Börse 28.12.2000
Am Neuen Markt zahlen Anleger viel Lehrgeld
Im Salami-Crash verlor die Wachstumsbörse rund 70 Prozent / Von 147 Neuemissionen liegen nur noch 46 über dem Ausgabepreis
Veronika Csizi
Die Bilanz ist vernichtend. Der Blick zurück auf das Millenniumsjahr in Europas führendem Wachstumssegment erlaubt nur eine Umschreibung: Crash. Das Jahr 2000 am Neuen Markt mutierte für die meisten Anleger von der Gelddruckmaschine zum Kapitalvernichter - auf Raten zwar, aber dennoch. Die nackten Zahlen veranschaulichen am besten, welche gigantische Blase geplatzt ist: Fast die Hälfte seines Wertes, genauer gesagt gut 45 Prozent hat der Nemax 50 - Index der Blue Chips im deutschen Wachstumssegment - in diesem Jahr verloren.
Dabei hatte alles so gut angefangen: Gestartet bei 5075 Zählern, frohlockte die deutsche New Economy über ein Allzeithoch nach dem anderen, täglich gab es neue Rekorde, Kursfeuerwerke. Im Februar sprachen Analysten und Fondsmanager von einer regelrechten Kaufpanik der Kleinanleger. Jeder wollte dabei sein, wenn sich 5000 Euro binnen weniger Tage in 10 000 verwandelten. Am 10. März stand der Nemax 50 bei 9694 Punkten. Damals, als die Party am schönsten war, hätte man gehen sollen: Es war das Allzeithoch.
Pünktlich zu ihrem dritten Geburtstag Anfang März begann die Erfolgsstory Neuer Markt an ihrem eigenen Erfolg zu ersticken. Zuerst war nur von "Schwächezeichen", Gewinnmitnahmen und "geringer Kaufneigung" die Rede. Mitte April rutschte der Nemax 50 im Schlepptau der schwachen amerikanischen Technologiebörse Nasdaq unter 7000 Punkte. Alle warteten auf die ersehnte Sommerrallye. Doch statt ihr kamen die "Todeslisten" und mit ihnen die Erkenntnis, dass nicht jede Geschäftsidee im Internet den automatischen Erfolg garantierte. Firmen wie Gigabell, Fortunecity oder Cybernet galten als potentielle Pleitekandidaten. Firmen, die mit wenigen Millionen Euro Umsatz milliardenschwere Marktkapitalisierungen aufwiesen, wurden jetzt wieder argwöhnisch untersucht. Ernüchterung kehrte ein. Im Sommerloch verdorrte der Nemax 50 bis deutlich unter 6000 Punkte, alle hofften auf die Herbstrallye. Intershop stand damals noch über 80, Mobilcom bei knapp 110 Euro.
Dann trudeln die ersten Hiobsbotschaften ein: Gigabell steht vor der Pleite, bei Infomatec steht der Staatsanwalt vor der Tür, durchsucht die Firmenräume und ermittelt wegen mutmaßlichen (Kurs-)Betrugs und gefälschter Ad-hoc-Mitteilungen. Im September kommt es zu ersten Panikverkäufen, die den Blue-Chips-Index deutlich unter 5000 Punkte drücken. In den USA und Deutschland doppelt gelistete Indexschwergewichte wie Intershop und Broadvision leiden massiv unter Short-Verkäufen: Investoren verkaufen millionenstückweise Aktien, die sie (noch) gar nicht besitzen, lösen damit Anschlussverkäufe aus. Das Vertrauen in die Wachstumswerte ist endgültig zerrüttet, an den erhofften goldenen Oktober glaubt kaum noch jemand. Am 18. Oktober sackt der Nemax 50 unter die 4000 Punkte, wenn auch nur kurzzeitig.
Als das Wort "Crash" zum ersten Mal Mitte November fällt, liegt der Nemax nur noch marginal über der 3000-Punkte-Linie. Auch die fällt noch - und zwar massiv: Am 20. Dezember - auch die vorweihnachtliche Rallye ist ausgeblieben - crasht der Nemax 50 nochmal um knapp elf Prozent auf 2728 Punkte. Der Grund: Die US-Notenbank spricht von der Möglichkeit einer Rezession in den USA. Dass Notenbank-Chef Alan Greenspan gleichzeitig eine Lockerung der Zinszügel in Aussicht stellt, reicht da nicht mehr - manche hatten sich sogar eine sofortige Senkung erhofft. Gute Nachrichten werden ignoriert, schlechte zu Katastrophenszenarien aufgebauscht - ein Trend, der sich durch den gesamten Salami-Crash seit März zieht. Unter dem Strich hat der Nemax 50 bis Weihnachten mehr als 70 Prozent verloren. Auch der breite Markt (Nemax All Share), der mittlerweile mehr als 300 Unternehmen umfasst, büßte seit dem Rekordhoch mehr als zwei Drittel ein.
