WALL STREET
Zwei lange, teure Minuten
Von Marc Pitzke, New York
Rätsel an der Wall Street: Viele Händler und Broker wussten schon vor der offiziellen Bekanntgabe über die jüngsten, streng geheimen Arbeitsmarktzahlen Bescheid - und machten damit schnelle Geschäfte. Jetzt ermitteln die Behörden.
New York - Irgendwas schien faul an der Sache. Dachte sich zumindest Monica Fan, eine Währungsexpertin der Royal Bank of Canada, als sie am vorigen Freitag auf ihrem Monitor in London die Kurse verfolgte. Denn plötzlich und ohne rechten Anlass begann der Dollar gegen Euro und Yen anzuziehen - um exakt 13.28 Uhr Ortszeit, also 8.28 Uhr US-Ostküstenzeit. Ein ungewöhnlicher Anblick: "Man konnte die Aktion richtig mit ansehen", sagt Fan.
Das Mysteriöse daran war das Timing. Der Aufwind des Dollar begann nämlich exakt zwei Minuten, bevor er dazu einen offiziellen Grund geliefert bekam, und zwar in Form der unverhofft positiven US-Arbeitsmarktzahlen, die um 8.30 Uhr New Yorker Zeit veröffentlicht wurden. Diese Zahlen werden, da enorm börsenbewegend, stets bis zur allerletzten Sekunde geheim gehalten, damit sich kein Händler oder Anleger daraus einen finanziellen Vorteil verschaffen kann. Hatte da jemand vorab Bescheid gewusst? Monica Fan wähnte Übles: "Das riecht nach einer undichten Stelle."
"Die Zahlen sind raus!"
Es wäre ein großes, teures Leck. Denn zwei Minuten sind an der Börse eine kostspielige Ewigkeit. Und nicht nur die Devisenkurse bewegten sich zu früh. Ebenfalls ab 8.28 Uhr beobachteten die Händler, in auffallendem Gleichklang, eine ungewöhnliche, "massive" Verkaufswelle am US-Rentenmarkt, bei dem unter anderem die Treasury-Noten schwer einbüßten, um rund einen Prozentpunkt pro Minute: Schlechte Nachrichten für Anleger, die ausgerechnet hier aus Angst vor dem Terror Zuflucht suchen, aber auch für große Investmentbanken, denen nach Schätzung von Experten am Ende des Tages so mehrstellige Millionensummen verloren gegangen waren.
"Es begann bei festverzinslichen Wertpapieren und schwappte dann zu den Devisen über", berichtet ein Händler in New York. "Nicht nur ein, zwei Transaktionen. Der ganze Markt war mit dabei." Und das alles eben schon zwei Minuten vor Bekanntgabe der Nachricht, die erst den Anlass des ganzen Trubels bot. Um 8.29 Uhr, erinnert sich Stephen Stanley, Chefökonom von RBS Greenwich Capital, hätten die Broker in New York laut gerufen: "Die Zahlen sind raus! Die Zahlen sind raus!"
Der Kleinanleger hinkt hinterher
"Die Frage ist, was da passiert ist und warum", wundert sich Alan Sobba, der Chefsprecher der amerikanischen Futures- und Optionsbehörde CFTC. Und deshalb hat die CFTC jetzt amtliche Ermittlungen aufgenommen, ebenso wie die Börsenaufsicht SEC und das Arbeitsministerium in Washington, die der Sache ebenfalls parallel nachgehen. Der Verdacht: Jemand habe die Zahlen vorab lanciert - ein Verstoß gegen die guten Börsensitten, wenn nicht womöglich auch ein handfester Gesetzesbruch. Denn die Arbeitsmarktzahlen - 308.000 neue Stellen im März, der größte Anstieg in vier Jahren - waren so sensationell und unerwartet, dass sie wirklich keiner vorausahnen konnte, auch und erst recht nicht um 8.28 Uhr. Im Gegenteil: Die Märkte halten normaler Weise vor wichtigen Konjunkturdaten kurz die Luft an.
