Tourismuskrise

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Tourismuskrise Nassie

Tourismuskrise

 
#1
Auf der Erde ist es nicht mehr schön
Von Andreas Obst

22. Mai 2003 Nach dem 11. September 2001 war auch im Tourismus nichts mehr wie zuvor. Die Folgen der Terroranschläge beschäftigen die Industrie auch anderthalb Jahre später noch - eine Industrie, die sich als eigentliche Wirtschaftsweltmacht unserer Tage begreift. Sie steht für 67 Millionen Arbeitsplätze weltweit - mit den nachgeordneten Branchen sollen es sogar fast zweihundert Millionen sein - und erzeugt jährlich zehn Prozent des Weltwirtschaftsaufkommens: mehr als 350 Billionen amerikanische Dollar. So hat es der World Travel & Tourism Council (WTTC) errechnen lassen. In dieser Organisation haben sich 1990 auch als Gegenpol zur mehr bieder staatlich-bürokratisch gefügten World Tourism Organization (WTO) hundert führende Touristikunternehmen aus allen Sparten der Branche zusammengeschlossen. Es ist eine exklusive Runde, in die man Einlaß nur auf Einladung findet - als Präsident, Vorsitzender oder Geschäftsführer eines Unternehmens "mit weltweiter Reichweite", wie es in den Statuten heißt, oder doch wenigstens in Schlüsselposition in der jeweiligen Weltgegend.

Alle drei Jahren treffen sich die WTTC-Delegierten auf eigene Kosten zu einem Gipfel, in der vorigen Woche fand er zum dritten und wohl letzten Mal in der Feriensiedlung Vilamoura an der portugiesischen Algarve statt. Künftig sollen die Intervalle verkürzt werden, die nächste Versammlung ist bereits für Frühjahr 2004 in Doha vorgesehen, der Hauptstadt des Emirats Qatar, das mit Macht auf die touristische Weltkarte drängt. Dies ist eine eher ungewöhnliche Bewegung in Zeiten, da andere sich überall anklammern, wo es nur Halt geben könnte, um nicht von jener Scheibe zu stürzen, die im Selbstverständnis der Tourismusindustrie immer noch die Welt darstellt. Auf dieser Scheibe befand sich bislang der Kuchen des Welttourismus, appetitlich anzusehen, reich verziert, schwer und groß genug, um viele satt zu machen.

Die Grundfragen des Reisens

Davon kann nicht mehr die Rede sein - in der Folge des 11. September. Die Anschläge in Amerika waren Anstoß zur steilsten Talfahrt der Branche in den vergangenen zwanzig Jahren. So dröhnte der dumpfe Trommelwirbel gleich zu Beginn der Tagung in den mitleidlosen Analysen des Oxforder Forschungsinstituts Economic Forecasting, das im Auftrag des WTTC erstaunlichste Untersuchungen über die Grundfragen des Reisens anstellt. Draußen vor dem abgedunkelten Konferenzraum schien die Sonne hell und frühsommerlich freundlich, und in den Ringstraßen zum Meer begrüßten die Kongreßplakate und Vilamoura, eine Agglomeration sandfarbener Hotelkästen, kupierter Hecken, Kreisverkehrskonstruktionen und Bodenschwellen, einander mit der Versicherung, gemeinsam die Zukunft des Tourismus zu errichten.

Die Corporate Identity dieser Tagung, die sich selbst für die wichtigste ihrer Art hielt und keine Gelegenheit ausließ, dies zu betonen, war so zwingend wie eindeutig. Die Plakate zeigten den Abdruck eines nackten Fusses im Sand, im Hintergrund strahlte die alte Mutter Erde aus finsterer Nacht. Der Haupttagungssaal mit dem sinnigen Namen "Fenix" war wie ein Bühnenbild zu Peterchens Mondfahrt dekoriert. Nachtblau der Teppichboden und die Tischdecken, als metallische Anmutung einer Raketenabschußrampe das Rednerpult, kreisrund die Videoschirme auf beiden Seiten des Podiums. Wenn sie nicht die Köpfe der Diskutanten zeigten, waren darauf Ansichten aus dem Weltraum zu sehen. Und hinter alledem leuchtete der Sternenhimmel. Ein kleiner Schritt für den Menschen, ein riesiger für die Menschheit. Man erinnert sich. Es waren schöne, einfache Zeiten. Aufbruch allerorten.

