Wann platzt die Derivate-Blase?
Hans Bernecker: Wann platzt die Derivate-Blase?
Mails/Nachrichten vom 23.07.2002, Bernecker & Cie.
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Guten Morgen, meine Damen und Herren,
die Börsen sind zusammengebrochen. Was heißt dieser simple Satz? Kein Crash und kein Kollabieren aufgrund eines Einmalereignisses oder eines besonderen Umstandes, sondern eine ausgewachsene Baisse. Dazu gehört die Übertreibung nach unten wie die Übertreibung nach oben vom September 1999 bis zum 10. März 2000. Ich rufe dies ausdrücklich in Erinnerung. In der Schlußphase mache ich Sie aber mit einem Thema bekannt, wodurch das Ganze einen noch schärferen Akzent erhält und das Problem der Hedge-Fonds-Baisse noch vervielfältigt. Ich habe die Hedge-Fonds-Problematik vor Monaten an dieser Stelle diskutiert. Das ist inzwischen ein Allgemeingut geworden. Jetzt geht es um etwas Schlimmeres:
Den Markt der sog. derivativen Produkte. Das ist ein Sammelbegriff für alle Konstrukte synthetischer Art rund um die Aktien in allen Formen, von der Aktienanleihe über die Optionsscheine bis zu den äußerst komplizierten mathematischen Wetten, die in der Rechtsform von Kontrakten als sog. Absicherungsinstrumente angeboten werden, aber beiderseitig wirken. Das Volumen kennt so gut wie niemand, aber ich habe es mühsam zusammengetragen.
Die Summe aller Kontrakte an den internationalen Börsen beläuft sich zur Zeit auf die Größenordnung von 110 Billionen Dollar. Das wäre mehr als das Elffache der Börsenkapitalisierung. Dieses Volumen ist das sog. marktwirksame Volumen, welches sich aus den verschiedensten Formen dieser mathematischen Wetten ableitet. Diese beruhen fast ausschließlich auf der Grundlage der Wahrscheinlichkeitsrechnung. Weichen aber die tatsächlichen Marktverhältnisse von diesen Wahrscheinlichkeiten ab, sind die Emittenten oder aber die Kontrahenten gezwungen, diese „Verträge“ zu schließen.
Eine amerikanische Großbank, die ich an dieser Stelle ausdrücklich nicht nenne, ist der größte Spieler im Markt. Das eigentliche Asset-Volumen dieser Kontrakte beträgt 700 Mio US-$. Die Marktkapitalisierung, die dahinter steht, jedoch 71 Mrd $. Sie kennen dieses Thema vielleicht noch aus der Bondmarktkrise mit dem Zusammenbruch des damaligen Hedge Fund LTCM, der mit einem Eigenkapital von 4 Mrd $ ein Portfoliovolumen von rd. 38 Mrd $ dirigierte, aber für die Absicherung über derivative Produkte ein Marktgewicht von 1,01 Bill $ benötigte. Dieses Thema hängt jetzt über den Aktienmärkten. Wann so etwas aufgelöst wird, weiß ich nicht. Daß es kurzfristig ausläuft, scheint sicher, weil es in der Natur der Sache liegt und niemand derartige Positionen über eine Marktkrise hinweg retten kann. Ich gehe nicht fehl in der Annahme, daß die augenblicklich total abrutschenden Kurse damit im Wesentlichen zusammenhängen. Ich bemühe mich um weitere Einzelheiten/Zahlen.
Eine weitere Erfahrung zur Erinnerung: Das Gleiche passierte mit den berühmten synthetischen Brady-Bond-Konstruktionen Argentiniens und Brasiliens vor vier Jahren.
Was folgt daraus? Spekulationen dieser Art haben nur eine kurze Zeit vor sich. Dann sind die Märkte sauber, aber ich gehe nicht fehl in der Annahme: Diese Baisse ist erst zu Ende, wenn der riesige Derivatenmarkt deutlich zurückgestutzt wird oder schlicht verschwindet. Ich habe mich hier nie betätigt, worüber ich froh bin. Je schneller diese Bereinigung läuft, umso besser. Doch schließe ich nicht aus, daß eine große Finanzadresse in diesem Zusammenhang über die Hürden geht.