Das Spannende dieser Geschichte ist aber nicht nur, was am Ende dabei herauskommt, wahrscheinlich noch im Laufe dieser verkürzten Osterwoche, wenn sich die Börsenfahnder beeilen. Sondern allein die Erkenntnis, wie teuer zwei Minuten in diesem Geschäft sein können. Die Episode, die dem Börsenjubel über den Aufschwung am US-Arbeitsmarkt im Nachhinein einen leicht faden Nachgeschmack verleiht, illustriert, worum es bei den vielen Skandalen, die die Wall Street seit Monaten schon erschüttern, wirklich geht: Eine Hatz der Experten um Sekunden und Sekundenbruchteile, bei der der Kleinanleger stets ein paar Schritte hinterher hinkt.
Millionenstrafe fürs Zeitschinden
Die meisten dieser Skandale haben einen gemeinsamen Nenner: Timing. Ob ein paar Minuten früher als erlaubt (so der Vorwurf gegen die Specialist-Händlerfirmen auf dem Parkett der New York Stock Exchange), ein paar Minuten später als erlaubt (wie es den Mutual Funds vorgeworfen wird) oder durch ein paar per Verzögerung einer Transaktion geschundene Minuten auf eigene Kasse (ebenfalls eine Specialist-Spezialität): Die Insider wussten immer schon, wie Zeit zu Geld wird - doch selten zu Gunsten ihrer Kunden.
Wie tief diese Skandale reichen und wie verhältnismäßig sanft die Beschuldigten trotzdem davonkommen, zeigte vorige Woche die außergerichtliche Einigung der SEC und der NYSE mit den fünf New Yorker Händler-Firmen. 242 Millionen Dollar Strafe und Wiedergutmachung müssen die für ihre unlauteren Zeitschinderei-Praktiken nun zahlen, dürften dabei jedoch die Vorwürfe "weder bestätigen noch dementieren". Einige Mitarbeiter wurden vom Börsenparkett abgezogen, einige Köpfe rollten, ansonsten bleibt alles "Business as usual".
Die wahre Gefahr droht den Händlern derweil nicht von den Ermittlern der SEC, sondern von neuen, elektronischen Handelssystemen. Denn die sind ironischerweise noch ein paar Sekündchen schneller - und sollen den Anlegern so Geld sparen.
Korrekte Sendezeit: 8.30.00001 Uhr
Seltenen Einblick in den surrealen Umgang mit der Zeit offenbarte auch der Fall der verlorenen zwei Minuten vom Freitag. Die US-Arbeitsmarktzahlen sind so "time-sensitive", dass sie außerhalb des Ministeriums nur ein Dutzend Personen vorab zu sehen bekommt, darunter der Präsident, der Vizepräsident, der Finanzminister und der Notenbankchef. Eine halbe Stunde vor Veröffentlichung werden die Zahlen dann einer ausgesuchten Gruppe von rund 20 Reportern überreicht. Diese wiederum werden in einem Raum im Arbeitsministerium eingesperrt, bis ein Mitarbeiter der Pressestelle den mündlichen Countdown zum Ablauf der Sperrfrist beginnt, der punkt 8.30 Uhr endet.
Dennoch trug die erste Eilmeldung der Nachrichtenagentur Reuters am Freitag, auf der Website des Online-Dienstes Yahoo, den Zeitstempel 8.28 Uhr - genau jener Zeitpunkt, zu dem die mysteriösen Dollar- und Anleihen-Bewegungen begannen. Ein zweiter Bericht folgte um 8.29 Uhr. Reuters erklärt das mit einer "defekten Uhr": Die Nachricht sei korrekt "um 8.30.0001 Uhr" auf den Draht gegeben worden, versichert Reuters-Sprecher Steve Naru. "Wir haben die Sperrfrist nicht gebrochen." (In der Tat erschien die Meldung auf den firmeneigenen Reuters-Monitoren, an die auch die New Yorker Händler und Broker angeschlossen sind, um 8.30 Uhr.) Die angeblich vorzeitige Verbreitung via Yahoo sei das Resultat eines Computerfehlers in London.
John Snows Orakelkunst
Ein anderer Verdächtiger ist US-Finanzminister John Snow. Der hatte sich schon tags zuvor, als die Zahlen dem Weißen Haus vorlagen, in auffällliger Orakelkunst geübt: "Wir werden sehen", hatte er umständlich angedeutet, "dass wir dabei sind, viele neue Arbeitsplätze zu schaffen." Was wusste Snow? Nichts, versicherte der später hochheilig: Dies sei eine rein politische "Standard-Äußerung" gewesen. Sprach's, und machte sich sogleich daran, die neuen Arbeitsmarktzahlen als Grund für die Wiederwahl seines Präsidenten zu propagieren.
