AOK jagt Millionenbetrüger
Rund 1,5 Milliarden Markt gehen den Krankenkassen nach Schätzungen jährlich durch dunkle Machenschaften verloren. Beteiligt sind alle Ebenen der Branche
Von Cornelia Schmergal
Die chronische Finanzkrise im Gesundheitssystem bereitet Ulla Schmidt (SPD) Bauchschmerzen. In kleiner Runde mit Ärzten und Kassenvertretern mühte sich die Bundesgesundheitsministerin am Donnerstag, die Arzneimittelausgaben in den Griff zu bekommen.
Ein hehres Ziel. Denn die Regierung will die Arzneibudgets aufheben, die die Ausgaben bisher begrenzten. Außerdem soll die Kollektivhaftung der Ärzte bei der Überschreitung dieser Budgets fallen. Allein die Ankündigung dieser Maßnahmen, so klagen jetzt die Innungskrankenkassen, habe dazu geführt, dass die Ärzte wieder öfter zum Rezeptblock griffen.
Zum Jahreswechsel werden einige Kassen Beitragssatzerhöhungen nicht mehr vermeiden können. In den nächsten Monaten wollen Kassen und Ärzte daher gemeinsam überprüfen, ob Medikamente tatsächlich wirtschaftlich verordnet werden. Darauf hat auch Ulla Schmidt in der vergangenen Woche gedrängt.
Tatsächlich sind die Fakten alarmierend: In den ersten drei Monaten dieses Jahres kletterten die Arzneiausgaben um 9,7 Prozent gegenüber dem Vorjahreszeitraum. Die Apotheker errechneten für den April gar einen Anstieg von 15,2 Prozent.
Schon Ende März hatten die gesetzlichen Krankenkassen ein Minus von 2,2 Milliarden Mark angehäuft - während auf der
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anderen Seite Geld über dunkle Machenschaften verschwindet. Rund 1,5 Milliarden Mark, so schätzt die AOK Niedersachsen, gingen dem Gesundheitssystem jährlich durch Betrug und die ganz alltägliche Korruption verloren.
Als Affären wie der Herz-Klappen-Skandal oder die Machenschaften korrupter Laborärzte die Gazetten füllten, gründeten die Kassenärztliche Vereinigungen eigene Kontrollgruppen, und die gesetzlichen Kassen schlossen sich unter der Führung des Bundesverbandes der Innungskrankenkassen zu einer Task Force gegen Betrug zusammen. Auch auf Landesebene gründeten die Kassen Kontrollinstanzen, die Auffälligkeiten recherchieren. In gravierenden Fällen wird der Staatsanwalt eingeschaltet.
In der Untersuchungsgruppe "Falschabrechnungen" der AOK Niedersachsen etwa suchen ein Jurist und fünf Abrechnungsspezialisten nach schwarzen Schafen. Seit Januar 1998 konnten die Fahnder Schäden von rund acht Millionen Mark aufdecken. Derzeit bearbeiten die Experten ein potenzielles Betrugsvolumen von rund 50 Millionen Mark. Dabei entdeckten sie Skandale quer durch die ganze Branche. Mitnichten seien es etwa nur Mitglieder der etwas in Verruf geratenen Götter in Weiß, die das Gesundheitssystem gelegentlich schröpften. Auf den Fahndungslisten finden sich auch Krankenhäuser, Pflegedienste, Apotheken, Sanitätshäuser oder Krankengymnasten.
Das Resümee einer AOK-Studie: "Im deutschen Gesundheitswesen ist Betrug nichts Ungewöhnliches." Die Zahl der von der Kasse aufgenommenen Untersuchungen steige wöchentlich. Ende vergangenen Jahres lag sie bei rund 800 - allein in Niedersachsen.
So berichten Betroffene von Sanitätshäusern, die für angeblich hochwertige Beinprothesen über 6000 Mark abrechneten. In Wahrheit wurde dem Kunden Billigware ohne Fußgelenk und mit mangelhafter Schutzmanschette angedreht. Wert: keine 2800 Mark.
Ein norddeutscher Augenoptiker behauptete, teure Spezialgläser abgegeben zu haben. Nachforschungen ergaben jedoch, dass die Kunden in Wahrheit nur billige Normalgläser bekommen hatten - in mehr als 20 Filialen. Der Schaden: eine Million Mark.
Oder die Apotheke, die Nährstofflösungen zur Ernährung Krebskranker über Infusionen auch dann noch abrechnete, als die Patienten längst verstorben waren. Die Rezepte gingen von dem behandelnden Krankenhausarzt über einen Pharmavertreter direkt an die Apotheke. Geschätzter Schaden für die Kasse: 3,1 Millionen Mark.
