Wie fast alle Weltunternehmen lässt auch Adidas viele seiner Produkte fast nur noch in China fertigen. Eine Reportage aus den größten Fabriken der Welt.
Horst Stapf (34) ist von Geburt Franke und von Beruf Schuhmacher. Wenn in seinem Leben alles normal verlaufen wäre, würde er diesem ehrbaren Handwerk heute irgendwo zwischen Cadolzburg und Lichtenfels nachgehen.
Aber das Leben spielt manchmal anders. Und so ist der fränkische Schuster heute Country Manager China für Adidas-Salomon . Seit 20 Jahren arbeitet er bei dem Sportartikelkonzern, seit acht Jahren in China. Er betreut und überwacht die chinesischen Fabriken, die für Adidas Schuhe, Textilien und Accessoires herstellen.
An diesem frühen Montagmorgen sitzt Stapf auf dem Beifahrersitz eines weißen Toyota-Kleinbusses, der durch den Süden Chinas braust. Hinter ihm ein beigefarbener Mercedes 250 mit den beiden Adidas-Vorständen Erich Stamminger (46) und Glenn Bennett (40).
Die Herren sind auf Routine-Trip. Stamminger, der Marketingvorstand, ist mindestens einmal im Jahr hier; Bennett, der Produktionschef, mehrmals; Stapf täglich.
Auf einem sechsspurigen Highway verlässt der Konvoi die Elf-Millionen-Metropole Guangzhou (ehemals Kanton), wo Stapf mit seiner 80-köpfigen Truppe sitzt. Die Hochhäuser verschwinden, es wird scheinbar ländlicher: Äcker, Wiesen, Lehmhütten.
Riesig: In der Yue-Yuen-Fabrik ist ein großer Teil für Adidas reserviert. Da staunt selbst Vorstand Stamminger
Doch dazwischen immer häufiger - wie Fremdkörper in Beton - drei-, vierstöckige Gebäudekomplexe. "Alles Fabriken", erklärt Stapf. Unzählige Kräne und Baustellen dokumentieren den offenbar unaufhaltsamen Fortschritt: Hier entstehen neue Produktionsstätten.
Zwischen Guangzhou und Hongkong herrscht inzwischen die größte Fabrikdichte der Welt. Hier entstehen günstig und zuverlässig Produkte für den globalen Verbraucher. Für praktisch jeden Konsumgüterhersteller ist Guangdong ein Muss - auch für Adidas.
China ist für den Sportartikelhersteller aus Herzogenaurach das wichtigste Fertigungsland. Bis Anfang der 90er Jahre produzierte das Unternehmen noch in Eigenregie, vorzugsweise in den Hochlohnländern Deutschland und Frankreich. US-Konkurrent und Newcomer Nike dagegen ließ von Anfang an in Fernost fertigen, ein enormer Kostenvorteil.
Erst als Adidas in eine schwere Krise stürzte, reagierten die Franken und schlossen einen Standort nach dem anderen. Heute beträgt der Anteil der Eigenfertigung weniger als ein Prozent. Die Produktion wurde verlagert: Textilien nach Südosteuropa; Schuhe nach Asien, vor allem nach Indonesien, Vietnam und China.
Weltweit lässt Adidas in 18 Fabriken Schuhe fertigen. Die größten stehen in der Provinz Guangdong, rund um die völlig unbekannte Sechs-Millionen-Stadt Dongguan.
Nach einer Stunde Fahrt kommen am Rande Dongguans die Yue-Yuen-Fabriken in Sicht. Ein sechsstöckiger Komplex reiht sich an den anderen, umrahmt von gepflegtem Rasen, umrankt von exotischem Gewächs. "Hier arbeiten und wohnen 100.000 Leute", sagt Stapf während der Fahrt durch das Fabriktor. Wachen in blauer Uniform salutieren. Fast wie bei einem Staatsbesuch. Über dem Eingang hängt ein rotes Band mit goldenen Lettern: "Welcome to Erich Stamminger and Glenn Bennett".
Fleißig: Rund 50 Handgriffe sind zur Herstellung eines Sportschuhs nötig - und die Nähmaschine "Golden Wheel"
Das Management hat sich in Reih und Glied zur Begrüßung aufgestellt. Es sind alles Taiwanesen. Die Yue-Yuen-Fabriken gehören der taiwanesischen Pou Chen Group, dem größten Sportschuhproduzenten der Welt. Wirtschaftlich hat sich die Vereinigung der Volksrepublik und der "Renegaten"-Insel längst vollzogen. Die Taiwanesen liefern Know-how und Kapital, die Festlandchinesen Land und Leute. Profiteure der Verbrüderung sind Konzerne wie Adidas, die 2002 bei Yue Yuen über 21 Millionen Paar Schuhe herstellen ließen.