Die Schwäche der Versicherungstitel ist anders zu sehen. Unterscheiden Sie zwischen den strukturellen Geschäften, also dem versicherungstechnischen Geschäft und den einmaligen Verlusten, die aus Wertpapieranlagen resultieren. Beispiel von gestern ist AEGON. Für andere gilt das Gleiche. Die darauf bezogenen Abschläge überziehen auch fundamental. Dennoch war es richtig, nach dem ursprünglichen Einstieg noch im März den allseitigen Rückzug vorzunehmen. Ich hatte dies für die Europäer in der AB schon diskutiert.
Überdenken Sie den obigen Sachverhalt sorgfältig. Er ist jetzt wichtiger als die einzelne Nachricht über einzelne Firmen. Dieser Markt wird erst dann ein Gleichgewicht erhalten, wenn die Derivatenblase geplatzt ist, die ich hier mit einem Sammelbegriff beschrieben habe. Ich schätze, daß wir dazu nicht allzu lange Zeit benötigen. Ergänzend:
Der V-DAX will nicht weiter steigen. Schafft er doch noch die 50? Das ist eher fraglich und ein Beleg dafür, daß die Schwäche weniger von den ursächlichen Verkäufen der Aktien kommt als von den Querverbindungen aus dem Derivatensektor. Deshalb sind die sich mehrenden Stimmen bezüglich neuer Käufe fundamental durchaus richtig. Die Marktschwäche kommt jedoch von obigem Sachverhalt und deshalb ist kein Indexziel im Moment zu definieren. Ergebnis:
Ich warte auf einen eindeutigen Marktdreh. Nicht auf den Dreh in der einen oder anderen Aktie. Das wird mehrere Tage oder sogar Wochen brauchen, jedoch von hoher Volatilität begleitet sein. Im übrigen: Deutschland war schon einmal Weltmeister in der Spekulation, nämlich von 1983 bis 1987 mit dem damaligen Optionsscheinmarkt, der anschließend zusammenbrach. Der Derivatenmarkt hat das gleiche Schicksal vor sich, um die Märkte von diesem spekulativen Ballast zu befreien. Morgen geht es weiter.
Herzlichst Ihr
Hans A. Bernecker
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Hans Bernecker: Wann platzt die Derivate-Blase?
Mails/Nachrichten vom 23.07.2002, Bernecker & Cie.
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Guten Morgen, meine Damen und Herren,
die Börsen sind zusammengebrochen. Was heißt dieser simple Satz? Kein Crash und kein Kollabieren aufgrund eines Einmalereignisses oder eines besonderen Umstandes, sondern eine ausgewachsene Baisse. Dazu gehört die Übertreibung nach unten wie die Übertreibung nach oben vom September 1999 bis zum 10. März 2000. Ich rufe dies ausdrücklich in Erinnerung. In der Schlußphase mache ich Sie aber mit einem Thema bekannt, wodurch das Ganze einen noch schärferen Akzent erhält und das Problem der Hedge-Fonds-Baisse noch vervielfältigt. Ich habe die Hedge-Fonds-Problematik vor Monaten an dieser Stelle diskutiert. Das ist inzwischen ein Allgemeingut geworden. Jetzt geht es um etwas Schlimmeres:
Den Markt der sog. derivativen Produkte. Das ist ein Sammelbegriff für alle Konstrukte synthetischer Art rund um die Aktien in allen Formen, von der Aktienanleihe über die Optionsscheine bis zu den äußerst komplizierten mathematischen Wetten, die in der Rechtsform von Kontrakten als sog. Absicherungsinstrumente angeboten werden, aber beiderseitig wirken. Das Volumen kennt so gut wie niemand, aber ich habe es mühsam zusammengetragen.
Die Summe aller Kontrakte an den internationalen Börsen beläuft sich zur Zeit auf die Größenordnung von 110 Billionen Dollar. Das wäre mehr als das Elffache der Börsenkapitalisierung. Dieses Volumen ist das sog. marktwirksame Volumen, welches sich aus den verschiedensten Formen dieser mathematischen Wetten ableitet. Diese beruhen fast ausschließlich auf der Grundlage der Wahrscheinlichkeitsrechnung. Weichen aber die tatsächlichen Marktverhältnisse von diesen Wahrscheinlichkeiten ab, sind die Emittenten oder aber die Kontrahenten gezwungen, diese „Verträge“ zu schließen.