Zwei lange, teure Minuten
Von Marc Pitzke, New York
Rätsel an der Wall Street: Viele Händler und Broker wussten schon vor der offiziellen Bekanntgabe über die jüngsten, streng geheimen Arbeitsmarktzahlen Bescheid - und machten damit schnelle Geschäfte. Jetzt ermitteln die Behörden.
DPAHändler an der New York Stock Exchange: "Man konnte die Aktion richtig mit ansehen" |
Das Mysteriöse daran war das Timing. Der Aufwind des Dollar begann nämlich exakt zwei Minuten, bevor er dazu einen offiziellen Grund geliefert bekam, und zwar in Form der unverhofft positiven US-Arbeitsmarktzahlen, die um 8.30 Uhr New Yorker Zeit veröffentlicht wurden. Diese Zahlen werden, da enorm börsenbewegend, stets bis zur allerletzten Sekunde geheim gehalten, damit sich kein Händler oder Anleger daraus einen finanziellen Vorteil verschaffen kann. Hatte da jemand vorab Bescheid gewusst? Monica Fan wähnte Übles: "Das riecht nach einer undichten Stelle."
"Die Zahlen sind raus!"
Konjunktur (Erwartung/ Vormonat): Montag: ISM-Industrieindex (außer herstellendes Gewerbe), März (61,2/60,8) Dienstag: Redbook Einzelhandels-Index (k.A./+0,1%) ABC/Money Verbraucherzuversicht (k.A./-17) Mittwoch: Importpreise, März (+0,6%/+0,4%) Verbraucherkredite, Februar (+$7,4 Mrd./+$14,3 Mrd.) Donnerstag: Arbeitslosenanträge (-2000/-3000) Großhandel (+0,2%/+0,1%) Bilanzen (Erwartung, $ pro Aktie): Montag: Horizon Health Corporation (0,47) Dienstag: Alcoa (0,42) Mittwoch: Genentech (0,31) Yahoo (0,10) Donnerstag: Abbott Laboratories (0,56) Rite Aid (0,08) SunTrust (1,23) |
"Es begann bei festverzinslichen Wertpapieren und schwappte dann zu den Devisen über", berichtet ein Händler in New York. "Nicht nur ein, zwei Transaktionen. Der ganze Markt war mit dabei." Und das alles eben schon zwei Minuten vor Bekanntgabe der Nachricht, die erst den Anlass des ganzen Trubels bot. Um 8.29 Uhr, erinnert sich Stephen Stanley, Chefökonom von RBS Greenwich Capital, hätten die Broker in New York laut gerufen: "Die Zahlen sind raus! Die Zahlen sind raus!"
Der Kleinanleger hinkt hinterher
"Die Frage ist, was da passiert ist und warum", wundert sich Alan Sobba, der Chefsprecher der amerikanischen Futures- und Optionsbehörde CFTC. Und deshalb hat die CFTC jetzt amtliche Ermittlungen aufgenommen, ebenso wie die Börsenaufsicht SEC und das Arbeitsministerium in Washington, die der Sache ebenfalls parallel nachgehen. Der Verdacht: Jemand habe die Zahlen vorab lanciert - ein Verstoß gegen die guten Börsensitten, wenn nicht womöglich auch ein handfester Gesetzesbruch. Denn die Arbeitsmarktzahlen - 308.000 neue Stellen im März, der größte Anstieg in vier Jahren - waren so sensationell und unerwartet, dass sie wirklich keiner vorausahnen konnte, auch und erst recht nicht um 8.28 Uhr. Im Gegenteil: Die Märkte halten normaler Weise vor wichtigen Konjunkturdaten kurz die Luft an.
Das Spannende dieser Geschichte ist aber nicht nur, was am Ende dabei herauskommt, wahrscheinlich noch im Laufe dieser verkürzten Osterwoche, wenn sich die Börsenfahnder beeilen. Sondern allein die Erkenntnis, wie teuer zwei Minuten in diesem Geschäft sein können. Die Episode, die dem Börsenjubel über den Aufschwung am US-Arbeitsmarkt im Nachhinein einen leicht faden Nachgeschmack verleiht, illustriert, worum es bei den vielen Skandalen, die die Wall Street seit Monaten schon erschüttern, wirklich geht: Eine Hatz der Experten um Sekunden und Sekundenbruchteile, bei der der Kleinanleger stets ein paar Schritte hinterher hinkt.