Zwar liegen im Jahresvergleich "nur" 31 der 50 Blue-Chips im Minus, die meisten dafür aber gewaltig. 19 Firmen haben 2000 mehr als die Hälfte ihres Kurswertes eingebüßt, davon 16 mehr als 60 Prozent, elf mehr als 70 Prozent und sechs sogar mehr als 80 Prozent, nämlich Fantastic, Edel, Carrier 1, Senator, Intertainment und seit Anfang Dezember auch der ehemalige Anlegerliebling und Dax-Kandidat EM.TV, der seine Umsatz- und Gewinnprognosen drastisch reduzieren und den Einstieg der Kirch-Gruppe in Kauf nehmen musste.
Im Nemax All Share crashten im abgelaufenen Jahr gar elf Werte um mehr als neun Zehntel. Traurige Spitzenreiter sind der Paderborner IT-Dienstleister Teamwork, der Anfang November die Eröffnung des Insolvenzverfahrens beantragen musste (minus 96 Prozent), und der - bisher - einzige Kriminalfall am Neuen Markt, Infomatec, mit minus 95 Prozent. Hunderttausende Anleger mussten in den letzten zwölf Monaten bitter Lehrgeld bezahlen.
Trotz aller Horrorverluste und Hiobsbotschaften: Wer auf einige wenige, "richtige" Aktien gesetzt hat, konnte selbst im Jahr 2000 am Neuen Markt gewaltige Gewinne einfahren. Vor allem Biotech-Werte, Logistik- und Umwelttitel zeigten teilweise sehr gute Kursentwicklungen. Jahresgewinner mit dem satten Plus von über 550 Prozent ist die Münchener Morphosys AG, die Antikörper-Bibliotheken "herstellt" und vom Kulmbacher Anlage-"Guru" Bernd Förtsch mehrfach mit dem nie erreichten Kursziel 1000 zum Kauf empfohlen wurde. Auf den Plätzen folgen - Neuemissionen nicht mitgerechnet - Rhein Biotech, D-Logistics, Entrium, Technotrans, Cor AG, Cybio, PC Spezialist, Comroad, Sanochemia und Qiagen mit jeweils mehr als 100 Prozent Jahresgewinn.
Auch bei den Börsen-Neulingen ist das Bild ähnlich: 147 Unternehmen haben - dem schwierigen Börsenjahr zum Trotz - den Schritt an den Neuen Markt gewagt. Gemessen am Emissionspreis liegen 46 davon bis heute im Plus, 101 jedoch zum Teil massiv im Minus. Gemessen am ersten Börsenkurs erwiesen sich sogar 115 Firmen bisher als Kapitalvernichter. Die Erfolgreichsten - Biodata, Umweltkontor, Thiel Logistik oder Linos - haben das ursprüngliche Investment der Erstzeichner bisher mehr als verdreifacht, bei den Schlechtesten - Comtelco, Update.com, Intraware und Mediascape - sind vom eingesetzten Kapital inzwischen nicht einmal mehr zehn Prozent übrig.
Auch die Banken zeigten ein unterschiedlich glückliches Händchen. Wer Unternehmen zeichnete, die von den beiden aktivsten Emissionsbanken an den Neuen Markt begleitet wurden, der DG Bank und der Commerzbank, erzielte einen durchschnittlichen Zeichnungsgewinn (erste Notierung im Vergleich zum Emissionskurs) von 68 beziehungsweise 43 Prozent, hat eine statistische Auflistung des Internet-Finanzportals Onvista ergeben. Im Schnitt blieb davon bis jetzt nichts übrig: Gemessen am Emissionspreis liegen Börsengänge mit der DG Bank im Durchschnitt heute knapp 13 Prozent, Börsengänge der Commerzbank 24 Prozent im Minus. Bei der drittplazierten Sal. Oppenheim summieren sich die Verluste gar auf 36 Prozent. Eine positive Bilanz kann mit plus 14 Prozent von den größeren Konsortialbanken nur die Dresdner vorweisen.
Ob alte Hasen oder Neuemissionen: Für die Wachstumswerte war 2000 ein Horrorjahr. Die große Schwester Nasdaq muss wohl mit einem Jahresminus von fast 40 Prozent das schlechteste Jahr ihrer 29jährigen Geschichte verbuchen. Bleibt nur die Hoffnung: Jede Hausse wird aus einer Baisse geboren.