Die oftmals engen Bande zwischen Ärzten und Pharmaindustrie sind den Verbraucherschützern ein Dorn im Auge. Auch Spitzenvertreter der Mediziner-Lobby fürchten um den Ruf der gesamten Zunft, falls einzelne Kollegen sich mit dem Hubschrauber eines Pharmakonzerns zum Golfen in die Alpen fliegen lassen. Pharmavertreter berichten, für solche "Marketing-Maßnahmen" über ein eigenes Budget zu verfügen. So ermittelt eine nordrhein-westfälische Staatsanwaltschaft zum Beispiel gerade gegen Klinikärzte, die sich die Verordnung bestimmter Präparate von der Industrie durch Forschungsgelder honoriert haben lassen sollen.
Die finanziellen Verquickungen zwischen Ärzten und Pharmaindustrie seien "manchmal "subtil", klagt Thomas Isenberg, Gesundheitsexperte beim Bundesverband der Verbraucherzentralen. Er bemängelt etwa "missbräuchliche Absatzhilfen" wie die so genannte Anwendungsbeobachtung: Verschreibt ein Arzt bestimmte Präparate, beobachtet dabei die Patienten und trägt eventuelle Nebenwirkungen in ein Formblatt ein, erhält er von der Pharmaindustrie dafür Prämien, die zwischen 200 und 3000 Mark liegen können.
Die Anti-Korruptions-Organisation Transparency International kommt in einer Studie zur Korruption im Gesundheitswesen zu dem Schluss, dass gerade mangelnde Transparenz in dem komplizierten System, das selbst Experten kaum durchdringen, den Betrug so einfach mache. Prinzipiell sei das Gesundheitssystem in Deutschland mit den vorhandenen Mitteln finanzierbar - wenn es gelänge, den Betrug einzudämmen.
Da das Gesundheitswesen der Selbstverwaltung unterliegt, kontrollieren Kassen und Ärzte sich gegenseitig, beäugt von den Länder-Gesundheitsministerien. Der Bund bleibt außen vor. Doch im Berliner Gesundheitsministerium bemüht man sich nun um mehr Offenheit im komplizierten System. Noch vor der Sommerpause will Ulla Schmidt das neue Datentransparenzgesetz einbringen, an dem ihre Experten gerade arbeiten. Patienten sollen dann selber überprüfen können, welche Leistungen tatsächlich für sie erbracht - und welche dann abgerechnet wurden.
Wenn die Patienten nicht selber betrügen. So manch einer hat seine "verlorene" Chipkarte in Wirklichkeit weiterverkauft.
Rund 1,5 Milliarden Markt gehen den Krankenkassen nach Schätzungen jährlich durch dunkle Machenschaften verloren. Beteiligt sind alle Ebenen der Branche
Von Cornelia Schmergal
Die chronische Finanzkrise im Gesundheitssystem bereitet Ulla Schmidt (SPD) Bauchschmerzen. In kleiner Runde mit Ärzten und Kassenvertretern mühte sich die Bundesgesundheitsministerin am Donnerstag, die Arzneimittelausgaben in den Griff zu bekommen.
Ein hehres Ziel. Denn die Regierung will die Arzneibudgets aufheben, die die Ausgaben bisher begrenzten. Außerdem soll die Kollektivhaftung der Ärzte bei der Überschreitung dieser Budgets fallen. Allein die Ankündigung dieser Maßnahmen, so klagen jetzt die Innungskrankenkassen, habe dazu geführt, dass die Ärzte wieder öfter zum Rezeptblock griffen.
Zum Jahreswechsel werden einige Kassen Beitragssatzerhöhungen nicht mehr vermeiden können. In den nächsten Monaten wollen Kassen und Ärzte daher gemeinsam überprüfen, ob Medikamente tatsächlich wirtschaftlich verordnet werden. Darauf hat auch Ulla Schmidt in der vergangenen Woche gedrängt.
Tatsächlich sind die Fakten alarmierend: In den ersten drei Monaten dieses Jahres kletterten die Arzneiausgaben um 9,7 Prozent gegenüber dem Vorjahreszeitraum. Die Apotheker errechneten für den April gar einen Anstieg von 15,2 Prozent.
Schon Ende März hatten die gesetzlichen Krankenkassen ein Minus von 2,2 Milliarden Mark angehäuft - während auf der
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Als Affären wie der Herz-Klappen-Skandal oder die Machenschaften korrupter Laborärzte die Gazetten füllten, gründeten die Kassenärztliche Vereinigungen eigene Kontrollgruppen, und die gesetzlichen Kassen schlossen sich unter der Führung des Bundesverbandes der Innungskrankenkassen zu einer Task Force gegen Betrug zusammen. Auch auf Landesebene gründeten die Kassen Kontrollinstanzen, die Auffälligkeiten recherchieren. In gravierenden Fällen wird der Staatsanwalt eingeschaltet.