Zur Sonne fliegt man nachts

Der sehnsüchtige Blick in Vilamoura über die Grenzen der Erde hinaus war nicht zufällig. In einem der Nebenseminare, in dem es um "neue Reisehorizonte" ging, erzählte der ehemalige Astronaut David Scott eine Anekdote aus den Tagen des Wettlaufs zum Mond. In einer Bar sitzen ein amerikanischer Raumfahrer und sein russischer Kollege. Nun, es sei ja wohl nicht zu leugnen, daß die Amerikaner den Mond als erste betreten werden, konzedierte der Kosmonaut nach einem kräftigen Schluck. Aber dafür würden die Russen die ersten auf der Sonne sein. Für eine Reise dorthin sei es doch viel zu heiß, gab der Amerikaner zu bedenken. Durchaus nicht, triumphierte sein Gegenüber: Die Russen würden nur nachts fliegen.

Viel weiter wagte sich der Kongreß freilich nicht hinaus in die grenzenlosen Weiten des Weltraums, hienieden gibt es genug zu tun. Womöglich bedurfte es tatsächlich nichts dringender als der Abschlußrede des just eingeflogenen Vorsitzenden von American Express, Ken Chenault, um den Dingen neuerlich ihren Platz zuzuweisen. Überrascht und erfreut sei er, sagte Chenault, in Vilamoura nicht etwa depressive Manager vorgefunden zu haben, sondern Entschlossenheit. Alsdann setzte er an zu einer flammenden Ode auf die Führungspersönlichkeit an sich, und wie gut es sei, in schweren Zeiten schwere Enscheidungen zu treffen. So müsse es auch sein, sonst verliere der Führer das Privileg zu führen. Das wollte erkennbar niemand der fast zweihundert Delegierten im Saal. Um bereit zu sein, hatten die meisten schon einmal kühn ihre Jacketts abgelegt.

Drei Plagen bestimmen, so Chenault, heute die unsichere Position der Tourismusindustrie: Da sei draußen in der Welt die Wirtschaftskrise, und da seien, gleichsam als gegenläufige Kraft, neue, schnelle Technologien. Sie machten den Kunden immer unabhängiger von vorgefertigten Angeboten einer Industrie, die im Grunde doch gerne noch wäre wie zu Zeiten Thomas Cooks, als man in ein Reisebüro ging, eine Reise buchte und reiste, während der Agent das Geld zählte. Doch die dritte und größte Herausforderung heute sei die Schieflage der Luftfahrt. Ohne Flugzeuge gäbe es keine moderne Freizeitindustrie. Also, forderte Chenault, müsse der Rest der Branche zusammenstehen und für die Fluglinien beten. Notfalls auch betteln. Lobbyismus sei vonnöten wie nie zuvor.

Die Blaupause der Zukunft

In einer anderen Plenarsitzung, in der es im weitesten Sinne um Verantwortung in der Tourismusindustrie ging, hatte zuvor schon der Journalist Tim Hindle vom Magazin "The Economist" genau diese Position klug und pointiert ad absurdum geführt: Im verläßlich regnerischen englischen Sommer würden sich die Hersteller von Rasenmähern ja auch nicht in der Downing Street versammeln und um Unterstützung flehen - mit welchem Recht also die Airlines? Zumal es doch so ist, daß in diesen trüben Zeiten die einzigen guten Nachrichten im Tourismus aus der Flugbranche kommen: allerdings von den Billig-Anbietern, die den Großen Zug um Zug das Geschäft wegnehmen.

