Im Land der Egoisten

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Nassie:

Im Land der Egoisten

 
15.08.03 11:25
Wo sind die Kinder?

Im Land der Egoisten: Kein Nachwuchs, keine Rente

Von Susanne Gaschke

Wo in dieser Republik, in welchem Panzerschrank, wird eigentlich der Generationenvertrag aufbewahrt? Wer die aufgeregte Debatte über Generationengerechtigkeit verfolgt, könnte glauben, dieses Dokument existiere tatsächlich, lege rechtsverbindlich die künftigen Lebensbedingungen der heute 20- bis 30-Jährigen fest – und sei von „den Alten“ eiskalt gebrochen worden. Sie erlaubten sich regelwidrig, immer zahlreicher zu werden, unverschämt lange zu leben, medizinische Luxusversorgung zu konsumieren, stetig steigende Renten zu verprassen und jedwede Politik zu verhindern, die etwas daran ändern wollte. Alles auf Kosten der Jungen, natürlich.

Was für eine Scheindebatte! Der Generationenvertrag ist in Wirklichkeit ein ideelles Konstrukt, das gesellschaftliches Einvernehmen über zwei Dinge beschreiben soll: zum einen, dass die Erwerbstätigen mit Beiträgen aus ihrem Einkommen für die Alten sorgen, die das Gleiche schon für ihre Eltern getan haben. Zum anderen, dass die junge Generation die Kinder bekommt und großzieht, die ihnen später ihre eigene Rente erwirtschaften werden.

Die Ästhetik des Single-Lebens

Alle Deutschen, die 60 Jahre und älter sind – von der Generation der Achtundsechziger aufwärts –, haben beide Verpflichtungen eingehalten: Sie haben für die Eltern die Rente gezahlt, und sie haben sich bevölkerungspolitisch korrekt vermehrt. Dennoch ist die soziale Sicherung der zukünftigen Rentner in Schieflage geraten. Das hat viele Gründe: Auf die Alten wartet heute ein längeres Leben nach der Arbeit. Sind sie erst einmal 65 geworden, dann steigt ihre Lebenserwartung um 35 bis 40 Tage pro Jahr. Das bedeutet: Auf zehn Lebensjahre kommt ein Rentenjahr mehr. Damit wächst die Belastung der nachfolgenden Generation. Ist das ein Vertragsbruch? Oder einfach eine Veränderung, auf die die Politik konventionell sozialpolitisch reagieren könnte, ohne gleich den Generationenkrieg auszurufen? Immerhin hat die Bundesregierung mit der Riester-Rente ein Modell vorgelegt, das die demografisch riskante staatliche Daseinsvorsorge um private Sicherung ergänzt. Doch die jüngere Generation nimmt die Riester-Rente nicht an. Sie jammert lieber.

Deutschlands geburtenstarke Jahrgänge reichen bis in die Mitte der sechziger Jahre. 1964 brachte eine Frau, statistisch gesehen, 2,54 Kinder zur Welt. Die Nettoreproduktionsrate lag bei 1,18 – das heißt, dass diese Eltern durch ihre Kinder mehr als ersetzt wurden. Die narzisstische Lebensideologie der Achtundsechziger hat zwar zur Auflösung von Traditionsfamilien beigetragen – aber sie haben viele Kinder bekommen.

Die neue planmäßige Kinderlosigkeit – von ungewollter ist hier nicht die Rede – beginnt erst in den siebziger Jahren. Sie ist oft mit dem Emanzipationswunsch der Frauen erklärt worden; heute kommt ganz offensichtlich eine neue Bindungsunwilligkeit der Männer dazu. Die Entwicklung erreichte ihren dramatischen Tiefpunkt 1994: Da lag die Nettoreproduktionsrate bei 0,59. Frauen bekommen heute im Schnitt 1,35 Kinder und sind beim ersten Kind schon 29 Jahre alt. Eine Wende ist nicht in Sicht, in der Gesellschaft dominiert die Single-Ästhetik. Nicht die Alten haben den Generationenvertrag gekündigt. Ausgestiegen sind, höchst effektvoll, die heute 30- bis 45-Jährigen.

Alle bekannten Finanzierungsprobleme der Rentenversicherung sind Peanuts im Vergleich zum Mega-Trend: Eine ganze Elterngeneration reproduziert sich nur noch zur Hälfte. Während heute drei Erwerbstätige für einen Rentner aufkommen, wird es, setzt man nicht irrsinnige Einwanderungszahlen voraus, im Jahr 2050 ein Berufstätiger sein, der für einen Ruheständler zahlen muss. Der Wohlfahrtsstaat von einst wird nicht wiederzuerkennen sein.