2000 © Tagesspiegel Online Dienste Verlag GmbH
gruß
proxi
Am Neuen Markt zahlen Anleger viel Lehrgeld
Im Salami-Crash verlor die Wachstumsbörse rund 70 Prozent / Von 147 Neuemissionen liegen nur noch 46 über dem Ausgabepreis
Veronika Csizi
Die Bilanz ist vernichtend. Der Blick zurück auf das Millenniumsjahr in Europas führendem Wachstumssegment erlaubt nur eine Umschreibung: Crash. Das Jahr 2000 am Neuen Markt mutierte für die meisten Anleger von der Gelddruckmaschine zum Kapitalvernichter - auf Raten zwar, aber dennoch. Die nackten Zahlen veranschaulichen am besten, welche gigantische Blase geplatzt ist: Fast die Hälfte seines Wertes, genauer gesagt gut 45 Prozent hat der Nemax 50 - Index der Blue Chips im deutschen Wachstumssegment - in diesem Jahr verloren.
Dabei hatte alles so gut angefangen: Gestartet bei 5075 Zählern, frohlockte die deutsche New Economy über ein Allzeithoch nach dem anderen, täglich gab es neue Rekorde, Kursfeuerwerke. Im Februar sprachen Analysten und Fondsmanager von einer regelrechten Kaufpanik der Kleinanleger. Jeder wollte dabei sein, wenn sich 5000 Euro binnen weniger Tage in 10 000 verwandelten. Am 10. März stand der Nemax 50 bei 9694 Punkten. Damals, als die Party am schönsten war, hätte man gehen sollen: Es war das Allzeithoch.
Pünktlich zu ihrem dritten Geburtstag Anfang März begann die Erfolgsstory Neuer Markt an ihrem eigenen Erfolg zu ersticken. Zuerst war nur von "Schwächezeichen", Gewinnmitnahmen und "geringer Kaufneigung" die Rede. Mitte April rutschte der Nemax 50 im Schlepptau der schwachen amerikanischen Technologiebörse Nasdaq unter 7000 Punkte. Alle warteten auf die ersehnte Sommerrallye. Doch statt ihr kamen die "Todeslisten" und mit ihnen die Erkenntnis, dass nicht jede Geschäftsidee im Internet den automatischen Erfolg garantierte. Firmen wie Gigabell, Fortunecity oder Cybernet galten als potentielle Pleitekandidaten. Firmen, die mit wenigen Millionen Euro Umsatz milliardenschwere Marktkapitalisierungen aufwiesen, wurden jetzt wieder argwöhnisch untersucht. Ernüchterung kehrte ein. Im Sommerloch verdorrte der Nemax 50 bis deutlich unter 6000 Punkte, alle hofften auf die Herbstrallye. Intershop stand damals noch über 80, Mobilcom bei knapp 110 Euro.
Dann trudeln die ersten Hiobsbotschaften ein: Gigabell steht vor der Pleite, bei Infomatec steht der Staatsanwalt vor der Tür, durchsucht die Firmenräume und ermittelt wegen mutmaßlichen (Kurs-)Betrugs und gefälschter Ad-hoc-Mitteilungen. Im September kommt es zu ersten Panikverkäufen, die den Blue-Chips-Index deutlich unter 5000 Punkte drücken. In den USA und Deutschland doppelt gelistete Indexschwergewichte wie Intershop und Broadvision leiden massiv unter Short-Verkäufen: Investoren verkaufen millionenstückweise Aktien, die sie (noch) gar nicht besitzen, lösen damit Anschlussverkäufe aus. Das Vertrauen in die Wachstumswerte ist endgültig zerrüttet, an den erhofften goldenen Oktober glaubt kaum noch jemand. Am 18. Oktober sackt der Nemax 50 unter die 4000 Punkte, wenn auch nur kurzzeitig.
Als das Wort "Crash" zum ersten Mal Mitte November fällt, liegt der Nemax nur noch marginal über der 3000-Punkte-Linie. Auch die fällt noch - und zwar massiv: Am 20. Dezember - auch die vorweihnachtliche Rallye ist ausgeblieben - crasht der Nemax 50 nochmal um knapp elf Prozent auf 2728 Punkte. Der Grund: Die US-Notenbank spricht von der Möglichkeit einer Rezession in den USA. Dass Notenbank-Chef Alan Greenspan gleichzeitig eine Lockerung der Zinszügel in Aussicht stellt, reicht da nicht mehr - manche hatten sich sogar eine sofortige Senkung erhofft. Gute Nachrichten werden ignoriert, schlechte zu Katastrophenszenarien aufgebauscht - ein Trend, der sich durch den gesamten Salami-Crash seit März zieht. Unter dem Strich hat der Nemax 50 bis Weihnachten mehr als 70 Prozent verloren. Auch der breite Markt (Nemax All Share), der mittlerweile mehr als 300 Unternehmen umfasst, büßte seit dem Rekordhoch mehr als zwei Drittel ein.