Leitgedanke in Vilamoura war die Suche nach der "Blaupause für den Tourismus der Zukunft". Sozusagen jene Vorlage als Handlungsanweisung, die man nur zu befolgen habe, damit alles wieder gut wird, was jüngst schief lief: wegen des 11. Septembers und Sars, des Kriegs im Irak und des Terrorismus in der Welt, des hohen Ölpreises und des Zusammenbruchs der New Economy. Doch vielleicht war ja auch der eigentliche Grund für den Absturz die Lustlosigkeit, wenn nicht jähe Ermüdung einer Branche, in der es über Jahrzehnte steil bergauf ging - mit dem Ziel "Menschen glücklich zu machen", wie der Reiseveranstalter und Kongreßausrichter Andre Jordan weder ironisch noch sarkastisch, nicht einmal emphatisch bemerkte. So hat sich der Tourismus bislang wohl wirklich verstanden.

Wer wird gewinnen?

Es war das vielleicht erstaunlichste Erlebnis dieser Tagung, mitzuerleben, wie Menschen, denen man allein ihrer Position an der Spitze der Industrie wegen große Gedanken, wenn nicht Visionen zutraut, kleinmütig, ja banal argumentieren zu sehen. Nicht selten klangen die Worte wie das Pfeifen im finsteren Keller. Nicht minder eigenartig war, wie längst anderswo ausgetauschte Argumente vom Plenum gefeiert wurden, um in der nächsten Sitzung des atemlosen Programms unter grell klingenden Veranstaltungstiteln ("The Big Picture", "The CEO's Response", "Beyond The Current Crisis - The Road To Recovery") schon vergessen zu sein. Daß der Tourismus Entwicklungsländern auf die Beine helfe, andererseits selbst noch in den Kinderschuhen stecke und seiner Präpotenz zum Trotz gelegentlich Hilfe benötige, wurde hier ebenso betont wie der Umstand, daß in der Urlaubsindustrie die Zeit der Inhaltsvermittlung vorbei sei - angebrochen sei die Morgendämmerung des Preiskampfs. Dabei könnte es nur einen Gewinner geben: den Kunden. Das bedauerten alle im Saal mehr oder weniger offen.

Dieses eigentliche Dilemma der Reiseindustrie brachte Michael Frenzel auf den Punkt, Vorsitzender im unlängst dramatisch verschlankten Vorstand der TUI: Die Industrie erkenne ihr Publikum nicht mehr. Die Mittelschicht, einst Gros der Urlaubsreisenden, fasert an den Rändern aus, und die Ränder fressen sich immer weiter zum Zentrum vor. Bald werden sie es erreicht haben. Auf der einen Seite wuseln die Low-Budget-Reisenden, mit denen kaum Geld zu verdienen ist, auf der anderen hat es sich die neue Elite bequem gemacht. Sie ist so vermögend und anspruchsvoll, daß es einen Dienstleister schon verdrießlich stimmen kann. In jedem Fall sind die Margen für die Industrie an beiden Rändern kleiner geworden. Mit der Vermittlung von Reisen gibt es generell nicht mehr so viel zu verdienen wie früher. Ideen sind gefragt, womöglich sogar die "Neuerfindung des Tourismus" wie es einer der Diskutanten keck forderte. Er stammte nicht aus der Tourismusindustrie. Natürlich nicht.

Die Tagung hätte endlos weitergehen können. Sie endete abrupt mit der dritten Deklaration von Vilamoura. Darin steht, was in solchen Erklärungen üblicherweise zu lesen ist. Behutsam nachhaltig entwickelt, könne der Tourismus dazu beitragen, das Leben zu verbessern. Am Abend trafen sich die Delegierten am Strand, um tüchtig zu feiern, wie es Jean-Claude Baumgarten, der Präsident des WTTC, ausgerufen hatte. Berittene Polizisten schirmten die Tische und Stühle im Sand vor den wenigen Neugierigen draußen in der betonierten Ferienlandschaft ab. Ein Pianist klimperte hinter einem Gazeschleier wie unter einem überdimensionalen Mückenschutz, auf offenem Grill wurden Fisch und Fleisch gebraten. Allein, es pfiff ein erbarmungslos kalter Wind. Ihm war nicht zu entkommen. Die Party dauerte nicht lang.




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