Eine amerikanische Großbank, die ich an dieser Stelle ausdrücklich nicht nenne, ist der größte Spieler im Markt. Das eigentliche Asset-Volumen dieser Kontrakte beträgt 700 Mio US-$. Die Marktkapitalisierung, die dahinter steht, jedoch 71 Mrd $. Sie kennen dieses Thema vielleicht noch aus der Bondmarktkrise mit dem Zusammenbruch des damaligen Hedge Fund LTCM, der mit einem Eigenkapital von 4 Mrd $ ein Portfoliovolumen von rd. 38 Mrd $ dirigierte, aber für die Absicherung über derivative Produkte ein Marktgewicht von 1,01 Bill $ benötigte. Dieses Thema hängt jetzt über den Aktienmärkten. Wann so etwas aufgelöst wird, weiß ich nicht. Daß es kurzfristig ausläuft, scheint sicher, weil es in der Natur der Sache liegt und niemand derartige Positionen über eine Marktkrise hinweg retten kann. Ich gehe nicht fehl in der Annahme, daß die augenblicklich total abrutschenden Kurse damit im Wesentlichen zusammenhängen. Ich bemühe mich um weitere Einzelheiten/Zahlen.
Eine weitere Erfahrung zur Erinnerung: Das Gleiche passierte mit den berühmten synthetischen Brady-Bond-Konstruktionen Argentiniens und Brasiliens vor vier Jahren.
Was folgt daraus? Spekulationen dieser Art haben nur eine kurze Zeit vor sich. Dann sind die Märkte sauber, aber ich gehe nicht fehl in der Annahme: Diese Baisse ist erst zu Ende, wenn der riesige Derivatenmarkt deutlich zurückgestutzt wird oder schlicht verschwindet. Ich habe mich hier nie betätigt, worüber ich froh bin. Je schneller diese Bereinigung läuft, umso besser. Doch schließe ich nicht aus, daß eine große Finanzadresse in diesem Zusammenhang über die Hürden geht.
Die Schwäche der Versicherungstitel ist anders zu sehen. Unterscheiden Sie zwischen den strukturellen Geschäften, also dem versicherungstechnischen Geschäft und den einmaligen Verlusten, die aus Wertpapieranlagen resultieren. Beispiel von gestern ist AEGON. Für andere gilt das Gleiche. Die darauf bezogenen Abschläge überziehen auch fundamental. Dennoch war es richtig, nach dem ursprünglichen Einstieg noch im März den allseitigen Rückzug vorzunehmen. Ich hatte dies für die Europäer in der AB schon diskutiert.
Überdenken Sie den obigen Sachverhalt sorgfältig. Er ist jetzt wichtiger als die einzelne Nachricht über einzelne Firmen. Dieser Markt wird erst dann ein Gleichgewicht erhalten, wenn die Derivatenblase geplatzt ist, die ich hier mit einem Sammelbegriff beschrieben habe. Ich schätze, daß wir dazu nicht allzu lange Zeit benötigen. Ergänzend:
Der V-DAX will nicht weiter steigen. Schafft er doch noch die 50? Das ist eher fraglich und ein Beleg dafür, daß die Schwäche weniger von den ursächlichen Verkäufen der Aktien kommt als von den Querverbindungen aus dem Derivatensektor. Deshalb sind die sich mehrenden Stimmen bezüglich neuer Käufe fundamental durchaus richtig. Die Marktschwäche kommt jedoch von obigem Sachverhalt und deshalb ist kein Indexziel im Moment zu definieren. Ergebnis:
Ich warte auf einen eindeutigen Marktdreh. Nicht auf den Dreh in der einen oder anderen Aktie. Das wird mehrere Tage oder sogar Wochen brauchen, jedoch von hoher Volatilität begleitet sein. Im übrigen: Deutschland war schon einmal Weltmeister in der Spekulation, nämlich von 1983 bis 1987 mit dem damaligen Optionsscheinmarkt, der anschließend zusammenbrach. Der Derivatenmarkt hat das gleiche Schicksal vor sich, um die Märkte von diesem spekulativen Ballast zu befreien. Morgen geht es weiter.
Herzlichst Ihr
Hans A. Bernecker
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