Millionenstrafe fürs Zeitschinden
Die meisten dieser Skandale haben einen gemeinsamen Nenner: Timing. Ob ein paar Minuten früher als erlaubt (so der Vorwurf gegen die Specialist-Händlerfirmen auf dem Parkett der New York Stock Exchange), ein paar Minuten später als erlaubt (wie es den Mutual Funds vorgeworfen wird) oder durch ein paar per Verzögerung einer Transaktion geschundene Minuten auf eigene Kasse (ebenfalls eine Specialist-Spezialität): Die Insider wussten immer schon, wie Zeit zu Geld wird - doch selten zu Gunsten ihrer Kunden.
Wie tief diese Skandale reichen und wie verhältnismäßig sanft die Beschuldigten trotzdem davonkommen, zeigte vorige Woche die außergerichtliche Einigung der SEC und der NYSE mit den fünf New Yorker Händler-Firmen. 242 Millionen Dollar Strafe und Wiedergutmachung müssen die für ihre unlauteren Zeitschinderei-Praktiken nun zahlen, dürften dabei jedoch die Vorwürfe "weder bestätigen noch dementieren". Einige Mitarbeiter wurden vom Börsenparkett abgezogen, einige Köpfe rollten, ansonsten bleibt alles "Business as usual".
Die wahre Gefahr droht den Händlern derweil nicht von den Ermittlern der SEC, sondern von neuen, elektronischen Handelssystemen. Denn die sind ironischerweise noch ein paar Sekündchen schneller - und sollen den Anlegern so Geld sparen.
Korrekte Sendezeit: 8.30.00001 Uhr
Seltenen Einblick in den surrealen Umgang mit der Zeit offenbarte auch der Fall der verlorenen zwei Minuten vom Freitag. Die US-Arbeitsmarktzahlen sind so "time-sensitive", dass sie außerhalb des Ministeriums nur ein Dutzend Personen vorab zu sehen bekommt, darunter der Präsident, der Vizepräsident, der Finanzminister und der Notenbankchef. Eine halbe Stunde vor Veröffentlichung werden die Zahlen dann einer ausgesuchten Gruppe von rund 20 Reportern überreicht. Diese wiederum werden in einem Raum im Arbeitsministerium eingesperrt, bis ein Mitarbeiter der Pressestelle den mündlichen Countdown zum Ablauf der Sperrfrist beginnt, der punkt 8.30 Uhr endet.
Dennoch trug die erste Eilmeldung der Nachrichtenagentur Reuters am Freitag, auf der Website des Online-Dienstes Yahoo, den Zeitstempel 8.28 Uhr - genau jener Zeitpunkt, zu dem die mysteriösen Dollar- und Anleihen-Bewegungen begannen. Ein zweiter Bericht folgte um 8.29 Uhr. Reuters erklärt das mit einer "defekten Uhr": Die Nachricht sei korrekt "um 8.30.0001 Uhr" auf den Draht gegeben worden, versichert Reuters-Sprecher Steve Naru. "Wir haben die Sperrfrist nicht gebrochen." (In der Tat erschien die Meldung auf den firmeneigenen Reuters-Monitoren, an die auch die New Yorker Händler und Broker angeschlossen sind, um 8.30 Uhr.) Die angeblich vorzeitige Verbreitung via Yahoo sei das Resultat eines Computerfehlers in London.
John Snows Orakelkunst
Ein anderer Verdächtiger ist US-Finanzminister John Snow. Der hatte sich schon tags zuvor, als die Zahlen dem Weißen Haus vorlagen, in auffällliger Orakelkunst geübt: "Wir werden sehen", hatte er umständlich angedeutet, "dass wir dabei sind, viele neue Arbeitsplätze zu schaffen." Was wusste Snow? Nichts, versicherte der später hochheilig: Dies sei eine rein politische "Standard-Äußerung" gewesen. Sprach's, und machte sich sogleich daran, die neuen Arbeitsmarktzahlen als Grund für die Wiederwahl seines Präsidenten zu propagieren.