Porträt. Der Weg des André Rettberg vom kleinen Buchhändler zum Pleitier. Wie der Libro-Chef nach den Sternen griff und dabei verglühte.
Von Michael Nikbakhsh
Weit oben wird die Luft gefährlich dünn. Der niedrige Sauerstoffgehalt beschleunigt den Puls, der Blutdruck steigt. Das Gehirn lässt einen merkwürdige Dinge sehen, man fällt in Trance, wird euphorisch und leichtsinnig. Irgendwann schnappt man über.
André Rettberg ist nie auf einen Berg gestiegen. Und doch war er weit oben. Sehr weit. Dort, wo nur die Härtesten hingelangen. Wo man keinen Widerspruch mehr dulden muss. Wo Macht, Ruhm und Geld warten. Dort, wo das grelle Scheinwerferlicht den Blick auf die Wirklichkeit verklärt.
André Rettberg war tatsächlich wer. Vorstandsvorsitzender der börsenotierten Medienhandelskette Libro AG, lieb Kind der Bussi-Bussi-Gesellschaft, der Kunstschaffenden, der Banken, der Börse, der Journalisten. Sie machten ihn zum "Manager des Jahres 1999", zum "Mann des Monats November 1999", zum "zweitbestangezogenen Manager 2000", zum "zweiunddreißigstwichtigsten Österreicher" überhaupt. Er war der "Bestseller" ("News"), der "Chancen-Manager" (profil), der "Robespierre des Wirtschaftsliberalismus" ("Die Welt"), der "Zirkusdirektor" ("Gewinn") oder schlicht "Mr. Libro" ("trend").
André Rettberg litt als Kind unter schwerem Asthma. Er hat als Erwachsener die dünne Höhenluft des Erfolgs inhaliert und ist daran beinahe zugrunde gegangen. Sein schütteres Haupthaar, berichten Vertraute, sei grau geworden, zu grau für einen 43-Jährigen. Er schlafe kaum mehr, wirke verstört, verängstigt, verloren. Eine schmerzhafte Schuppenflechte überziehe seine einst vor Entschlossenheit strotzenden Hände. "Er ist nervlich am Ende", sagt ein Freund, "sein Zustand ist beängstigend." Interviews sagt er erst ab, dann zu, dann wieder ab. "Ich", lässt er letztlich ausrichten, "schaffe das derzeit nicht."
André Rettberg muss mit der Verantwortung leben, als ehemaliger Vorstandschef der Libro AG für die viertgrößte Pleite der österreichischen Wirtschaftsgeschichte mitverantwortlich zu sein. Als er am 28. Juni 2001 seinen Schreibtisch räumen musste, war Libro mit Verbindlichkeiten von 4,17 Milliarden Schilling zahlungsunfähig. Banken und Lieferanten werden 60 Prozent ihrer Forderungen, 400 bis 500 der 3000 Libro-Mitarbeiter ihren Job verlieren. Die Libro-Aktie, vor einem Jahr noch die Perle des Wiener Aktienmarkts, ist heute kaum mehr als ein stumpfer Scherben - der Börsenwert des Unternehmens ist von ehedem rund neun Milliarden Schilling auf gerade einmal 400 Millionen gefallen. Rettberg, der noch im Vorjahr auf Pump in Libro-Aktien investiert hatte, steht auch finanziell vor dem Aus. Er hat bei der Creditanstalt Außenstände in der Größenordnung von annähernd 50 Millionen Schilling angehäuft - besichert mit seinen nun fast wertlosen Libro-Papieren.
Die Gläubigerbanken um die Bank Austria haben ein Sanierungsteam eingesetzt, das Libro wieder zu dem machen soll, was Libro schon einmal war: ein biederer Buch- und Schreibwarenhändler. Schluss mit hippen Botschaften à la "Tainment-Company", "Libro-Mania" und "Megastores". Kein desaströses Deutschland-Engagement mehr, keine kostspielige Internet-Tochter Lion.cc, keine prestigeträchtigen Amadeus-Buchläden. Stattdessen Buntstifte, Schulhefte, Radiergummis und Kochbücher.
Ende einer Karriere
Die Libro-Altaktionäre Unternehmens Invest AG, Deutsche Beteiligungs AG und Telekom Austria AG mussten ihre Aktienmehrheit auf Druck der Banken dem Wirtschaftsprüfer Gottwald Kranebitter übertragen. Er soll nach der Sanierung neue Partner für Libro finden (profil berichtete).
Mit der Milliardenpleite endet bis auf weiteres auch die Karriere des gebürtigen Holländers André Maarten Rettberg, der sich im zarten Alter von 27 Jahren anschickte, der Welt zu zeigen, was fliegen wirklich bedeutet.
