NEW ECONOMY
Der Wohlfühl-Vollstrecker
Die Pleitewelle am Neuen Markt beschert Insolvenzverwaltern wie Volker Grub eine Fülle neuer Aufträge. Zurzeit beerdigt er die Träume des alten Börsenstars Brokat.
Ein Trost für die kommenden Pleitiers vom Neuen Markt: Das Ende ist gar nicht so schlimm, im Gegenteil. Zumindest wenn Volker Grub anruft und seinen Besuch ankündigt, wird es seit langem mal wieder richtig nett im Vorstand. Freundlich-warme Worte sind angesagt - jedenfalls beim ersten Termin.
Volker Grub
hat schon als 30-Jähriger die ersten Manager entlassen. 34 Jahre und über 200 Firmenpleiten später betreibt der Stuttgarter Anwalt mit seinem Partner Jobst Wellensiek eine der größten deutschen Insolvenzkanzleien.
Brokat Seit vorvergangenem Freitag verwaltet Grub den Software-Produzenten, der allein in diesem Jahr bislang 970 Millionen Euro Verluste angehäuft hat.
Bauknecht Nach dem Konkurs der Traditionsfirma verkaufte Grub 1982 Kernbereiche an Philips und brachte die sanierte Antriebstechnik vier Jahre später an die Börse.
Südmilch Deutschlands größten Molkereikonzern verkaufte der Insolvenzverwalter nach Holland - kurz zuvor war der damalige Südmilch-Chef nach Paraguay geflüchtet.
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"Lauter nette, junge Leute" will der Stuttgarter Insolvenzverwalter getroffen haben, als er am vorvergangenen Freitag seinen jüngsten Konkursfall, die New-Economy-Firma Brokat und deren Zentrale ("wunderschöne Räume") inspizierte - nur drei Stunden nachdem ihm das Amtsgericht den Auftrag dazu erteilt hatte. Einer der Vorstände hatte gar seine sechs Monate alten Zwillinge dabei. "Richtig nette Zwillinge", sagt der Wohlfühl-Vollstrecker. Auch deren Vater und dessen Kollegen hätten "sehr gute Umgangsformen".
Für Grub, 64, ist das durchaus ungewohnt, denn normalerweise begrüßen erboste Arbeiter mit Trillerpfeifen den Konkursanwalt beim Dienstantritt. Morddrohungen begleiten häufig sein Geschäft.
Seit 1967 wirkt der Schwabe als Bestatter vorrangig südwestdeutscher Traditionsfirmen. Wo es geht, saniert er, was zu retten ist: Bauknecht zum Beispiel oder Südmilch, Deutschlands größten Molkereibetrieb. Alte Industrien, mit Mühe am Leben erhalten.
Jetzt aber erwächst dem Stuttgarter Insolvenzverwalter und seinem Gewerbe ein neues Geschäftsfeld. Die gerade erst anrollende Pleitewelle am Neuen Markt beschert den Totengräbern der deutschen Volkswirtschaft einen alles übertreffenden Boom.
Einsichten in die verkehrte Wirtschaftswelt der New Economy gibt es für Grub gratis obendrauf: Da trat die Idee an die Stelle des Produkts. Das All-Time-High im Aktienkurs verdeckte den fehlenden Gewinn. Und statt Maschinen im Stuttgarter Gewerbepark stand die indische Software-Filiale in der Bilanz. Nur: Was ist das wert, wenn Gläubiger Geld wollen? Wo stehen die Werften, Fabriken und Fließbänder der New-Economy-Firmen, die sich nun verscherbeln ließen?
Industriekapitäne alten Schlags mögen ihre einst blühende Firma mit geplatzten Immobiliengeschäften oder faulen Krediten in Schieflage gebracht haben. Eines aber haben sie sicher nicht: gezielt Gewinne vermieden. Bei ihren jungen Kollegen von der New Economy hingegen sehen die Insolvenzverwalter zuverlässig nur eine Konstante: Verluste vom ersten bis zum letzten Tag.