Zwar liegen im Jahresvergleich "nur" 31 der 50 Blue-Chips im Minus, die meisten dafür aber gewaltig. 19 Firmen haben 2000 mehr als die Hälfte ihres Kurswertes eingebüßt, davon 16 mehr als 60 Prozent, elf mehr als 70 Prozent und sechs sogar mehr als 80 Prozent, nämlich Fantastic, Edel, Carrier 1, Senator, Intertainment und seit Anfang Dezember auch der ehemalige Anlegerliebling und Dax-Kandidat EM.TV, der seine Umsatz- und Gewinnprognosen drastisch reduzieren und den Einstieg der Kirch-Gruppe in Kauf nehmen musste.
Im Nemax All Share crashten im abgelaufenen Jahr gar elf Werte um mehr als neun Zehntel. Traurige Spitzenreiter sind der Paderborner IT-Dienstleister Teamwork, der Anfang November die Eröffnung des Insolvenzverfahrens beantragen musste (minus 96 Prozent), und der - bisher - einzige Kriminalfall am Neuen Markt, Infomatec, mit minus 95 Prozent. Hunderttausende Anleger mussten in den letzten zwölf Monaten bitter Lehrgeld bezahlen.
Trotz aller Horrorverluste und Hiobsbotschaften: Wer auf einige wenige, "richtige" Aktien gesetzt hat, konnte selbst im Jahr 2000 am Neuen Markt gewaltige Gewinne einfahren. Vor allem Biotech-Werte, Logistik- und Umwelttitel zeigten teilweise sehr gute Kursentwicklungen. Jahresgewinner mit dem satten Plus von über 550 Prozent ist die Münchener Morphosys AG, die Antikörper-Bibliotheken "herstellt" und vom Kulmbacher Anlage-"Guru" Bernd Förtsch mehrfach mit dem nie erreichten Kursziel 1000 zum Kauf empfohlen wurde. Auf den Plätzen folgen - Neuemissionen nicht mitgerechnet - Rhein Biotech, D-Logistics, Entrium, Technotrans, Cor AG, Cybio, PC Spezialist, Comroad, Sanochemia und Qiagen mit jeweils mehr als 100 Prozent Jahresgewinn.
Auch bei den Börsen-Neulingen ist das Bild ähnlich: 147 Unternehmen haben - dem schwierigen Börsenjahr zum Trotz - den Schritt an den Neuen Markt gewagt. Gemessen am Emissionspreis liegen 46 davon bis heute im Plus, 101 jedoch zum Teil massiv im Minus. Gemessen am ersten Börsenkurs erwiesen sich sogar 115 Firmen bisher als Kapitalvernichter. Die Erfolgreichsten - Biodata, Umweltkontor, Thiel Logistik oder Linos - haben das ursprüngliche Investment der Erstzeichner bisher mehr als verdreifacht, bei den Schlechtesten - Comtelco, Update.com, Intraware und Mediascape - sind vom eingesetzten Kapital inzwischen nicht einmal mehr zehn Prozent übrig.
Auch die Banken zeigten ein unterschiedlich glückliches Händchen. Wer Unternehmen zeichnete, die von den beiden aktivsten Emissionsbanken an den Neuen Markt begleitet wurden, der DG Bank und der Commerzbank, erzielte einen durchschnittlichen Zeichnungsgewinn (erste Notierung im Vergleich zum Emissionskurs) von 68 beziehungsweise 43 Prozent, hat eine statistische Auflistung des Internet-Finanzportals Onvista ergeben. Im Schnitt blieb davon bis jetzt nichts übrig: Gemessen am Emissionspreis liegen Börsengänge mit der DG Bank im Durchschnitt heute knapp 13 Prozent, Börsengänge der Commerzbank 24 Prozent im Minus. Bei der drittplazierten Sal. Oppenheim summieren sich die Verluste gar auf 36 Prozent. Eine positive Bilanz kann mit plus 14 Prozent von den größeren Konsortialbanken nur die Dresdner vorweisen.
Ob alte Hasen oder Neuemissionen: Für die Wachstumswerte war 2000 ein Horrorjahr. Die große Schwester Nasdaq muss wohl mit einem Jahresminus von fast 40 Prozent das schlechteste Jahr ihrer 29jährigen Geschichte verbuchen. Bleibt nur die Hoffnung: Jede Hausse wird aus einer Baisse geboren.
2000 © Tagesspiegel Online Dienste Verlag GmbH
gruß
proxi