Wir haben es uns ganz allein eingebrockt, und schlimmer noch: Die Politiker, die Unternehmer, die Verbände, wir alle konnten seit 25 Jahren wissen, was geschehen würde, wenn der Kinderstreik anhielte – die Zahlen lagen längst auf dem Tisch.

Die möglichen Antworten auf diese Bevölkerungskrise verlangen eine andere Art von Radikalität, als sie die Sprecher einer neoliberal geprägten jungen Generation auf Kosten anderer Leute pflegen. Der Staat, „die“ Politik, kann den gesellschaftlichen Individualisierungsprozess nicht aufhalten. Dieser ist ein kulturelles Problem, das sich normalen Gesetzesinitiativen entzieht. Wenn die Menschen als Dinks (double income, no kids) oder heute noch lieber als Singles leben wollen, kann niemand sie daran hindern. Aber mutige Politiker müssten ihnen unverblümt sagen, dass ihre individuelle Entscheidung gegen Kinder, die sich mit Millionen von gleichgerichteten Entscheidungen zum Massenphänomen summiert, nicht folgenlos bleiben wird. Wer, als Kinderloser, die halbe Million Euro (Existenzminimum), die zum Großziehen von drei Kindern mindestens nötig wäre, im Frühling des Lebens für Tauchurlaube ausgibt, kann nicht im Herbst die Sparbücher seiner Eltern plündern; die werden überdies leer sein.

Das gibt es: Liebe in der Familie

Niemand hindert die Kinderlosen daran, ihr Geld schon heute privat anzulegen, wie es in lebhafter Rhetorik gegen die staatlichen „Zwangssysteme“ gern gefordert wird. Ist man allerdings ganz und gar auf sich gestellt, wird schnell deutlich, wie unsicher ganz normale „Versorgungswerke“ ohne zusätzliche staatliche Rentenversicherungen sind.

So ernst die Lage in mittlerer Zukunft auch werden wird, das aktuelle Gerede über den „Zusammenbruch“ der Sozialsysteme und den „radikalen Systemwechsel“, der angeblich nötig sei, um Renten-, Pflege- und Krankenversicherung zu retten, hat einen allzu schrillen Ton. Der war schon immer typisch für politische Großmoden in Deutschland. Sein Lärm übertönt die entscheidende Frage: Wollen wir weiter so leben wie bisher? Heißt das Zukunftsmodell: Allein, ohne Kinder, privat versichert?

Darüber ließe sich eine produktive, eine große gesellschaftliche Auseinandersetzung führen. Eine ehrliche Debatte über die vielfältigen Gründe unserer Kinderlosigkeit könnte allerdings noch viel bitterer verlaufen als das kleine Generationengerangel dieser Tage. Denn der Verdacht liegt nahe, dass uns Kinder – jenseits aller finanziellen Argumente – einfach zu anstrengend sind. Weil wir andere Prioritäten setzen, beweglich sein müssen, aber auch wollen; weil wir Konsum für angenehmer halten als nervtötende Stunden mit Holzbauklötzen – und unseren Nachtschlaf schätzen.

Doch es hilft alles nichts: Die einzige Zukunftssicherung, die zuverlässig funktioniert, sind Kinder, nichts anderes. Sie erwirtschaften die Sozialversicherungsbeiträge, die Steuern, die Zinsen, den Wohlstand, von dem wir leben werden, wenn wir alt sind. Den demografischen Abwärtstrend, der in Deutschland die Bevölkerungspyramide auf den Kopf stellen wird, könnten höhere finanzielle Transfers für Familien und bessere Betreuungsangebote für die Kinder berufstätiger Eltern verlangsamen. Aufhalten oder gar umkehren kann ihn aber nur ein revolutionärer Mentalitätswechsel, ein kultureller Wandel dieser Gesellschaft. Man kann es aber auch ganz altmodisch sagen: Was spricht eigentlich gegen die Wiederentdeckung der tröstlichen Erfahrung von jener Liebe, die Eltern erleben? Der Staat kann keine Kinder verordnen. Die müssen die Deutschen schon selbst machen. Dann erst gilt, mit Norbert Blüm: „Die Rente ist sicher.“

Zeit.de

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