»Wir sitzen hier mit der Band im Kleiderschrank ...«
Vor 25 Jahren debütierte der »Rockpalast« im deutschen Fernsehen. Zwei Veteranen erinnern sich an Gitarrenhelden und durchwachte Nächte
Niemals würde Rudi Gerlach sich damit brüsten, dass Rory Gallagher sein Freund war. Obwohl sie gemeinsam gesoffen und Gitarre gespielt haben, in einer Hotelhalle nach dem Konzert war's, auf dem kleinen Kofferverstärker, den Gerlach damals immer dabei hatte. Er, der Kameramann, musikalisch allenfalls durchschnittlich begabt, durfte mit dem weltberühmten Gitarrenhelden rocken. Aber Rudi Gerlach ist kein Wichtigtuer, der angibt mit den Namen der vielen Rockstars, die er in zweieinhalb Jahrzehnten kennen gelernt hat. Seine kleinen Geschichten und Begebenheiten kommen geradewegs aus dem Reich der Melancholie.
Einmal zum Beispiel rief Gallagher spätabends an, aber Gerlach hatte gerade keine Zeit. Als er kurz darauf zurückrief, hörte er den Mann am anderen Ende der Leitung sagen: »Hey Rudi, du hast mir gerade das Leben gerettet.« Der Musiker war kurz davor, sich aus dem Hotelfenster im 14. Stock zu stürzen. Das Klingeln des Telefons hatte ihn noch einmal davon abgehalten.
Zu jener Zeit war der irische Ausnahmegitarrist nur noch ein Schatten des Genies früherer Tage. Depressiv und süchtig nach Schnaps wie so viele Rock 'n' Roller, dämmerte Gallagher in den Hotelzimmern dahin. Gerlach hat ihn dort einmal besucht. Ein Karton mit vielen Medikamenten stand auf dem Nachttisch. Pillen, die Gallagher halfen, damit er nicht so viel Alkohol trank. Und andere Pillen, die ihm halfen, wenn er trotzdem viel getrunken hatte. Rudi Gerlach gehörte zu den ganz wenigen, die da noch Kontakt zu ihm hatten. Gallagher und Gerlach. Rory und Rudi. Vielleicht waren sie doch Freunde.
Kennen gelernt hatten sie sich fast 20 Jahre zuvor, Mitte der Siebziger. Gallagher war von der Fachpresse zum weltbesten Rockgitarristen ausgerufen worden, Gerlach stand, damals wie heute, als Kameramann in Diensten des Westdeutschen Rundfunks. Eine revolutionäre Fernsehidee hatte die beiden zusammengeführt: die Rockpalast-Nacht. Rockmusik im TV, eine ganze Nacht lang live aus der Essener Grugahalle, per Eurovision in ein gutes Dutzend Länder übertragen. Und dazu gleichzeitig in sattem Sound aus dem Radio. Zum Mitschneiden.
Vor 25 Jahren, in der Nacht vom 23. auf den 24. Juli 1977, hatte die Rockpalast-Nacht Premiere. Rory Gallagher kam mit seinen Begleitmusikern als erster von drei Rockakten auf die Bühne und jagte los, auf seiner alten Stratocaster, von der schon der Lack abblätterte. Unten an der Bühne, genau vor ihm, nicht mal durch ein Absperrgitter vom wogenden Publikum getrennt, stand Rudi Gerlach, mit Panzerkopfhörern bewehrt, hinter seiner riesigen Kamera und starrte gebannt auf Gallaghers Finger, die so rasend schnell und traumhaft sicher über die Saiten huschten.
Zu den Dire Straits gab's Rotwein aus Plastikkanistern
»Ich bin halt ein altes Rockschwein«, sagt Rudi Gerlach heute, »ich wollt' mir abgucken, wie der das macht.« Er selbst ist Gitarrist für den Hausgebrauch, nicht der filigrane Saitenartist, sondern der Mann für die kantigen, schnörkellosen Riffs à la Keith Richards, sein großes Idol. »Was hältste davon, mit der Kamera beim Solo groß auf die Hände zu halten?«, fragte Gerlach damals den Regisseur. Wie viele Nachwuchsgitarristen müssten ihm für diese Idee dankbar sein, weil sie sich so die Riffs und Soli von den Stars abschauen konnten. Gerlach hat es ja selbst so gemacht. Bei Mark Knopfler von den Dire Straits notierte er sich sogar, auf welcher Position die Klangregler am Verstärker standen.