In der Untersuchungsgruppe "Falschabrechnungen" der AOK Niedersachsen etwa suchen ein Jurist und fünf Abrechnungsspezialisten nach schwarzen Schafen. Seit Januar 1998 konnten die Fahnder Schäden von rund acht Millionen Mark aufdecken. Derzeit bearbeiten die Experten ein potenzielles Betrugsvolumen von rund 50 Millionen Mark. Dabei entdeckten sie Skandale quer durch die ganze Branche. Mitnichten seien es etwa nur Mitglieder der etwas in Verruf geratenen Götter in Weiß, die das Gesundheitssystem gelegentlich schröpften. Auf den Fahndungslisten finden sich auch Krankenhäuser, Pflegedienste, Apotheken, Sanitätshäuser oder Krankengymnasten.
Das Resümee einer AOK-Studie: "Im deutschen Gesundheitswesen ist Betrug nichts Ungewöhnliches." Die Zahl der von der Kasse aufgenommenen Untersuchungen steige wöchentlich. Ende vergangenen Jahres lag sie bei rund 800 - allein in Niedersachsen.
So berichten Betroffene von Sanitätshäusern, die für angeblich hochwertige Beinprothesen über 6000 Mark abrechneten. In Wahrheit wurde dem Kunden Billigware ohne Fußgelenk und mit mangelhafter Schutzmanschette angedreht. Wert: keine 2800 Mark.
Ein norddeutscher Augenoptiker behauptete, teure Spezialgläser abgegeben zu haben. Nachforschungen ergaben jedoch, dass die Kunden in Wahrheit nur billige Normalgläser bekommen hatten - in mehr als 20 Filialen. Der Schaden: eine Million Mark.
Oder die Apotheke, die Nährstofflösungen zur Ernährung Krebskranker über Infusionen auch dann noch abrechnete, als die Patienten längst verstorben waren. Die Rezepte gingen von dem behandelnden Krankenhausarzt über einen Pharmavertreter direkt an die Apotheke. Geschätzter Schaden für die Kasse: 3,1 Millionen Mark.
Die oftmals engen Bande zwischen Ärzten und Pharmaindustrie sind den Verbraucherschützern ein Dorn im Auge. Auch Spitzenvertreter der Mediziner-Lobby fürchten um den Ruf der gesamten Zunft, falls einzelne Kollegen sich mit dem Hubschrauber eines Pharmakonzerns zum Golfen in die Alpen fliegen lassen. Pharmavertreter berichten, für solche "Marketing-Maßnahmen" über ein eigenes Budget zu verfügen. So ermittelt eine nordrhein-westfälische Staatsanwaltschaft zum Beispiel gerade gegen Klinikärzte, die sich die Verordnung bestimmter Präparate von der Industrie durch Forschungsgelder honoriert haben lassen sollen.
Die finanziellen Verquickungen zwischen Ärzten und Pharmaindustrie seien "manchmal "subtil", klagt Thomas Isenberg, Gesundheitsexperte beim Bundesverband der Verbraucherzentralen. Er bemängelt etwa "missbräuchliche Absatzhilfen" wie die so genannte Anwendungsbeobachtung: Verschreibt ein Arzt bestimmte Präparate, beobachtet dabei die Patienten und trägt eventuelle Nebenwirkungen in ein Formblatt ein, erhält er von der Pharmaindustrie dafür Prämien, die zwischen 200 und 3000 Mark liegen können.
Die Anti-Korruptions-Organisation Transparency International kommt in einer Studie zur Korruption im Gesundheitswesen zu dem Schluss, dass gerade mangelnde Transparenz in dem komplizierten System, das selbst Experten kaum durchdringen, den Betrug so einfach mache. Prinzipiell sei das Gesundheitssystem in Deutschland mit den vorhandenen Mitteln finanzierbar - wenn es gelänge, den Betrug einzudämmen.
Da das Gesundheitswesen der Selbstverwaltung unterliegt, kontrollieren Kassen und Ärzte sich gegenseitig, beäugt von den Länder-Gesundheitsministerien. Der Bund bleibt außen vor. Doch im Berliner Gesundheitsministerium bemüht man sich nun um mehr Offenheit im komplizierten System. Noch vor der Sommerpause will Ulla Schmidt das neue Datentransparenzgesetz einbringen, an dem ihre Experten gerade arbeiten. Patienten sollen dann selber überprüfen können, welche Leistungen tatsächlich für sie erbracht - und welche dann abgerechnet wurden.
Wenn die Patienten nicht selber betrügen. So manch einer hat seine "verlorene" Chipkarte in Wirklichkeit weiterverkauft.