SPIEGEL ONLINE - 13. Dezember 2001, 13:59
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Kampf gegen Extremismus
Milli Görüs im Visier
Das Verbot des "Kalifatsstaates" soll erst der Anfang im Kampf gegen den religiösen Fanatismus in Deutschland sein. Bundesinnenminister Otto Schily hat noch weitere Gruppierungen im Visier. Insgesamt sollen sich 60.000 ausländische Extremisten in Deutschland aufhalten.
Kaplan-Hauptquartier in Köln: Insgesamt werden 60.000 ausländische Extremisten in Deutschland vermutet
Berlin - Das Bundesinnenministerium beobachtet neben dem am Mittwoch verbotenen "Kalifatsstaat" zahlreiche weitere extremistische Bestrebungen von Ausländern. Teilweise hat die Behörde von Minister Otto Schily (SPD) bereits seit Jahren Organisationen im Blick, die die innere Sicherheit Deutschlands gefährden könnten.
Unter besonderer Beobachtung stehen "islamistische Gruppierungen aus dem arabischen und asiatischen Raum, die auch den Einsatz von Gewalt legitimieren", heißt es im jüngsten Verfassungsschutzbericht aus diesem Jahr.
Der Bericht listet unter anderem die türkische "Islamische Gemeinschaft Milli Görüs e.V." (IGMG) auf. Sie gilt als die größte islamistische Organisation im Bundesgebiet. Die 27.000 IGMG-Anhänger seien darum bemüht, Föderationen und Dachverbände von Muslimen zu dominieren und so ihren gesellschaftlichen Einfluss zu vergrößern. Durch ein breites Angebot an Betreuungs-, Schulungs- und Freizeitaktivitäten im religiösen und sozialen Bereich versuche die IGMG vor allem Jugendliche an sich zu binden.
Agitationen nehmen zu
Die linksextremen türkischen Organisationen "Revolutionäre Volksbefreiungspartei", "Marxistisch-Leninistische Kommunistische Partei" und "Türkische Kommunistische Partei" agitierten seit dem vergangenen Jahr mit zunehmender Intensität in Deutschland gegen Haftbedingungen politischer Gefangener in der Türkei. Im Herbst 2000 griffen ausländische Linksextremisten das Thema Rechtsradikalismus auf und machten die deutsche Regierung für Übergriffe auf Ausländer mitverantwortlich.
Auch der israelisch-palästinensische Konflikt hat oft zu gewalttätigen Demonstrationen von Anhängern palästinensischer und anderer arabischer Gruppen geführt. So bewarfen Chaoten eine Essener Synagoge mit Steinen und verübten im Oktober 2000 einen Brandanschlag auf ein Düsseldorfer Gebetshaus.
60.000 ausländische Extremisten
In Deutschland wird die Mitgliederzahl der rund 70 extremistischen Ausländerorganisationen auf knapp 60.000 Personen geschätzt. "Islamistische Organisationen stellen mit 31.450 Personen das größte extremistische Potenzial", heißt es bei den Verfassungsschützern. Die linksextremistische "Partizan" zählt beispielsweise über 1000 Mitglieder. Die Gewalttaten im Zusammenhang mit dem vereinsrechtlichen Betätigungsverbot der "Arbeiterpartei Kurdistans" (PKK) seien im vergangenen Jahr hingegen um 70 Prozent auf 116 zurückgegangen. Der vom in der Türkei inhaftierten PKK-Chef Abdullah Öcalan vorgegebene neue, gemäßigte Kurs wird weitgehend akzeptiert. Die Zahl der PKK-Mitglieder in Deutschland lag im Jahr 2000 bei 12.000.
Zu den extremistischen Ausländern zählen die Verfassungsschützer 40.200 Türken, 12.400 Kurden, 3300 Araber und 1000 Iraner. Der Bericht warnt darüber hinaus davor, dass zahlreiche "Organisationen eine Vielzahl von Sympathisanten und Unterstützern anlassbezogen mobilisieren können".
Antidemokratisch, antisemitisch
Auch in Zukunft werden Polizei und Verfassungsschutz die Aktivitäten von Mitgliedern des am Mittwoch verbotenen "Kalifatsstaats" beobachten. Nach der Verurteilung des Anführers Metin Kaplan in Düsseldorf war es vor über einem Jahr zu gewalttätigen Reaktionen seiner Anhänger gekommen. Der "Kalifatsstaat" setze seine "antidemokratische und antisemitische Agitation fort", heißt es im Verfassungsschutzbericht.