Ist zwar vom Dezember 2005, aber die Basis für die heutigen Gerüchte zu Crucell:
20. Dezember 2005, Neue Zürcher Zeitung
«Muskeln» für das Impfstoff-Geschäft
Hintergründe zur neusten Akquisitionstour von Novartis
Novartis interessiert sich für den Impfstoffhersteller Berna Biotech. Mit einer Akquisition würde das mit dem Kauf von Chiron begonnene Engagement im Vakzine-Bereich ausgeweitet. In einem Gespräch (das vor Offenlegung des Interesses an Berna geführt wurde) haben Novartis-Chef Daniel Vasella und der Leiter der Impfstoff-Division, Jörg Reinhardt, erklärt, was die Motive zum Ausbau der neuen Aktivitäten waren.
ai. Die am Sonntag verbreitete Meldung, Berna Biotech werde Novartis Einblick in die Bücher gewähren und so den Baslern die Möglichkeit zur Unterbreitung eines Kaufangebots geben, kam überraschend: Am 1. Dezember hatte der Berner Impfstoffhersteller noch angekündigt, der Verwaltungsrat habe einer Übernahme durch die niederländische Biotechfirma Crucell zugestimmt, und gemeinhin war angenommen worden, der Deal sei unter Dach und Fach. Wenn man indessen die neusten Vorgänge im Novartis-Konzern in Betracht zieht, zeigt sich, dass der Vorstoss alles andere als unerwartet kam. Mit der Anfang November getroffenen Vereinbarung zur (vollständigen) Übernahme des US-Biotechunternehmens Chiron haben die Basler im Impfstoffgeschäft Fuss gefasst. Diese Aktivität ist ihnen auch so wichtig, dass sie daraus eine neue eigenständige Division schaffen, die vierte nach den Segmenten Pharma, Generika und Consumer Health. Mit Hilfe von Akquisitionen soll der Impfstoff-Division nun zur nötigen «Muskelbildung» verholfen werden, wie Novartis-Chef Daniel Vasella in einem am Freitag geführten Gespräch erklärte. Und da es im Vakzine-Markt nur wenige Akquisitionsobjekte hat und die Bildung von «Muskelmasse» deshalb schwer ist, erstaunt es nicht, dass der Pharmakonzern sich Berna nicht kampflos wegschnappen lassen will.
Die Champions League im Visier
Der Wunsch von Novartis zu wachsen ist umso verständlicher, als die im Impfstoffgeschäft tätige Konkurrenz nicht gerade aus kleinen Fischen besteht. Zu den Mitbewerbern gehören Firmen wie Merck, GlaxoSmithKline, Wyeth und Sanofi, die zusammen etwa 80% des auf ein Volumen von rund 9,5 Mrd. $ geschätzten Weltmarkts kontrollieren. Chiron war - mit einem Umsatz von 510 Mio. $ im Jahr 2004 - bis anhin der fünftgrösste Vakzine-Hersteller weltweit und rangierte in den USA auf dem vierten Platz, in Europa auf dem dritten.
Um sich dem Wettbewerb mit den ganz Grossen stellen zu können, wird Novartis die von Chiron übernommenen Aktivitäten allerdings noch einer Rosskur unterziehen müssen. Bekanntlich hatte das Biotechunternehmen während einiger Zeit Probleme mit der Impfstoff-Produktion, mit der Folge, dass die US-Zulassungsbehörde FDA der Firma vorübergehend untersagte, den amerikanischen Markt zu beliefern. Das war eine böse Überraschung auch für das Basler Unternehmen, das während Jahren eine Beteiligung von über 40% an Chiron gehalten hatte und im Verwaltungsrat der Firma vertreten war, ohne über die operativen Verhältnisse im Bild gewesen zu sein. Mittlerweile hat Chiron eine Re-Inspektion durch die FDA mit Erfolg bestanden. Gleichwohl bleiben nach Darstellung von Jörg Reinhardt, dem langjährigen Entwicklungs-Chef von Novartis und Leiter der neuen Vakzine-Division, immer noch einige Hausaufgaben zu erledigen, bevor sich das in Chiron schlummernde Potenzial aktivieren lässt.
