Analysten sehen weitere 20 bis 30 Insolvenzkandidaten am deutschen Wachstumssegment
Von Holger Zschäpitz
Frankfurt/Main - Ob Frittenbuden, Friseursalons oder Videotheken -fast alle Firmen arbeiten offenbar solider als die innovativen Unternehmen des Neuen Marktes. Die Pleitestatistiken sind wenig schmeichelhaft für das deutsche Wachstumssegment. Während nach Angaben der Wirtschaftsauskunftei Creditreform in Deutschland im vergangenen Jahr insgesamt 1,1 Prozent der Unternehmen pleite gingen, mussten am Neuen Markt fünf Mal mehr Firmen einen Insolvenzantrag stellen. Ganze 18 der ehemals 340 Neue-Markt-Gesellschaften oder 5,5 Prozent sprachen 2001 beim Konkursrichter vor, weil sie entweder zahlungsunfähig oder überschuldet waren.
Eine neuerliche spektakuläre Pleite rückte gestern diese Negativbilanz wieder in das Bewusstsein vieler Anleger. Das Telekommunikationsunternehmen Carrier1 beantragte die Einleitung eines Insolvenzverfahrens. Die Aktie halbierte sich daraufhin und zog den gesamten Markt mit in die Tiefe. Carrier1 ist in der relativ kurzen Historie des Neuen Marktes Pleitier Nummer 21. Vom einstigen Glanz des sieben Mrd. Euro schweren Unternehmens ist bei Carrier 1 lediglich ein Häufchen von acht Mio. Euro geblieben. "Die Reputation des Neuen Marktes hat einen weiteren Schlag erlitten", sagt Andreas Hürkamp, Stratege bei WestLB Panmure. Es dürfte zu weiteren Pleiten kommen. "Die Bereinigung des deutschen Wachstumssegmentes ist noch lange nicht abgeschlossen."
Tatsächlich rechnen Experten sogar noch mit einer Beschleunigung der Konkurs-Spirale am Neuen Markt. Viele Unternehmen werkeln auf finanziell dünnem Boden. Bis Jahresende sehen Analysten den Exodus von weiteren 20 bis 30 Unternehmen. Und sollte die Konjunktur nicht wie erhofft anziehen, könnte es sogar noch zu einem wesentlich größeren Massensterben kommen. Denn 2001 waren die Bilanzen bei 180 der insgesamt 320 Unternehmen zum Teil noch tiefrot. Zwar rechnen Analysten damit, dass Ende 2002 weitere 60 Unternehmen und Ende 2003 weitere 43 Firmen das rettende Ufer schwarzer Zahlen erreichen. Doch es wäre nicht das erste Mal, dass die Experten zu optimistisch in die Zukunft schauen.
Selbst wenn man den Zahlen der Analystenzunft glaubt, sieht es in einigen Branchen verheerend aus. So erwarten die Profis, dass in diesem Jahr gerade einmal ein Viertel der Internet-Unternehmen Gewinne schreiben wird. Ende 2003 soll dies dann immerhin bei 50 Prozent der Fall sein. Vielen Firmen dürfte aber vorher die Luft ausgehen. Nach den Analystenschätzungen gehören zu den schwächeren Gesellschaften im Sektor DCI, Cybernet, Mediascape, Blue C und Intershop. Ihnen wird selbst 2004 noch keine Ertragswende zugetraut. Zwar will kein Experte endgültig den Stab über einem der Unternehmen brechen. Doch seien diese Aktien höchstens etwas für Zockernaturen.
Verhalten fallen auch die Kommentare zu den Telekom-Unternehmen am Neuen Markt aus. "Hier dürften einige extreme Probleme bekommen", sagt Hürkamp. Nicht weniger brenzlig sieht es im IT- und Software-Sektor aus - etwa bei Heyde. Der IT-Dienstleister hat im vierten Quartal noch einmal sieben Mio. Euro verbrannt - Geld, dass das Unternehmen selbst nicht hat. Nur mit Rückendeckung der Banken ist das Überleben gesichert. Sollten die Kreditinstitute die Reißleine ziehen, bliebe den Bad Nauheimern wohl ebenfalls nur noch der Gang zum Konkursrichter. Krachen könnte es auch erneut im Mediensektor. Nach der Schieflage bei EM.TV und der spektakulären Pleite bei Kinowelt sehen die Profis noch etliche Wackelkandidaten.
Doch es gibt auch hochprofitable Unternehmen am Neuen Markt. Fündig werden Anleger vor allem in den Sektoren Industrie, Medizintechnik und Technologie. "Hier gibt es jetzt attraktive Kaufkandidaten", meint Hürkamp. Er zählt zu seinen Favoriten IPC, Grenke Leasing, Gericom, UMS, Qiagen, FJA und Funkwerk, denen er zweistellige Kursavancen auf Sicht von zwölf Monaten zutraut. Für den Gesamtmarkt sieht Hürkamp aber frühestens 2003 wieder deutliches Potenzial. "Erst dann dürfte der Neue Markt sein Negativimage abgeschüttelt haben."