Von Andreas Mink, New York
Die "Pornografisierung" der amerikanischen Unterhaltungskultur ärgert die puritanisch geprägten Moralhüter der Nation.
Zu den Bestsellern der Washingtoner Buchmesse gehören in diesen Herbst die intimen Memoiren "Diary of a Manhattan Call Girl" der Prostituierten Tracy Quan. Die Autorin nahm den Erfolg zum Anlass, öffentlich den Eintritt der Halbwelt ins amerikanische Establishment zu verkünden.
Quan liegt nicht falsch mit ihrer kessen These: Sex hat Konjunktur in den USA. Zumindest im Medien-Establishment findet sich die Neu-Entdeckung in bester Gesellschaft. Rotlichtmilieu und Unterhaltungsindustrie haben in vielen Vertriebskanälen zusammengefunden - sogar im notorisch prüden US-Fernsehen sind neuerdings Bilder zu sehen, die zumindest für die "New York Times" den Tatbestand der "Pornografie" erfüllen.
In den letzten Monaten sind bei großen US-Verlagen mehr als ein Dutzend von Romanen, Erinnerungsbänden und "How To"-Ratgebern erschienen, die sich in ungewohnt deutlichen Worten mit Sex-Themen und dem Porno-Milieu auseinandersetzt. Neben Quans "Tagebuch" verkaufen sich Lily Buranas "Strip City", Alexa Alberts Huren-Report "Brothel: Mustang Ranch and its Women" und J.T. LeRoys "Sarah" im Vorweihnachtsgeschäft wie Glühwein und Plätzchen.
Kult-Buch über Sex und Drogen
LeRoys Roman ist eine autobiografische Sex- und Horror-Story. Der Ich-Erzähler berichtet von seiner drogensüchtigen Mutter, die sich als Prostituierte durchschlägt. "Sarah" wird als Kult-Buch gehandelt und hat in Hollywood schon einen bittereren Streit zwischen Courtney Love und Angelina Jolie provoziert, die beide die Rolle der drogensüchtigen Hure spielen wollen.
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Zu sexy für die Amis? Supermodel Heidi Klum zeigt auf einer Modenschau in New York Unterwäsche der Marke Victoria’s Secret. (www.heidi-klum.de)
Dagegen nimmt sich Buranas Stripper-Saga fast zahm aus: Die Autorin stammt eigentlich nicht aus dem Rotlicht-Milieu, sondern ist aus wissenschaftlichen, feministischen und persönlichen Motiven ausgezogen, um monatelang in den Stripclubs Amerikas sichtbares Zeugnis ihrer Weiblichkeit abzulegen. Burana beruft sich auf eine Trendwende unter Amerikas Feministinnen, die in den 90er Jahren begannen, von "Stripper Power" zu reden. Damals, sagt sie, habe sie ihre Berufskleidung noch in schmuddeligen Sex-Shops oder über einen Spezial-Versand bezogen: Heute könne sich jede Hausfrau Reizwäsche im Einkaufszentrum nebenan besorgen. Bekanntester Anbieter heißer Dessous ist die Kette "Victoria’s Secret". Das Unternehmen wirbt mit Hochglanzprospekten, in denen sich scharenweise Super-Models räkeln. Im Internet ist die Marke mit einer stark frequentierten Website präsent. Jüngst war die neue Kollektion auf einer Gala-Schau zu sehen, die der große US-Sender ABC im Fernsehen übertrug. Die Quoten waren hoch, das Echo gemischt: Selbst die gemeinhin liberale "New York Times" fühlte sich zu einem wütenden Aufschrei provoziert. Das Traditionsblatt befürchtet den Einbruch von "Soft-Porno" in den beschützten Kreis der amerikanischen Familie und fragte besorgt, welches Frauenideal den Mädchen der Nation vor Augen geführt werde.
Softporno im TV
Die ABC-Show konnte auf einem TV-Markt reüssieren, auf dem der Radio- und Fernsehmoderator Howard Stern eine endlose Parade silikon-gepolsterter Porno-Darstellerinnen vorführt. Zeitgleich mit der "Victoria’s Secret"-Gala lief bei der Konkurrenz "Temptation Island II". Da setzen sich gut gebaute Paare - halb sinken sie hin, halb zieht sie’s nieder - der Versuchung durch lüsterne Singles aus: Ein Konzept, das wohl auf den biblischen Sündenfall zurückgeht.
Dass in den USA derzeit ein für europäische Beobachter nur schwer nachvollziehbares Spektakel um Sex und Lust getrieben wird, hat mit der puritanisch geprägten Moral ihrer Gesellschaft zu tun. Die offene Beschäftigung mit dem menschlichen Geschlechtstrieb gilt immer noch als verbotene Frucht. Ob in Pop-musik, Filmen oder TV-Produktionen - die Zensoren tun sich am schwersten, wenn es um Nacktheit und Geschlechtsverkehr geht.
Angeheizt wird der Streit um anstößige Inhalte durch Seiten im Internet, die Pornografie geradezu inflationär in die amerikanische Gesellschaft hineingetragen haben. Die Sex-Hausse hat aber auch mit einer Verschiebung des gesellschaftspolitischen Diskurses zu tun. In den letzten Jahren hat sich die Diskussion um das nationale Selbstverständnis von der Politik weg hin zu kulturellen Themen und damit auch zur Sexualität verschoben: Der nackte, erregte Körper und seine Sekrete sind das zentrale Tabu in der amerikanischen Gesellschaft.
Die Idee vom allgemein verbindlichen Wert des "Anstandes" definieren die meisten Amerikaner immer noch unter Ausblendung der Sexualität. Wer also gegen den gesellschaftlichen Status quo rebellieren will, findet mit neo-feministischen Formeln wie "Stripper-Power" ein ideales Instrument.