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Börse im Tief: Die Anleger fürchten die ersten Bankenpleiten
Von Robert von Heusinger
Aktien sind endlich wieder fair bewertet. Das ist die gute Nachricht angesichts der nervenaufreibenden Kursverluste an den Börsen. Der Deutsche Aktienindex (Dax) ist weiter unter 3000 Punkte gefallen, das ist der Stand vom Spätherbst 1996. Doch wer jetzt zum selektiven Aktienkauf rät, macht es sich zu einfach. Hasardeure mögen so agieren, die Profis aber lauschen den Signalen, die die Kurse senden. Und diese verkünden Abscheuliches: Die Gefahr eines Kollapses des gesamten Finanzsystems, im Fachjargon systemisches Risiko genannt. Das ist die schlechte Nachricht.
Gerade die brutalen Kursverluste der vergangenen Wochen deuten auf ein Ende mit Schrecken hin: auf Zusammenbrüche von Banken und Versicherungen, die eine Kettenreaktion auslösen könnten.
Die Finanztitel sind am stärksten unter Druck geraten. Allein in den vergangenen zwei Wochen haben die Versicherer in Europa ein knappes Drittel an Wert verloren, die Banken fast 20 Prozent. Die Allianz notiert auf einem Zehnjahrestief, die Aktien von Commerzbank und HypoVereinsbank gar so tief wie zuletzt 1984, lange vor dem großen Crash von 1987. Das Handelsvolumen an der Börse sinkt fast täglich, kleine Aufträge verursachen bereits große Beben. Und die Reserven der Finanzhäuser schmelzen dahin. Allein die stillen Reserven der HypoVereinsbank sind nach Berechnungen der US-Investmentbank Merrill Lynch im laufenden Monat von 1,8 Milliarden auf 180 Millionen Euro geschrumpft. Je tiefer die Kurse rauschen, desto wahrscheinlicher wird die erste große Pleite eines Finanzriesen.
In dieser Situation hilft es wenig, dass europäische Aktien nur noch mit dem Faktor 1,1 über ihren Buchwerten gehandelt werden. Es macht auch kaum Mut, dass die Dividendenrendite aller europäischen Standardaktien erstmals seit 1988 höher liegt als der Zinssatz für Dreimonatsgeld. Und es tröstet nur bedingt, dass die Aktien im Vergleich zu den Anleihen so günstig bewertet sind wie seit fast 30 Jahren nicht mehr. Eigentlich müssten all diese Bewertungsrelationen die Einladung sein, auf Teufel komm raus zu investieren. Eigentlich. Doch kaum jemand nutzt den Moment.
Natürlich halten sich die Anleger auch aus Angst vor einem Irak-Krieg zurück. Aber die Zurückhaltung der Anleger erklärt nur, warum Aktien generell schlecht laufen, warum die Börsen weltweit am Ende des Jahres wohl das dritte Mal in Folge im Minus landen werden. Sie erklärt nicht, warum europäische Aktien weitaus mehr verlieren als amerikanische. Und warum die deutschen Aktien im internationalen Vergeich am allerschlechtesten dastehen.
Das hat zwei Ursachen. Zum einen haben Finanztitel in den europäischen Aktienindizes - und besonders im Dax - ein größeres Gewicht als im amerikanischen S&P 500. Erlebt die Branche ihr Waterloo, schlägt das in Europa stärker auf den Aktienindex durch. Zum anderen - und das ist der wichtigere Grund - ist es die Geldpolitik, die das schlechte Abschneiden europäischer Aktien verantwortet.
Während die amerikanische Notenbank Federal Reserve im vergangenen Jahr radikal die Zinsen gesenkt hat, zögert die Europäische Zentralbank (EZB) immer noch. Dabei brauchen die kriselnden Banken nichts dringender als eine hohe Differenz von kurz- und langfristigen Zinsen - so wie in den Vereinigten Staaten.
Es sind die kurzfristigen Zinsen, zu denen sich die Banken refinanzieren und welche die Zentralbanken maßgeblich beeinflussen können. In den USA betragen sie 1,75 Prozent. Die Zinsen für zehnjährige Papiere, zu denen die Banken in der Regel Geld verleihen, bringen 3,80 Prozent. Das sind satte zwei Prozentpunkte Marge. Anders gesagt: Die amerikanischen Finanzhäuser haben einen dicken Puffer, um faule Kredite und riskante Engagements auszugleichen.
In Euroland beträgt dieser Puffer nur einen Prozentpunkt - und das ist zu wenig, um die Megapleiten der Kirchs, Babcocks und Holzmanns auszuschwitzen; es ist zu wenig, um die Engagements der Finanzhäuser in Argentinien und Brasilien ohne Schäden durchzustehen. Die EZB lässt den Banken und Versicherern kaum Luft, um die Abschreibungen und Wertberichtigungen fauler Kredite zu bewältigen.
Das erklärt die höheren Verluste europäischer Aktien im Vergleich zu amerikanischen Papieren. Dass deutsche Aktien international das Schlusslicht bilden, hat einen ganz spezifischen Grund: Innerhalb der EU leidet bisher nur Deutschland an einer Bankenkrise, die das Kreditvolumen, in realen Größen gemessen, schrumpfen lässt.
Die deutsche Volkswirtschaft befindet sich in einer gefährlichen Abwärtsspirale: Unternehmen erhalten keine neuen Kredite, weil die Banken keine Reserven mehr haben und jedes weitere Risiko scheuen. Das führt zur Rekordzahl von voraussichtlich 40 000 Pleiten in diesem Jahr, zu steigender Arbeitslosigkeit und dazu, dass sich die deutschen Verbraucher noch mehr zurückhalten, als es ohnehin ihre Art ist.
Die Folge: weitere Pleiten von Einzelhändlern, Produzenten und in letzter Instanz auch Banken. Kein Land innerhalb der Europäischen Währungsunion, das eine niedrigere Inflation, geringere Kaufneigung und ein kleineres Wachstum vorweisen kann als Deutschland: Die Zinsen der EZB sind für Eurolands Banken zu hoch, für deutsche Banken sind sie tödlich.
Das ist der klassische Fall eines "asymmetrischen Schocks" in der Währungsunion: Ein einzelnes Land wird von einem wichtigen Wirtschaftssektor in die Krise gezogen und ist der eigenständigen Geldpolitik beraubt, die durch Zinssenkungen die Anpassungen lindern könnte.
Was tun, Deutschland? Bleibt nur die Fiskalpolitik. Doch da besteht keine Hoffnung, denn massive Ausgabenprogramme der Regierung sind ernsthaft nicht zu erwarten.
Deutschland auf dem Weg in die Depression? Jedenfalls beurteilen das die internationalen Investoren so. Sie haben ihren deutschen Aktienbesitz in den vergangenen zwei Jahren halbiert. Solange Notenbank und Regierung nur abwarten, sollten die Anleger das Gleiche tun.