Nur so war es möglich, dass Gigabell, im September 2000 der Pleiten-Pionier vom Neuen Markt, seine Emissionserlöse von 61,6 Millionen Mark in nur 13 Monaten verbrennen konnte. Auch Teamwork, Kabel New Media und Biodata, beim Börsengang vielfach überzeichnet, hatten ihre Millionen schnell verbraucht. Jetzt hat es den Kinowelt-Gründer Michael Kölmel erwischt. Der Filmrechtehändler blieb auf einem viel zu teuer eingekauften Hollywood-Paket ("Matrix", "E-Mail for you") sitzen: Die TV-Sender von Kirch und Bertelsmann, so glaubt Kölmel, hätten ihn gezielt boykottiert.
Die Wahrheit über die Pleitiers steht in den Bilanzen, Krankenakten eines oft selbst verschuldeten Verfalls, den die eilends kontaktierten Sanierer jetzt penibel nachzeichnen müssen.
Grub selbst lenkt seine Geschäfte aus einer ehemaligen urologischen Klinik auf der vornehmen Stuttgarter Karlshöhe. Das exklusive Hospital hat er umgebaut und mit seiner Kanzlei bezogen. "Wir sind das Krankenhaus der deutschen Wirtschaft", sagt er, und wie seine Vorgänger behandelt auch er auf seine Weise die dysfunktionalen Beschwerden meist älterer Patienten.
An Stelle eines Röntgenbildes allerdings hängt eine Deutschlandkarte an der Wand. Rund 900 Stecknadeln kennzeichnen darauf zum Beispiel das Problem des 71-jährigen Mittelständlers Burkhard Hellbach: Textilfilialen, deren Geschäftsräume er nie gemietet, sondern immer gekauft hat. Abstürzende Immobilienwerte vor allem im Osten brachen dem alten Mann finanziell das Genick.
Ein einfacher Fall. Geschäfte, Hosen, Hemden, Kunden. So was kann man verwerten, verkaufen, abhaken.
NEW ECONOMY
Ganz anders die netten, jungen Leute von Brokat. Ziemlich grün im Geschäft, und sogleich reichte ihnen die Deutschlandkarte nicht aus. Singapur, Tokio, liest Grub staunend seine Liste von Brokat-Dependancen vor. Dann London, Stockholm, Zürich, Wien. Wie kann man das noch steuern? Wer kontrolliert die Kollegen in Luxemburg, Budapest, Hongkong und New York? Wo verbucht man Madrid, München und Mumbai in der Bilanz?
Der "kometenhafte Aufstieg" ("Financial Times") des Software-Unternehmens hatte beim Börsengang im September 1998 begonnen. Für über zehn Milliarden Mark wurden die Brokat-Aktien in der Spitze gehandelt - bei Firmenumsätzen von 230 Millionen Mark und noch viel höheren Verlusten. Eine neue SAP wollten die jungen Programmierer aufbauen; beinahe hätten sie es geschafft.
Zahlreiche deutsche Banken kauften die Finanzsoftware der Stuttgarter, die im Siegesrausch wähnten, fortan den weltweiten Standard im E-Commerce zu setzen. Brokat, jubelte die "Wirtschaftswoche" 1999, das sei die "deutsche Erfolgsgeschichte schlechthin".
Heute senkt einer wie Grub die Stimme, wenn er erzählt, was Brokat allein für drei Beteiligungen in den USA bezahlt hat. Der Schwabe flüstert fast, so ungeheuerlich findet er die Summe: 843 Millionen Dollar. 1,7 Milliarden Mark für drei Firmen, die bislang fast nur durch Verluste aufgefallen sind.
"Wir haben", so erklärten die Ex-Manager ihrem gerichtlich bestellten Verwalter, "die Amis nur nach den gleichen Grundsätzen bewertet, an denen auch wir gemessen wurden."
Aufräumen in der New Economy, das ist für ihn nun zuallererst die Suche nach den Ursachen für ihren Zerfall. Da sind zunächst einmal die Gründer - junge Programmierer ohne Erfahrung im Wirtschaften, sagt Grub: "Die wussten nicht, wie hart man Geld verdienen, wie sorgfältig man rechnen muss." Eine Planung machen, Budgets aufstellen, regelmäßig mit einer Gewinn-und-Verlust-Rechnung das Ergebnis prüfen: alles Grundstoff vom Proseminar, was Grub in diesen Tagen seinen neuen Schützlingen vermitteln muss.
Und da sind auf der anderen Seite auch Aufsichtsräte und Aktionäre, Analysten und Journalisten. Sie alle drängten Brokat nach vorn, forderten Wachstum um jeden Preis, den schnellen Ausbau von Marktanteilen.