Wahrscheinlich war Rudi Gerlach damals der einzige WDR-Kameramann, der etwas von Rockmusik verstand. Zu einem Kollegen sagt er vor der Übertragung: »Kannste die Bassgitarre übernehmen?« Der Mann sah ihn erstaunt an und fragte zurück: »Was ist 'ne Bassgitarre?«
In jener Julinacht ahnte kaum jemand, dass diese Sendung einmal Kultstatus erlangen würde. Niemand kann schätzen, wie viele der heute 40- bis 45-Jährigen durch die Rockpalast-Nächte musikalisch sozialisiert wurden. Jene, die von weither zur Grugahalle pilgerten mit billigem Rotwein in Fünfliterplastikkanistern, sind mit der Institution Rocknacht erwachsen geworden. Der immobilere Teil der Fangemeinde blieb daheim, feierte Rocknacht-Feten, bis es hell wurde. Oder bis das Bier leer war. Man traf sich in Partykellern vorm Schwarzweißfernseher und wartete darauf, dass Moderator Albrecht Metzger auf der Bühne erschien, mit irrem Blick in das Blendwerk der Scheinwerfer starrte und ausrief: »Ladies and Gentlemen, German Television proudly presents ...« Genau genommen sagte er »Dschöhmen« und »prautli«. Aber auch das gehörte dazu.
Fast alle, die in der Szene etwas galten und nicht allzu avantgardistisch waren, spielten im Laufe der Jahre in Essen. The Who. The Kinks. Van Morrison. Patti Smith. Grateful Dead. The Police. Paul Butterfield. Bands wie ZZ Top wurden durch ihren Auftritt in der architektonischen Wüstenei der Grugahalle überhaupt erst bekannt in Europa. Einige Rockpalast-Größen sind inzwischen tot, gestorben am Rock 'n' Roll, an zu vielen Drogen und zu viel Alkohol; bei anderen wundert man sich, dass sie immer noch auf der Bühne stehen, trotz alledem.
Rudi, der Kameramann, war immer dabei. Sogar seinen Urlaub verschob er für den Rock 'n' Roll. Der Stromstoß wirkt bis heute nach. Er braucht sich nur zu erinnern an den Moment, wenn die Eurovisionsfanfare die Grugahalle erfüllte. »Guck mal«, sagt er und zieht den Ärmel seiner Jeanskutte hoch. Da jagt ihm eine Gänsehaut den Arm runter.
Grau und spärlich sind die Haare geworden; der größte Teil seiner Frisur, wenn man das so nennen kann, verschwindet unter einer blauen Cordmütze. Die Zigaretten, die er raucht, passen nicht. »Kim - für Männerhände viel zu schick« hieß in den Siebzigern mal der Werbeslogan. Roth-Händle filterlos wären besser.
Als Rudi Gerlach damals auf Rory Gallaghers Hände zoomte, hatte auch ein anderer Pionier seinen ersten Rocknacht-Job. Tom Bullmann, damals 21 Jahre alt, wohnte in einer Landkommune, legte in einer Disko Platten auf und jobbte für eine Essener Firma, die Kabel- und Boxenschlepper an Konzertveranstalter vermittelte. Solche Jungs wurden auch für die Rockpalast-Nacht gebraucht.
Bullmann wuchtete Lautsprecher und Verstärker herum, was gut zu seinem Nachnamen passte, und er wurde ganz nebenbei zu einer Art Besorger. Sicherung am Bassverstärker kaputt? Gitarrensaiten ausgegangen? Tom Bullmann rannte los. Er sprach passabel Englisch, immerhin, und verstand, was die Musiker meinten. Da hatte er den meisten WDR-Leuten, die sonst Volksmusikkonzerte übertrugen, einiges voraus. Nicht mal die Moderatoren waren sattelfest. Einem fiel beim Interview mit der Band Little Feat das englische Wort dressing room für »Garderobe« nicht ein, stattdessen sagte er einfach wardrobe: »Wir sitzen hier mit der Band im Kleiderschrank.« Nachdem Gitarrenvirtuose Lowell George in eben jener Garderobe eine atemberaubende Kostprobe im filigranen Spiel auf der Slidegitarre gegeben hatte, fragte der Interviewer schlicht: »Is that difficult?«
Vor der vierten Rocknacht wurde Tom Bullmann befördert - vom Kabelschlepper zum Rock-'n'-Roller-Kindermädchen. Er fuhr die Bands vom Flughafen zum Hotel, er sorgte dafür, dass sie pünktlich zu den Proben in der Halle auftauchten und die Minibars in den Hotelzimmern immer gut gefüllt waren. Er stand mit Tipps zur Seite, wenn hübsche Mädels verlangt wurden, und schlichtete Streit mit der Hotelleitung, wenn vereinbarungswidrig Blut aus Filetsteaks lief oder der Barkeeper nicht den richtigen Whiskey vorrätig hatte. Er war der Feuerwehrmann in Krisenmomenten. Letztlich steuerte sein Wirken all die Jahre immer wieder auf den einen Punkt zu: »Die müssen pünktlich auf der Bühne stehen, egal, in welchem Zustand.«
