Mensch, KaZaA
"Heute", sagt der Mensch im Radio, "kommt das lang erwartete neue Album von Herbert Grönemeyer". Stimmt. Es ist sogar schon da.
"Mensch" steht ganz oben, seit Wochen schon. Ein Ohrwurm, der sich poetisch perfide ins Hirn schleicht, dort einbrennt und nicht satt macht. Trotz fünfzehn Mal am Tag, im Radio, bei MTV, im Supermarkt, dreimal die Stunde beim Volksfest. "Sensationell" findet Thomas das Lied, weil es so direkt daherkommt: "Man muss ein Idiot sein", sagt er, "wenn einen das nicht anrührt".
Und die Kritiker singen Hymnen dazu, seit Wochen. Selbst Nörgler wie Stuckrad-Barre jubeln und versauen sich den Zyniker-Ruf mit ungewohnten Lobliedern und ganz offensichtlich tief berührten Ausflügen in den emotionalen Hintergrund des besten Albums, wie er findet, das Grönemeyer je produziert hat.
Es stimmt: Trotz des öden Musikvideos zum Ausnahmelied machen Grönemeyers neue Weisen so hungrig wie neugierig auf das, was er noch zu bieten hat. Zwei Lieder kannte die Öffentlichkeit von der Maxi-Auskoppelung. Der Rest, jubilierten Deutschlands Radiostationen vom Format Jung bis Mittelalter, folgt am 2. September.
Außer bei KaZaA
Dort ist "Mensch" schon drei Tage früher zu haben, vollständig. Als am Montag die CD erscheint, steigt - trotz Kopierschutz - die Qualität der angebotenen Dateien.
Gegen 19 Uhr werfe ich den Software-Client an und suche "Mensch". Flugs gefunden führt der Klick auf "Find more from same Album" zu einer langen Liste von Grönemeyer-Liedern, die gar nicht alle auf der neuen CD sein können. Doch auch die Titel der Lieder sind ja bekannt: Die EMI bietet ihren treuen Kunden die Diskografie des Bochumer Barden frisch auf den neuesten Stand gebracht, mit allen Songs der neuen Scheibe in ihrer korrekten Reihenfolge. Alles, was es jetzt noch braucht, sind elf kurze Tipper auf die Maus, und der Download beginnt. Wahlweise in drei verschiedenen Qualitäten.
P2P-Börsen, behauptet die Industrie seit Monaten, untergraben die Refinanzierungsbasis für Plattenfirmen und Künstler. Doch die Firmen, antworten darauf die P2P-Fans, verdienen sowieso genug, beuten die Fans und die Künstler seit Jahrzehnten aus und jammern auf höchstem Niveau. Die Künstler wiederum, liest man immer wieder, gewinnen im Web ganz neue Vermarktungsmöglichkeiten.
Grönemeyers "Mensch" schleicht sich auf meine Festplatte. Die ersten drei, vier Lieder sind bei KaZaA bereits relativ weit verbreitet und kommen schnell; anderes, weniger Eingängiges, verbreitet sich so langsam, wie es sich überträgt. Kurzes Probehören: "Mensch", "Lache", "Letzter Tag" und "Unbewohnt" sind in guter 128er-Qualität angekommen.
"Neuland" hingegen macht Probleme: Da bricht die Qualität nach rund zehn Sekunden weg, alles klingt wie Blech. Lebt wieder auf, bricht wieder weg. Eine der berüchtigten, von der Musikindustrie in Umlauf gebrachten Stördateien?
Wenn ja, dann mit Erfolg: Fünfmal wurde "Neuland" bereits von meinem Rechner heruntergeladen, "Unbewohnt" bereits sieben Mal. Die Kiste läuft jetzt eine Stunde.
Als ich mit der Suche begann, fand KaZaA das Lied gerade viermal. Ein Blick zurück auf die Suchmaske zeigt, wie schnell sich die Zeiten ändern: Inzwischen könnte ich "Unbewohnt" von über 130 Quellen beziehen. Sieben davon habe möglicherweise ich versorgt.
Es geht weiter. Grönemeyers neues Album verbreitet sich in der P2P-Börse wie ein Steppenbrand - und das ist eine phantasielose Untertreibung. Sieht Grönemeyer zu? Es würde ihm was geboten.
Es ist ungewöhnlich viel los bei KaZaA an diesem Abend. 2.900.527 User sind online, gibt das System um 21.53 Uhr Auskunft, tauschen 462.173.374 Dateien mit 3.157.248 Gigabyte Datenvolumen. Grönemeyer ist da prozentual nicht zu messen, aber wie sieht das anders herum aus? Wie viele Verkäufe kostet dich diese Nacht morgen, Herbert?
Der, sagt der P2P-Fan, verdient eh genug. Und überhaupt: Wer Fan sei, der kaufe das Album dann trotzdem. Weil es das Wahre sei, das Echte, schön anzusehen im Regal und besser im Sound.
Letzteres stimmt zumindest mitunter. "Zum Meer" ist Käse und wird umgehend gelöscht: Da ist die Anmoderation von SWR3 noch mit drauf. Von wegen, Radio "versendet" sich. Das war mal.
Und jetzt? Noch mal runterladen, eine andere Datei? Kein Problem: Es ist nun 21.58 Uhr, und "Zum Meer" bietet KaZaA viele Hundert mal an. Alle Dateien gehen allerdings auf fünf Ursprungsdateien zurück, die sich in den letzten zwei, drei Stunden im P2P-Netz verbreiteten.
Der Klick fällt leicht. Es ist 22.19 Uhr, Grönemeyer ist fertig. "Es gibt keinen Zweifel", sagt der Radiosprecher, "dass das neue Album von Null auf Eins gehen wird".
Spiegel