Das Abenteuer vom Neuen Markt bedeutet für jeden Insolvenzverwalter handfeste Probleme, denn so virtuell wie das Produkt, so wenig greifbar wie der Börsenruhm, so schwer zu fassen ist auch das vorläufige Ende von Leuten wie den Brokat-Chefs, die von den Wirtschaftsprüfern Schitag Ernst & Young einst als "Entrepreneure des Jahres 1999" ausgezeichnet wurden.
Es gibt keine Hausbank, Bankverbindlichkeiten bestehen nicht, und nicht einmal die Gläubiger sind Grub bislang offiziell bekannt. Stattdessen finanzierten Firmengründer Stefan Röver und seine Kollegen ihr laufendes Geschäft durch eine 125-Millionen-Euro-Anleihe, die sie mit 11,5 Prozent Zinsen zu bedienen hatten. Kaum gerieten sie damit in Verzug, sorgten die Anwälte der Investoren für ein schnelles Aus.
Das rasante Tempo beim Firmenausbau ist jetzt auch beim Aufräumen gefragt. Anders als bei Pleitefällen der Old Economy, wo Insolvenzverwalter oftmals über Jahre als Sanierer wirken, die Produktion gründlich restrukturieren und danach erst weiterverkaufen, geht es bei Brokat um wenige Wochen, ja Tage. Dauerte es zu lange, würden die besten Programmierer das Unternehmen schnell verlassen. Bereits in dieser Woche will Grub deshalb die ersten Firmenteile verkaufen.
In anderen Fällen drängt die Zeit nicht ganz so sehr - bei der Chemnitzer Strickmaschinen GmbH zum Beispiel. 150 Jahre lang lieferten die Sachsen ihre Maschinen in alle Welt, dann standen sie vor dem Aus. Am vergangenen Freitagabend feierten die Chemnitzer, umrahmt vom Hornquartett der Sächsischen Mozart-Gesellschaft, Geburtstag - und ihre Rettung: "Strickmaschinen aus Sachsen", sagte Grub auf dem Festakt, werde es auch in 150 Jahren noch geben.
Bei der Software von Brokat ist er weniger optimistisch.
FRANK HORNIG
Der Wohlfühl-Vollstrecker
Die Pleitewelle am Neuen Markt beschert Insolvenzverwaltern wie Volker Grub eine Fülle neuer Aufträge. Zurzeit beerdigt er die Träume des alten Börsenstars Brokat.
Ein Trost für die kommenden Pleitiers vom Neuen Markt: Das Ende ist gar nicht so schlimm, im Gegenteil. Zumindest wenn Volker Grub anruft und seinen Besuch ankündigt, wird es seit langem mal wieder richtig nett im Vorstand. Freundlich-warme Worte sind angesagt - jedenfalls beim ersten Termin.
Volker Grub
hat schon als 30-Jähriger die ersten Manager entlassen. 34 Jahre und über 200 Firmenpleiten später betreibt der Stuttgarter Anwalt mit seinem Partner Jobst Wellensiek eine der größten deutschen Insolvenzkanzleien.
Brokat Seit vorvergangenem Freitag verwaltet Grub den Software-Produzenten, der allein in diesem Jahr bislang 970 Millionen Euro Verluste angehäuft hat.
Bauknecht Nach dem Konkurs der Traditionsfirma verkaufte Grub 1982 Kernbereiche an Philips und brachte die sanierte Antriebstechnik vier Jahre später an die Börse.
Südmilch Deutschlands größten Molkereikonzern verkaufte der Insolvenzverwalter nach Holland - kurz zuvor war der damalige Südmilch-Chef nach Paraguay geflüchtet.
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"Lauter nette, junge Leute" will der Stuttgarter Insolvenzverwalter getroffen haben, als er am vorvergangenen Freitag seinen jüngsten Konkursfall, die New-Economy-Firma Brokat und deren Zentrale ("wunderschöne Räume") inspizierte - nur drei Stunden nachdem ihm das Amtsgericht den Auftrag dazu erteilt hatte. Einer der Vorstände hatte gar seine sechs Monate alten Zwillinge dabei. "Richtig nette Zwillinge", sagt der Wohlfühl-Vollstrecker. Auch deren Vater und dessen Kollegen hätten "sehr gute Umgangsformen".