Als er 1984 von Billa-Gründer Karl Wlaschek die Leitung des sanierungsbedürftigen Buchdiskonters Libro übertragen bekommt, hat Rettberg eine abgeschlossene Buchhändlerlehre und sechs Jahre Managementerfahrung im Billa-Konzern auf der Habenseite. Libro macht zu diesem Zeitpunkt annähernd so viel Verlust wie Umsatz: 100 Millionen Schilling. Wlaschek will Libro liquidieren. Rettberg, bis dahin für den Aufbau des Filialnetzes in Westösterreich zuständig, wittert die Chance seines Lebens. Sein Konzept, das schmale Libro-Sortiment auf Papier und Musik auszudehnen, gefällt dem eigenwilligen alten Herrn - wie auch das Selbstbewusstsein des jungen Rettberg. "Ich mach's", will er Wlaschek 1984 gesagt haben, "aber nur, wenn ich bei Libro die Nummer eins werde."
Rettberg wird die Nummer eins. Und sollte es bis zum bitteren Ende bleiben. Annähernd 17 Jahre.
Bis vor wenigen Monaten noch hätte sich die Bilanz seines Wirkens etwa so gelesen: 265 Libro-Filialen in Österreich, 19 in Deutschland, dazu 29 Amadeus-Buchläden; mit Lion.cc Marktführer im heimischen Online-Medienhandel, mit Libro-Entertainment und der Wiener Libro Music Hall als Konzertveranstalter nicht mehr wegzudenken; mit 3000 Mitarbeitern und knapp vier Milliarden Schilling Umsatz eines der größten Handelshäuser des Landes. "Rettberg hat aus Libro wirklich etwas gemacht", sagt Heinz Lederer, Vorstand der Internet-Tochter Lion.cc und bis heute einer seiner engsten Vertrauten. "Dafür gebührt ihm Respekt."
Rettberg, der Kreative; Rettberg, der Visionär, der Innovative, der Schillernde. Es gibt wenige, die sich seiner Aura entziehen konnten. Wenige, die erkannten, wie es wirklich um ihn stand. "Er war ein Gaukler, ein Blender", erinnert sich ein ehemaliger Libro-Manager, "er lebte in der Illusion, ihm könnte nichts passieren. Selbst als der Zug längst abgefahren war."
Rettberg hat, so viel steht mittlerweile fest, nahezu zwei Jahre hindurch alle einschlägigen Warnungen in den Wind geschlagen. Manager, die es wagten, seine aberwitzige Libro-Expansion infrage zu stellen, wurden im günstigeren Fall vor Zeugen gedemütigt, im ungünstigeren schlicht entfernt. Auszug aus Rettbergs Repertoire: "Sie haben ja keine Ahnung, wovon Sie reden"; "Wenn Sie wirklich dieser Meinung sind, werden wir über Ihren Vertrag reden müssen"; "Wenn Sie nichts riskieren wollen, sind Sie nicht der Richtige für diesen Job" und: "Hiermit verbiete ich Ihnen den Mund."
Das Unglück nimmt seinen Lauf im Frühsommer 1997. Kurz nachdem Karl Wlaschek seinen Billa-Konzern (mit Ausnahme von Libro) an die deutsche Rewe-Gruppe verkauft hat, reift in Rettberg eine gewagte Idee. Er will Libro über ein Management-Buy-out erwerben. Auf der Suche nach potenten Finanzierungspartnern wird er bei der börsenotierten Risikokapitalgesellschaft Unternehmens Invest AG (UIAG) und ihrem Vorstandschef Kurt Stiassny fündig. Einmal mehr kann sich Wlaschek für die Pläne seines Zöglings André begeistern. Ende 1997 geht Libro für 1,1 Milliarden Schilling an ein Konsortium um Rettberg, die UIAG und deren Hauptaktionär Deutsche Beteiligungs AG. Bereits damals ist klar: Libro soll an die Börse. Es müssen freilich zwei Jahre verstreichen, ehe es tatsächlich so weit ist: Am 11. November 1999 geht die Libro AG an den Wiener Aktienmarkt.
Rückblickend betrachtet steht dieser Tag gleichsam für den Anfang von Rettbergs Ende.