Weiter ausgespanntes Verteilnetz
Trotz kritischem Rückblick überwiegt bei Novartis der zuversichtliche Ausblick. Laut Vasella wird das Pharmaunternehmen dem Vakzine- Geschäft mehr Mittel zur Verfügung stellen, als dies Chiron getan hatte; die Amerikaner hatten den grössten Teil ihrer Ressourcen für die Bio- Pharmaka aufgewendet, die nebst den Impfstoffen und den Diagnostika eines von drei Geschäftsfeldern bildeten. Dazu werden noch Synergien in der Vermarktung zu realisieren sein; wie Reinhardt ausführte, liess die geographische Ausbreitung des Chiron-Verteilnetzes einiges zu wünschen übrig. So war das Unternehmen auf dem alten Kontinent nur gerade in Grossbritannien, Italien und Deutschland präsent. Auch fehlten auf seiner Karte Osteuropa, Asien und Lateinamerika. Mit Hilfe des globalen Verteilnetzes von Novartis dürften sich diese grossen geographischen Lücken weitgehend schliessen lassen.
Wie Reinhardt weiter ausführte, wird die Impfstoff-Produktion in den nächsten Jahren einer grundlegenden Umstellung unterzogen werden. Die bisherige, auf Eiern basierte Herstellung wird durch eine auf Zellen beruhende Fabrikation ersetzt, eine Technologie, in der Chiron nach Darstellung von Reinhardt führend ist. Dadurch dürfte die Produktivität und Qualität der Vakzine- Herstellung verbessert und dürften die - vorwiegend mit Eiern verbundenen - Produktionsprobleme von Chiron endgültig ausgemerzt werden.
Eine Alternative zum Pharmamarkt
Der Impfstoffmarkt bietet, zumindest punkto Wachstumsdynamik, eine durchaus valable Alternative zum Pharmamarkt, der in den letzten Jahren bekanntlich deutlich an Schwung verloren hat. So dürfte sich das Marktvolumen gemäss Branchenstudien bis 2009 mehr als verdoppeln und den Betrag von 20 Mrd. $ erreichen. Und auch einige von Chiron übernommene Impfstoffe können sich, was die Rasanz des Wachstums betrifft, mit Pharmaprodukten messen. So wiesen etwa die pädiatrischen Vakzine (die 39% des Chiron-Umsatzes ausmachen) zwischen 2001 und 2004 ein jährliches Umsatzwachstum von 15% auf, Reise- Impfstoffe (19% des Umsatzes) kamen auf 23% und Vakzine gegen Grippe (30% des Umsatzes) gar auf 27%. Nach Aussage von Reinhardt werden Mittel gegen Meningitis (die derzeit nur 5% des Umsatzes ausmachen) in Zukunft eine bedeutendere Rolle spielen.
Therapeutische Vakzine, die etwa im Kampf gegen Krebs eingesetzt werden, dürften inskünftig ebenfalls an Bedeutung gewinnen. Reinhardt glaubt jedoch nicht, dass bereits in diesem Jahrzehnt mit einem Durchbruch gerechnet werden kann. Immerhin ist Novartis gut positioniert, um in diesem experimentellen Gebiet mitwirken zu können; die Pharmaforschung, einschliesslich des Know-how in den Bereichen Immunologie und Virologie, in Kombination mit der anerkanntermassen hochwertigen Vakzine-Forschung von Chiron, dürfte gewichtige Vorteile bieten.
Die neue Impfstoff-Division, so versichert Reinhardt, wird nicht um die in jüngster Vergangenheit schwache Chiron herum aufgebaut werden; als Basis wird vielmehr das in der Vakzine- Technologie des Unternehmens steckende Potenzial dienen. Darauf wird man eine «Wachstums- Plattform» aufbauen und parallel dazu Ausschau halten nach möglichen Akquisitionen. Berna Biotech könnte, mit einem Impfstoffumsatz von 177 Mio. Fr. und einer Reihe gut eingeführter Produkte, genau ins «Muskelaufbau»-Programm von Novartis passen. Und Berna könnte ihrerseits von der modernen, auf Zellen basierten Produktionstechnologie von Chiron profitieren; diese Möglichkeit zur Hightech-Fabrikation war einer der Gründe gewesen, warum Berna auf das Crucell- Angebot eingegangen war.