Manchmal wunderte sich Bullmann. Warum zückten die harten Jungs von ZZ Top ihre Polaroidkameras, als er mit ihnen im plüschigen Konferenzbus der Stadt Essen auf der A 52 über die Ruhrtalbrücke fuhr? Mein Gott, die Ruhrtalbrücke! Hatten Sie denn so was daheim in Texas nicht? Und warum stieg Dave Davies von den Kinks vorn in den Bus ein und sein Bruder Ray demonstrativ hinten? Offensichtlich waren die beiden sich tatsächlich so spinnefeind wie immer behauptet wurde. »Wer genau hinguckte, bekam man schon ein bisschen mit«, sagt Bullmann. »Wenn heute Neil Young oder Lenny Kravitz bei Rock am Ring spielen, sind die total abgeschottet. Da hast du keine Chance.«
Allerdings wahrt Tom Bullmann auch bewusst Distanz. Nie hat er nach Autogrammen gefragt, sich mit keinem der Stars gemein gemacht. »Ich bin kein Fan«, sagt Bullmann über Bullmann. Eine Servicekraft in Sachen Rock 'n' Roll. Es gibt auch kaum Fotos von ihm und den Rockidolen. Drei Stück vielleicht. Auf einem sitzt er mit Phil Lynott von Thin Lizzy auf einer Treppe. Bullmann, fast einen halben Meter auf Distanz, legt den Arm um Lynott, aber es sieht aus, als berühre er ihn gar nicht. Phil Lynott. Auch schon tot. Ein paarmal hieß es, he Tom, wenn du mal in Texas bist, ruf an, dann gehen wir ordentlich einen trinken. »Hab ich, Gott sei Dank, nie ausprobiert«, sagt Bullmann. »Du kennst die ja menschlich überhaupt nicht, hast keine Ahnung, was mit denen los ist und dass sie vielleicht mit Alkohol oder Drogen nicht umgehen können.«
Drogen. Ein heikles Thema. Einige Male kursierte das Gerücht, beim Rockpalast habe es eine Handkasse gegeben - für den Fall, dass ein Musiker kreativitätsfördernde Substanzen begehrte. »Vergiss das mal«, sagt Bullmann, »da haben wir ihnen gesagt, dass sie sich selbst kümmern müssen.« Andererseits - was konnte er tun, wenn sich jemand in der Garderobe eine Heroinspritze setzte? Und hätte Bullmann den Who-Gitarristen Pete Townshend daran hindern sollen, beim abschließenden Konzert von Grateful Dead noch einmal die Bühne zu entern und ein paar Takte mitzuspielen? Für Townshend, der damals in einer schlimmen Alkohol- und Drogenphase steckte, eine willkommene Gelegenheit, an Stoff zu kommen. Townshends eigenen Drogenvorrat hatte der Manager kurz zuvor das Klo hinabgespült. Auch zwei der Helden jener Nacht leben nicht mehr: Grateful-Dead-Chef Jerry Garcia starb 1995 nach langer Drogensucht, Who-Bassist John Entwistle erlag Ende Juni einem Herzschlag. Man trifft ständig auf Leichen.
Natürlich erwartet man von Tom Bullmann hübsche Geschichten in Serie. Eine Rock-'n'-Roll-Band auf Tour, wilde Nächte, demolierte Hotelzimmer, in jeder Stadt warten die Groupies, und die Drogen gehen einfach nie zu Ende. Es tue ihm ja leid, sagt Bullmann, aber damit könne er nicht dienen. Na ja, ein paar heiße Partynächte im Hotel habe es schon gegeben, und die eine oder andere Vitrine sei dabei zu Bruch gegangen. Aber keine Details, bitte. Bullmann hatte einen Job zu erledigen, der war heikel genug. Manche Stars sind ja Primadonnen, Van Morrison etwa, der Unnahbare, der drohte, beim ersten Blitzlicht die Bühne zu verlassen. Andere geraten außer Kontrolle. So wie Mitch Ryder in jener Vollmondnacht im Oktober 1979.
Als Mitch Ryder grölte, warfen die Fans mit Bierdosen
An den Auftritt des Rock-'n'-Roll-Straßenköters mit der fiebrigen Stimme erinnert sich wiederum Rudi Gerlach besonders gut. Weil über seinen Kopf hinweg aus Richtung der grölenden Menschenmenge Gegenstände auf die Bühne flogen. Die Situation in der Grugahalle drohte zu entgleisen.