Lächelnd gehen Bennett und Stamminger auf die taiwanesischen Fabrikherren zu. Man kennt sich. Man spricht Englisch; der Einfachheit halber tragen die Herren aus Taiwan angelsächsische Vornamen: Allen, Jerry, Jackson, Johnny, Terry.
Jerry Lin (43) klärt auf: Rund 30.000 Menschen arbeiten hier für Adidas, 40.000 für den Konkurrenten Nike, 30.000 für Lotto, Asics , Timberland und andere Schuhfirmen. "You cannot put all eggs in one basket", sagt Allen Lee (49), Vice President, in geschliffenem Englisch.
Aber alles sei strikt getrennt: "Every factory has its own management." Zwischen den Fabriken gäbe es im wahrsten Sinnes des Wortes Chinese Walls. So richtig glauben mag ihm das niemand, auch die Adidas-Leute nicht.
Akribisch: Mehrmals durchlaufen die Schuhe eine Qualitätskontrolle. Wenn sie Adidas nicht passen, werden sie zurückgeschickt
Allen führt durch die Fabrik. Überall hängen Parolen in Chinesisch und Englisch: "No lean, no efficiency". Oder: "Push lean and get a better life". Beim Schuhemachen ist nach wie vor vieles Handarbeit. In rund 50 Arbeitsschritten entsteht ein normaler Sportschuh. Deshalb wimmelt es in den Hallen von Menschen. Dicht an dicht stehen oder sitzen sie und schneiden, kleben, stanzen, nähen. Sie sind meist zwischen 18 und 25 Jahre alt. Mehr Frauen als Männer.
Die Arbeitszeit in den Yue-Yuen-Fabriken dauert von 7 bis 17 Uhr. Sechs Tage die Woche. Mittags gibt es eine Stunde Pause. Ab 11.30 Uhr marschieren Arbeiterkolonnen schichtweise zum Essenfassen. Danach gönnen sich die meisten ein kurzes Nickerchen am Arbeitsplatz.
Rund 150 Dollar bekommen die Chinesen als Monatslohn. Einmal im Jahr gibt es Heimaturlaub. Die Arbeiter hausen zu sechst und noch mehr in einem Zimmer. Frühkapitalistische Zustände im Spätsozialismus. Beutet Adidas hier arme Chinesen aus?
Eine Frage, die Bill Anderson (41) häufig hört und deren Beantwortung sein Job ist. Der Neuseeländer sitzt im Hongkonger Büro von Adidas-Salomon. Sein Titel lautet "Head of Social & Environmental Affairs Asia Pacific". Er steht einer 22-köpfigen Truppe vor, die permanent alle asiatischen Fabriken von Adidas inspiziert.
Zackig: Neun Stunden müssen die meist jungen Chinesen arbeiten. Dafür gibt es 150 Dollar im Monat und ein paar Tage Urlaub
Sechs von Andersons Leuten kümmern sich um die chinesischen Betriebe. Dort tauchen sie im Schnitt alle drei Monate auf - angemeldet. "Wir sind keine Polizisten, die Hausdurchsuchungen machen", sagt der Chefkontrolleur. "Wir wollen zusammen mit dem Management Fortschritte für die Beschäftigten erzielen." Die Schritte hin zu besseren Arbeitsbedingungen sind klein, aber immerhin ein Anfang. Demokratisch gewählte "Betriebsräte" sind mittlerweile zugelassen.
Anderson ist überzeugt, dass Adidas in China Gutes tut. Ohne Adidas wären diese Chinesen arbeitslos. Zudem habe sich vieles in den vergangenen Jahren enorm verbessert. "Fahren Sie zu Apache. Das ist beeindruckend."
Natürlich hat Horst Stapf Apache auf seiner Besichtigungstour eingeplant. Am frühen Nachmittag erreichen die Manager Apache - vor den Toren von Guangzhou gelegen.
Apache ist der Vorzeigebetrieb. Eine Kantine fast auf Hotelniveau. Ein sattgrüner Sportplatz. Ein Supermarkt mit subventionierten Preisen für die 30.000 Beschäftigten.
Der Inhaber und Chef, der Taiwanese John, ist gläubiger Christ. Er führt das Adidas-Team ins Foyer. Dort beugt er sich voller Stolz über ein Modell der geplanten Fabrikerweiterung. Eine kleine Stadt entsteht hier: Fabriken, Wohnungen, Sportgelände, Supermärkte, Kinos und mittendrin eine Kirche.
Rund 25 Millionen Dollar kostet dieser Sozialstaat en miniature den Taiwanesen. Für John ist es ein riskantes Spiel. Apache produziert nur für Adidas. Im vergangenen Jahr waren es exakt 9.351.564 Paar Schuhe. Zwischen ihm und den Herzogenaurachern besteht - wie anderswo auch - lediglich ein Factory Agreement. Das ist kein Liefervertrag, auf den die Fabrikbesitzer längerfristig bauen können. Sie bekommen ihre Aufträge von Saison zu Saison. Bezahlt wird pro produziertes Paar.