Für Grub, 64, ist das durchaus ungewohnt, denn normalerweise begrüßen erboste Arbeiter mit Trillerpfeifen den Konkursanwalt beim Dienstantritt. Morddrohungen begleiten häufig sein Geschäft.
Seit 1967 wirkt der Schwabe als Bestatter vorrangig südwestdeutscher Traditionsfirmen. Wo es geht, saniert er, was zu retten ist: Bauknecht zum Beispiel oder Südmilch, Deutschlands größten Molkereibetrieb. Alte Industrien, mit Mühe am Leben erhalten.
Jetzt aber erwächst dem Stuttgarter Insolvenzverwalter und seinem Gewerbe ein neues Geschäftsfeld. Die gerade erst anrollende Pleitewelle am Neuen Markt beschert den Totengräbern der deutschen Volkswirtschaft einen alles übertreffenden Boom.
Einsichten in die verkehrte Wirtschaftswelt der New Economy gibt es für Grub gratis obendrauf: Da trat die Idee an die Stelle des Produkts. Das All-Time-High im Aktienkurs verdeckte den fehlenden Gewinn. Und statt Maschinen im Stuttgarter Gewerbepark stand die indische Software-Filiale in der Bilanz. Nur: Was ist das wert, wenn Gläubiger Geld wollen? Wo stehen die Werften, Fabriken und Fließbänder der New-Economy-Firmen, die sich nun verscherbeln ließen?
Industriekapitäne alten Schlags mögen ihre einst blühende Firma mit geplatzten Immobiliengeschäften oder faulen Krediten in Schieflage gebracht haben. Eines aber haben sie sicher nicht: gezielt Gewinne vermieden. Bei ihren jungen Kollegen von der New Economy hingegen sehen die Insolvenzverwalter zuverlässig nur eine Konstante: Verluste vom ersten bis zum letzten Tag.
Nur so war es möglich, dass Gigabell, im September 2000 der Pleiten-Pionier vom Neuen Markt, seine Emissionserlöse von 61,6 Millionen Mark in nur 13 Monaten verbrennen konnte. Auch Teamwork, Kabel New Media und Biodata, beim Börsengang vielfach überzeichnet, hatten ihre Millionen schnell verbraucht. Jetzt hat es den Kinowelt-Gründer Michael Kölmel erwischt. Der Filmrechtehändler blieb auf einem viel zu teuer eingekauften Hollywood-Paket ("Matrix", "E-Mail for you") sitzen: Die TV-Sender von Kirch und Bertelsmann, so glaubt Kölmel, hätten ihn gezielt boykottiert.
Die Wahrheit über die Pleitiers steht in den Bilanzen, Krankenakten eines oft selbst verschuldeten Verfalls, den die eilends kontaktierten Sanierer jetzt penibel nachzeichnen müssen.
Grub selbst lenkt seine Geschäfte aus einer ehemaligen urologischen Klinik auf der vornehmen Stuttgarter Karlshöhe. Das exklusive Hospital hat er umgebaut und mit seiner Kanzlei bezogen. "Wir sind das Krankenhaus der deutschen Wirtschaft", sagt er, und wie seine Vorgänger behandelt auch er auf seine Weise die dysfunktionalen Beschwerden meist älterer Patienten.
An Stelle eines Röntgenbildes allerdings hängt eine Deutschlandkarte an der Wand. Rund 900 Stecknadeln kennzeichnen darauf zum Beispiel das Problem des 71-jährigen Mittelständlers Burkhard Hellbach: Textilfilialen, deren Geschäftsräume er nie gemietet, sondern immer gekauft hat. Abstürzende Immobilienwerte vor allem im Osten brachen dem alten Mann finanziell das Genick.
Ein einfacher Fall. Geschäfte, Hosen, Hemden, Kunden. So was kann man verwerten, verkaufen, abhaken.
NEW ECONOMY
Ganz anders die netten, jungen Leute von Brokat. Ziemlich grün im Geschäft, und sogleich reichte ihnen die Deutschlandkarte nicht aus. Singapur, Tokio, liest Grub staunend seine Liste von Brokat-Dependancen vor. Dann London, Stockholm, Zürich, Wien. Wie kann man das noch steuern? Wer kontrolliert die Kollegen in Luxemburg, Budapest, Hongkong und New York? Wo verbucht man Madrid, München und Mumbai in der Bilanz?
