Die sozialen Verlierer
Der neue Armutsbericht des DGB
Mit dem im Rowohlt-Verlag veröffentlichten Armutsbericht der Hans-Böckler-Stiftung, des DGB und des Paritätischen Wohlfahrtsverbands* wurden aktuelle empirische Befunde zur Einkommensarmut in der Bundesrepublik vorgelegt. Im Folgenden stellt einer der Autoren, Prof. Dr. Walter Hanesch, ausgewählte Ergebnisse vor.
Ausgehend von dem im Verfassungsrecht verankerten sozialstaatlichen Gebot, dem Bürger eine Teilhabe an der gesellschaftlichen Normalität zu gewährleisten, haben wir in unseren Analysen einen relativen Armutsstandard zugrunde gelegt, bei dem das Einkommen in Relation zum durchschnittlichen Lebensstandard betrachtet wird. Als einkommensarm gelten danach Bürger, die mit ihrem bedarfgewichteten* Pro-Kopf-Einkommen unter der Armutsschwelle von 50 Prozent des durchschnittlich bedarfsgewichteten Pro-Kopf-Einkommens liegen. In beiden Fällen wird das verfügbare Haushaltseinkommen zugrunde gelegt. 1998 lebten im gesamten Bundesgebiet 9,1 Prozent der Bevölkerung oder rund jeder elfte Bundesbürger in Einkommensarmut.
Kein wirksamer Schutz
Dabei lag die Quote der Einkommensarmen im alten Bundesgebiet mit 8,7 Prozent etwas niedriger und in den neuen Bundesländern mit 10,7 Prozent etwas höher als der Bundesdurchschnitt.
Seit der Veröffentlichung des letzten Armutsberichts (1994) hat sich der Anteil der armen Bevölkerung in Ost wie in West nur wenig verändert. In Ost wie in West ist Armut dabei in der Regel kein Dauerzustand, da die meisten der Betroffenen eher kurzzeitig mit Armut konfrontiert sind.
Durch staatliche Abgaben und Transferleistungen wird zwar die Armutsquote um zwei Drittel vermindert; insofern trägt die staatliche Umverteilung (Sozialhilfe, Renten, Kinder-, Wohngeld etc.) entscheidend dazu bei, die Zahl der Armen zu begrenzen. Bis heute ist es jedoch nicht gelungen, die Armutsquote wesentlich zu verringern oder gar völlig zu beseitigen. Auch das — nach erfolgter staatlicher Umverteilung — letzte Netz der Sozialhilfe bietet letztlich keinen wirksamen Schutz, Einkommensarmut zu vermeiden. Zumal es viele Menschen gibt, die Sozialhilfe nicht in Anspruch nehmen.
Zu wenig Geld trotz Job
Einkommensarmut ist aber nicht allein ein Problem der Arbeitslosen: In der Bundesrepublik existiert das Problem der Armut trotz Erwerbstätigkeit in erheblich größerem Umfang, als dies vielfach angenommen wird. So liegt die Armutsquote der Personen, die in Erwerbstätigenhaushalten leben, nur geringfügig unter der allgemeinen Armutsquote (bei getrennter Betrachtung 1998 im alten Bundesgebiet 8,4 Prozent gegenüber 9,5 Prozent und in den neuen Bundesländern 3,2 Prozent gegenüber 4,6 Prozent). Dabei hängt das Armutsrisiko stark von der Höhe des individuellen Verdienstes ebenso wie von der Erwerbskonstellation im Haushalt ab. Probleme entstehen vor allem dann, wenn in Familien mit minderjährigen Kindern nur ein Partner mit niedrigem Einkommen erwerbstätig ist.
Arbeitslose und ihre Angehörigen gehören allerdings zu den Gruppen, die von Armut am meisten betroffen sind. Die Armutsquote in Arbeitslosenhaushalten liegt mehr als dreimal so hoch wie für die Gesamtbevölkerung — bei getrennter Betrachtung 1998 im alten Bundesgebiet 32,1 Prozent gegenüber 9,5 Prozent und in den neuen Bundesländern 11,2 Prozent gegenüber 4,6 Prozent. Die soziale Absicherung bei Arbeitslosigkeit reicht bei vielen Haushalten nicht aus, um einen Abstieg bis unter die Armutsgrenze zu verhindern. Die Gefährdung ist vor allem dann groß, wenn die Arbeitslosigkeit länger andauert und im gemeinsamen Haushalt kein Partner einer Erwerbstätigkeit nachgeht. Unsere Analysen lassen daher keineswegs den Schluss zu, dass es Arbeitslosen in der Bundesrepublik „zu gut“ geht.
Risikogruppen
Unsere Untersuchungen bestätigen die These, dass die Armut in der Bundesrepublik vor allem eine Armut von Familien ist. Mehrere Kinder zu versorgen wird deshalb zu einem finanziellen Problem, weil der Einkommensbedarf steigt, aber wegen der Kindererziehung eine Vollzeitstelle beider Elternteile nur schwer möglich ist. Durch den bestehenden Kinderlastenausgleich werden die zusätzlichen Ausgaben für Versorgung und Ausbildung in Familien mit Niedrigeinkommen nicht ausreichend kompensiert. Vor besonderen Schwierigkeiten, Beruf und Kindererziehung miteinander zu vereinbaren, stehen dabei allein Erziehende. Ihre Armutsquote beträgt etwa dreimal so viel wie die der Gesamtbevölkerung (1998 altes Bundesgebiet: 30,1 Prozent gegenüber 9,5 Prozent; neue Bundesländer: 13,4 Prozent gegenüber 4,6 Prozent). Für Paare mit mehreren Kindern erreicht sie ähnliche Größenordnung (altes Bundesgebiet: 24,7 Prozent; neue Bundesländer: 22,7 Prozent jeweils bei drei und mehr Kindern).