Was aber, wenn Adidas nicht mehr zufrieden ist?
Am nächsten Morgen um acht Uhr bei Evervan, eine eher kleine Fabrik mit 7500 Beschäftigten, die auf Golf- und Adventure-Sportschuhe spezialisiert ist. Die Adidas-Delegation steigt etwas müde die Treppe zum Konferenzraum hoch. Plötzlich schallt es aus einem Dutzend Frauenmündern: "Welcome to Evervan." Hübsche Chinesinnen beglücken die Gäste mit einem angedeuteten Wangenküsschen. Es gibt Geschenke. Evervan-Chef James wuselt freudig erregt um die Adidas-Manager herum.
Die ungewohnte Begrüßungszeremonie ist wohl ein Akt der Wiedergutmachung. Vor zwei Jahren gab es bei Evervan massive Qualitätsprobleme. Adidas akzeptierte die Ware nicht. Das taiwanesische Management wurde ausgetauscht.
Um die Qualität zu sichern, sprich das lokale Management zu überwachen, hat Adidas hier wie auch in anderen Betrieben Aufpasser installiert. Bei Evervan sitzen 20 Mann. Ihr Chef heißt Michael Nagel (38). Er arbeitet als Verbindungsmann zum Mutterhaus. Nagel ist dafür verantwortlich, dass die Ware in guter Qualität rechtzeitig in die weltweit verstreuten Adidas-Lager gelangt. Wenn nicht, bekommt er Prügel aus Herzogenaurach. Und er reicht die Prügel weiter.
Showroom: China-Chef Stapf (M.) beim Begutachten der Kollektion
"Aber eigentlich sitzen wir alle in einem Boot - wir von Adidas und die Fabrikanten", sagt Oberaufseher Horst Stapf am Ende der Tour.
So hocken sie am Abschlussabend alle einträchtig zusammen - die Fabrikanten, die Aufpasser und die Adidas-Vorstände. In einem schicken Restaurant am Perlfluss genießen sie allerlei Schweinereien der kantonesischen Küche. Flaschen französischen Rotweins kreisen auf den drei runden Tischen. Die taiwanesischen Bosse stehen im Fünf-Minuten-Takt auf, heben die Gläser und rufen: "Ganbei!" ("Prost").
Glenn und Erich halten kurze Reden. Glenn lobt die "Passion" der Fabrikanten, Erich verkündet: "Wir wollen die weltgrößte Sportmarke werden." Beifall. "Ganbei"-Rufe. Ende der Veranstaltung. Vor dem Restaurant warten die Limousinen.
Nur Horst, der fränkische Schuster, verschwindet zu Fuß im nächtlichen Kanton. Er hat es nicht weit nach Hause.
Südchinas Boom-Delta
Landstrich mit der größten Fabrikdichte der Welt
Vor rund zehn Jahren lächelten noch viele über Gordon Wu. Damals ließ der steinreiche Hongkonger Tycoon einen sechsspurigen Highway von der Grenze Hongkongs bis ins 130 Kilometer entfernte Guangzhou (ehemals Kanton) bauen. Wer soll denn da fahren und Maut bezahlen, feixten die Zweifler.
Heute ist die Straße so voll wie eine Autobahn im Ruhrgebiet. Dicht an dicht drängeln sich Lkw mit bunten Containern global operierender Speditionen. Sie transportieren Waren aus dem Perlfluss-Delta in den Hongkonger Hafen. Von dort wird die Fracht in alle Welt verschifft.
Das Perlfluss-Delta - das Hinterland von Hongkong - ist der Landstrich mit der größten Fabrikdichte der Welt. Längst werden dort mehr als nur billige Konsumgüter hergestellt.
Die Computerindustrie ist von diesem Standort inzwischen völlig abhängig. Rund 95 Prozent aller Komponenten für Rechner kommen zum Beispiel aus Dongguan, einst ein Bauerndorf, heute eine Sechs-Millionen-Stadt. Sie ist dabei, die einstige Vorzeigemetropole Shenzhen zu überholen.
In Shenzhen geben IT-Firmen den Ton an. Anders als im ausländisch geprägten Dongguan wachsen dort chinesische Unternehmen heran, die die Welt erobern wollen. Die Hightechriesen Huawei, ZTE und Konka sind Unternehmen, die man sich merken sollte.
Der westliche Teil des Deltas ist logistisch noch benachteiligt. Aber nicht mehr lange: Bald soll mit dem Bau einer 29 Kilometer messenden Brücke zwischen der Westbank und Hongkong begonnen werden. Diesmal lächelt niemand.