Vom Erfolg getrieben
Die Börsen sind 1999 weltweit vom letztlich letalen New-Economy-Virus befallen. Die fiebrigen Anleger kaufen alles, was schlecht und teuer ist - Hauptsache, die Prognosen sind aberwitzig. Libro kann als solider Diskonter damit vorerst nicht aufwarten. Rettberg, damals wie heute in kaufmännischen Fragen nur leidlich beschlagen, begeht daraufhin seinen wahrscheinlich schwersten Managementfehler: Er lässt sich im Vorfeld des Börsengangs von Investmentbankern und Beratern einreden, dass Libro keine "Story" und damit auch keine "Fantasie" habe. Die "Story" liest sich später so: Rettberg jagt Libro in die Übernahme der Buchhandelskette Amadeus, ins Internet-Abenteuer Lion.cc (die Endung "cc" ist bezeichnenderweise die Internet-Landeskennung der Cocos-Inseln im Indischen Ozean) und schließlich in die Expansion nach Deutschland. Weit mehr als eine Milliarde rinnt innerhalb weniger Monate aus dem Konzern. Aber Rettberg hat endlich seine "Story".
Ein Libro-Mann: "Ab dem Moment, wo Libro an der Börse notierte, war Rettberg ein anderer Mensch. Er war getrieben von den Investoren, der Öffentlichkeit, seinem Ehrgeiz. Irgendwann ist ihm das völlig über den Kopf gewachsen."
Die anlässlich des Börsenganges 1999 veröffentlichten Pläne lesen sich heute wie ein übler Scherz. Die Verkaufsfläche sollte innerhalb von fünf Jahren um 300 Prozent steigen, der Umsatz um 330 Prozent auf mehr als 14 Milliarden Schilling. Das Ergebnis vor Steuern wollte Rettberg sogar mehr als vervierfachen. Tatsache ist, dass Libro nach 1999 nie mehr schwarze Zahlen schreiben sollte.
Letale Ignoranz
Die manifesten Probleme aus der Expansion vermag Rettberg freilich lange Zeit zu kaschieren. Er sonnt sich im Licht der Öffentlichkeit, formuliert in Interviews immer kühnere Pläne, ficht "für den kleinen Mann" (Rettberg) einen aussichtslosen Kampf gegen die Buchpreisbindung. Tatsächlich ist er bereits im Frühjahr 2000 nicht mehr Herr der Lage. Allen Warnungen engster Mitarbeiter (siehe Kasten) zum Trotz treibt Rettberg die kostspielige Expansion voran, entwickelt zugleich bis dahin unbekannte Schrullen.
Bei Meetings sitzt er entgegen früheren Gewohnheiten ausschließlich am Kopfende des Tischs. Aufmüpfigen Mitarbeitern lässt er ausrichten, er und nur er sei "der Konzernherr". Sein Büro wird kurzerhand nach dem Feng-Shui-Prinzip umgebaut, vor seiner Telefondurchwahl steht plötzlich eine Acht, das Symbol für Geld. Dem drögen, aber überlebensnotwendigen Tagesgeschäft, in dem er groß geworden ist, widmet er kaum noch Aufmerksamkeit. Einkaufsleiter müssen Wochen auf Termine warten, Konzepte werden laufend über den Haufen geworfen, Budgets stocken.
Und wenn sich der Konzernherr doch einmal mit dem Tagesgeschäft befasst, dann sind seine Aktionen meist erratisch und skurril - etwa, wenn er im November des Vorjahres ein E-Mail an die Verwaltung schickt, wonach die "Beauftragung von Botendiensten aufgrund der Kostensituation ab sofort untersagt" werde, oder zum Weihnachtsgeschäft Snowboards mit Pepsi-Cola-Logo in die Libro-Filialen stellen lässt. Die Bretter liegen heute im Lager Guntramsdorf. Zusammen mit anderen von Rettberg persönlich georderten Ladenhütern. Der Bereich wird intern schlicht "Der Präsident - not for sale" genannt.
Noch im Frühjahr 2001, als in Medien bereits laut über einen drohenden Kollaps spekuliert wird, verbreitet er im eigenen Haus und gegenüber seinen Gläubigern die Mär von guten Geschäften. Ein Banker: "Mir hat er im März erzählt, dass das Geschäftsjahr 2000/2001 ein Plus von 150 Millionen Schilling bringen würde." Gewesen sind es minus 1,2 Milliarden.
Unter den Mitarbeitern der Libro-Zentrale Guntramsdorf hat sich André R. mit seinem immer autokratischeren Führungsstil und seiner nachgerade pathologischen Ignoranz nicht nur keine Freunde gemacht. Er muss sich zwischenzeitlich vielmehr Vergleiche mit mehr als zweifelhaften Figuren aus der Geschichte gefallen lassen. "Nero", rufen sie ihn verächtlich, "der, der uns die Bude abgefackelt hat."
Er hats probiert und verloren
wie uns Allen ist ihm die Internetblase
auf den Kopf gefallen
jo.