Der "kometenhafte Aufstieg" ("Financial Times") des Software-Unternehmens hatte beim Börsengang im September 1998 begonnen. Für über zehn Milliarden Mark wurden die Brokat-Aktien in der Spitze gehandelt - bei Firmenumsätzen von 230 Millionen Mark und noch viel höheren Verlusten. Eine neue SAP wollten die jungen Programmierer aufbauen; beinahe hätten sie es geschafft.
Zahlreiche deutsche Banken kauften die Finanzsoftware der Stuttgarter, die im Siegesrausch wähnten, fortan den weltweiten Standard im E-Commerce zu setzen. Brokat, jubelte die "Wirtschaftswoche" 1999, das sei die "deutsche Erfolgsgeschichte schlechthin".
Heute senkt einer wie Grub die Stimme, wenn er erzählt, was Brokat allein für drei Beteiligungen in den USA bezahlt hat. Der Schwabe flüstert fast, so ungeheuerlich findet er die Summe: 843 Millionen Dollar. 1,7 Milliarden Mark für drei Firmen, die bislang fast nur durch Verluste aufgefallen sind.
"Wir haben", so erklärten die Ex-Manager ihrem gerichtlich bestellten Verwalter, "die Amis nur nach den gleichen Grundsätzen bewertet, an denen auch wir gemessen wurden."
Aufräumen in der New Economy, das ist für ihn nun zuallererst die Suche nach den Ursachen für ihren Zerfall. Da sind zunächst einmal die Gründer - junge Programmierer ohne Erfahrung im Wirtschaften, sagt Grub: "Die wussten nicht, wie hart man Geld verdienen, wie sorgfältig man rechnen muss." Eine Planung machen, Budgets aufstellen, regelmäßig mit einer Gewinn-und-Verlust-Rechnung das Ergebnis prüfen: alles Grundstoff vom Proseminar, was Grub in diesen Tagen seinen neuen Schützlingen vermitteln muss.
Und da sind auf der anderen Seite auch Aufsichtsräte und Aktionäre, Analysten und Journalisten. Sie alle drängten Brokat nach vorn, forderten Wachstum um jeden Preis, den schnellen Ausbau von Marktanteilen.
Das Abenteuer vom Neuen Markt bedeutet für jeden Insolvenzverwalter handfeste Probleme, denn so virtuell wie das Produkt, so wenig greifbar wie der Börsenruhm, so schwer zu fassen ist auch das vorläufige Ende von Leuten wie den Brokat-Chefs, die von den Wirtschaftsprüfern Schitag Ernst & Young einst als "Entrepreneure des Jahres 1999" ausgezeichnet wurden.
Es gibt keine Hausbank, Bankverbindlichkeiten bestehen nicht, und nicht einmal die Gläubiger sind Grub bislang offiziell bekannt. Stattdessen finanzierten Firmengründer Stefan Röver und seine Kollegen ihr laufendes Geschäft durch eine 125-Millionen-Euro-Anleihe, die sie mit 11,5 Prozent Zinsen zu bedienen hatten. Kaum gerieten sie damit in Verzug, sorgten die Anwälte der Investoren für ein schnelles Aus.
Das rasante Tempo beim Firmenausbau ist jetzt auch beim Aufräumen gefragt. Anders als bei Pleitefällen der Old Economy, wo Insolvenzverwalter oftmals über Jahre als Sanierer wirken, die Produktion gründlich restrukturieren und danach erst weiterverkaufen, geht es bei Brokat um wenige Wochen, ja Tage. Dauerte es zu lange, würden die besten Programmierer das Unternehmen schnell verlassen. Bereits in dieser Woche will Grub deshalb die ersten Firmenteile verkaufen.
In anderen Fällen drängt die Zeit nicht ganz so sehr - bei der Chemnitzer Strickmaschinen GmbH zum Beispiel. 150 Jahre lang lieferten die Sachsen ihre Maschinen in alle Welt, dann standen sie vor dem Aus. Am vergangenen Freitagabend feierten die Chemnitzer, umrahmt vom Hornquartett der Sächsischen Mozart-Gesellschaft, Geburtstag - und ihre Rettung: "Strickmaschinen aus Sachsen", sagte Grub auf dem Festakt, werde es auch in 150 Jahren noch geben.
Bei der Software von Brokat ist er weniger optimistisch.
FRANK HORNIG