Mitch Ryder hatte eine genialische Provokation zelebriert. Bevor er gegen drei Uhr früh die Bühne betrat, hatte er eine dreiviertel Flasche Jack-Daniel's-Whisky in sich hineinlaufen lassen. In schmerzgetränkten Songs schrie er seinen Blues heraus - und überschritt dabei jede Grenze. Mit dem Publikum, das zünftigen Geradeausrock wollte, trug er einen Krieg aus. Er provozierte, beschimpfte, verhöhnte es. Brutal zerstörte er die gut gemeinten Rockpalast-Schlachtgesänge: »He, ihr Pisser da oben auf der Balustrade, hört auf damit, das ist ja zum Kotzen.« Und als es immer ruhiger wurde, rief er, der selbst die Augen kaum noch offen halten konnte, in das Dunkel der Halle: »Schlaft ihr schon? Dann werden wir jetzt mal versuchen, die Leute rauszuekeln, die nicht bleiben wollen.« Die Angesprochenen bedankten sich, indem sie den Sänger mit leeren Bierbüchsen bewarfen. Musikalisch gehörte dieses albtraumhaft entrückte Konzert vielleicht zu den besten, die der Rockpalast je gesehen hat. Rudi Gerlach allerdings, die wütenden Fans im Nacken, hatte in diesem Moment nur einen Wunsch: Ryder möge ein Einsehen haben und endlich von der Bühne verschwinden.
Trotzdem hat Gerlach über all die Jahre Kontakt zu dem alten Rocker aus Detroit gehalten. Als Ryder kürzlich vor 200 Leuten im rustikalen Ambiente des Gasthofs Schlüter im sauerländischen Olsberg gastierte, sah man die Cordkappe des Kameramanns unter den Zuschauern. Gerlach ist auf eine traurige Art fasziniert, dass Ryder dazu verdammt ist, mit 56 immer noch durch die Säle und Clubs zu ziehen, ein Kleinunternehmer in Sachen Rock 'n' Roll, der mit seiner Begleitcombo wie eine Kolonne Staubsaugervertreter im Kleinbus über Land tingelt. Mitch Ryder gehört zu jenen Musikern, bei denen man staunt, dass sie noch leben. Er hat harte Jahre hinter sich, in denen er extrem ungesund lebte. Vielleicht verbindet ihn das mit Gerlach. Der trinkt keinen Tropfen Alkohol mehr.
Manchmal ist es Zeit, endgültig Abschied zu nehmen von lieb gewonnenen Erinnerungen. Vor zwei Jahren ging Rudi Gerlach noch einmal auf ein Konzert von Johnny Winter, gut 20 Jahre nach dem Auftritt des Gitarristen in der Rocknacht. Die ehemalige Blues-Legende, mittlerweile ein Wrack, verspielte sich ständig. Die Zuhörer gingen. »Es war furchtbar traurig, das mit anzusehen«, sagt Gerlach. Als er den damals schon fast blinden Johnny Winter vor dem Rockpalast-Auftritt im Hotelzimmer aufsuchte, öffnete der im langen weißen Nachthemd und mit Zottelpantoffeln an den Füßen. Gerlach dürfte zu den ganz wenigen Menschen gehören, die Winter so gesehen haben.
Mitte der Achtziger war das Rocknacht-Konzept verbraucht, der Zauber der frühen Jahre dahin. Top-Bands waren immer schwerer zu bekommen. Man ließ die Sendung sterben und wiederholte ab und an ein altes Konzert im Nachtprogramm.
Seit einigen Jahren gibt es wieder Rockpalast-Nächte. Oder besser: Veranstaltungen, die unter diesem Namen firmieren. Die Macher, Redakteur und Regisseur, sind die gleichen, die vor 25 Jahren die Ur-Rocknacht erfanden. Doch sie bedienen mit Rock am Ring und Osterrocknacht überwiegend den Musikgeschmack der heute 20-Jährigen. Kaum was dabei für alte Rockschweine.
Rudi Gerlach steht nur noch ab und zu hinter der Rockpalast-Kamera. Für ihn muss die Rockmusik nicht neu erfunden werden, er braucht keinen HipHop und keine stählernen Gitarrenwände.
Es sind die Charismatiker, die er vermisst. Musiker wie Rory Gallagher eben. Dessen Sturz aus dem Hotelfenster hatte Gerlach noch verhindern können, doch schon kurze Zeit später erreichte ihn die Nachricht vom Tode des Gitarristen. Gallagher hatte seine vom Alkohol zerstörte Leber durch eine neue ersetzen lassen und starb an Komplikationen nach der Transplantation. Er wurde 46 Jahre alt.
Die Zeit