das Kürzel für die Firma SVA Electron. Heute wieder 3,5 Prozent im Plus.
Frau Bai kommt jeden Tag in den schmucklosen Betonbau, wo Chang Jian Securities Kleinanleger an die Computer lässt. 90 Yuan – keine zehn Euro – kostet eine der Chipkarten, mit denen man ein Konto eröffnen und an den Terminals kaufen und verkaufen kann. Der Handelsraum erinnert an ein Wettbüro: in der Mitte Reihen von Plastikstühlen, festgeschraubt wie in einer Bahnhofswartehalle, ringsum kleine Kabinen aus Billig-Resopal, in denen die Terminals stehen. Privatsphäre ist hier nicht gefragt. Jeder schaut jedem über die Schulter, hat einen Tipp oder eine Warnung parat.
Heiß diskutiert wird hier jedoch, dass bei Chang Jiang Securities bald nur noch Anleger mit umgerechnet 50 000 Euro im Depot die Kurse verfolgen dürfen – ein Stockwerk höher in vollklimatisierter Umgebung. Die Zockerbude für die Massen, ohne Toilette und ohne Klimaanlage, wird am Freitag dicht gemacht. China ist dem Ansturm der Kleinanleger einfach nicht mehr gewachsen.