Schließlich sind ausländische wie auch deutsche Migranten in überdurchschnittlichem Umfang von Einkommensarmut betroffen: Die Armutsquoten der Ausländer wie auch der Spätaussiedler liegen zwei bis dreimal höher als die Quote der Gesamtbevölkerung (1998 altes Bundesgebiet: 20,4 Prozent bei ausländischen und 14,1 Prozent bei deutschen Migranten). Türkische Migranten, aber auch Asylbewerber und Flüchtlinge sind vom Armutsrisiko besonders bedroht. Migranten sind nicht nur in stärkerem Maße arm, sie verbleiben auch häufiger und länger in Armut.
Zwar signalisiert die relativ konstante Armuts- und Niedrigeinkommensquote keine gravierenden Veränderungstendenzen in den Einkommensrisiken der Bevölkerung der Bundesrepublik.
Keine Entwarnung
Dies darf jedoch kein Anlass zur Entwarnung sein. Zum einen ist der Umfang der Einkommensarmut in Deutschland auf einem Niveau, das — insbesondere im Vergleich zu den skandinavischen Ländern — keineswegs gering ist. Zum anderen wird in den letzten Jahren intensiv über einen Umbau des deutschen Sozialstaatsmodells diskutiert. Dessen Realisierung könnte zur Folge haben, dass künftig eine Armutsprävention durch sozialstaatliche Leistungen an Bedeutung verliert.
Betrachtet man die Praxis der Arbeits- und Sozialpolitik, ist der Stellenwert, den Armut in der Politik hierzulande erhält, nach wie vor gering. Ausgehend vom Problem der Einkommensarmut sind vor allem der Ausbau der Beschäftigungs- und Arbeitsmarktpolitik, die armutsfeste Ausgestaltung der Einkommenssicherung beim Lohnausfall sowie eine konzeptionelle Neudefinition der Ausgleichsleistungen für besondere „Lasten“ gefordert.
Um den strukturellen Ursachen der vor allem arbeitsmarktbedingten Verarmungsrisiken entgegenzuwirken, bedarf es neuer Arbeitszeitmodelle wie auch gezielter Qualifizierungs- und Beschäftigungsangebote für arbeitsmarktpolitische „Problemgruppen“. Weitere Maßnahmen reichen von der Schließung der Lücken im System der Sozialversicherung über eine stärker bedarfsorientierte Ausgestaltung steuerfinanzierter Transfers für besondere Bedarfslagen bis zu einer Neugestaltung der Sozialhilfe in Richtung einer bedarfsorientierten Grundsicherung.
Zur Überwindung „kinderbedingter Armut“ sollte für einen kinderorientierten Familienleistungsausgleich gesorgt und die Rahmenbedingungen für die Vereinbarkeit von Beruf und Familie verbessert werden. Eine bessere Einkommenslage von Migranten kann am ehesten durch deren Eingliederung in den ersten Arbeitsmarkt sowie durch den ungeteilten Zugang zu sozialen Rechten und Leistungen erfolgen.
Im europäischen Kontakt
Vor dem Hintergrund von Globalisierung und europäischer Integration darf auch das Armutsproblem nicht nur im nationalen Kontext betrachtet werden. Im europäischen Vergleich bewegen sich in der Bundesrepublik die Höhe der Armutsquote wie das Risiko, in Armut zu verbleiben, im mittleren Bereich. Die Übersicht zur Politik gegen arbeitsmarktbedingte Armut in den Mitgliedsländern der Europäischen Union hat gezeigt, dass in den betrachteten Ländern (Dänemark, Frankreich, Niederlande, Großbritannien) eine erhebliche Bandbreite an Lösungsmustern im Hinblick auf die Einkommenssicherung bei Arbeitslosigkeit wie auch in Bezug auf die (Wieder-)Eingliederung in den Arbeitsmarkt existiert. Vor allem das Konzept des „aktivierenden Sozialstaats“ bestimmt dort die Politik der Armutspolitik sehr nachhaltig.
Keineswegs muss das Konzept des europäischen Wohlfahrtsstaats, wie es bisher in den skandinavischen und kontinentaleuropäischen Ländern realisiert war, über den Haufen geworfen und durch das angelsächsische Modell des liberalen Sozialstaats ersetzt werden. Die Erfahrungen in Ländern wie Dänemark und den Niederlanden haben gezeigt, dass eine konsequente Politik zur Überwindung der Beschäftigungskrise nicht in Widerspruch treten muss zum Gebot einer Teilhabe an gesellschaftlicher Normalität für alle Bürger. Walter Hanesch
Literaturhinweis
Arbeiterwohlfahrt Bundesverband e. V. (Hrsg.):
Sozialbericht 2000
Gute Kindheit — schlechte Kindheit. Armut und
Zukunftschancen, Oktober 2000.
Bezug über: AWO Bundesverband-Verlag, Postfach 41 01 63, 53023 Bonn, Telefon 02 28/6 68 50,
Fax 66 85-2 09,
E-Mail:verlag@awobu.awo.org
Internet: www.awo.org