----- Ein Gespenst geht um in Deutschland, das Gespenst der Deflation.
Mittlerweile hat es offenbar auch der grünen Verbraucherschutzministerin Renate Künast einen Schreck eingejagt. Sie kündigte jüngst forsch an, gegen das Preisdumping großer Discounter vorzugehen. Es dürfe nicht sein, „dass große Ketten ihre Produkte weit unter dem Einkaufspreis verkaufen, um so die Konkurrenten vom Markt zu verdrängen“. Dieser Verdrängungswettbewerb habe eine „beispiellose Abwärtsspirale“ bei den Preisen ausgelöst. Gute Qualität aber, so mahnte Ministerin Künast, gebe es „nicht zum Nulltarif“.
Allerdings gibt es prima Ware immer häufiger zu Spottpreisen. Deutschland entwickelt sich zum Paradies für Pfennigfuchser: Egal, ob Notebooks, Waschmaschinen, Oberhemden oder Tiefkühlpizza: Die Preise sinken auf breiter Front. Von wegen Teuro. Für Geizkrägen ein Grund zur Freude, für Unternehmer ein Grund für schlaflose Nächte; sie leiden unter dem Preisverfall – und mit ihnen die ganze Volkswirtschaft. Es droht – nicht nur hier zu Lande – eine Gefahr, die viele Wirtschaftswissenschaftler für endgültig gebannt hielten: die Gefahr, dass Geld mehr wert wird.
Eigentlich ist seit den siebziger Jahren die Bekämpfung der Inflation oder Geldentwertung das oberste Ziel der Wirtschafts- und Finanzpolitik. Doch angesichts anhaltender Rabattschlachten dreht sich der Wind. Die Wetterwende ist auch in der Bundesrepublik nicht mehr zu übersehen. Zwar sind 2002 die Verbraucherpreise im Vergleich zum Vorjahr noch leicht gestiegen. Das liegt aber vor allem an der Erhöhung der Tabak-, Öko- und Versicherungssteuer vor einem Jahr und am Preisschub nach der Euro-Einführung bei einigen wenigen Produkten und Dienstleistungen.
Wenn man diese Sondereffekte jedoch herausrechne und noch die üblichen statistischen Messfehler berücksichtige, „dann gibt es keinen Preisanstieg mehr“, stellt Ulrich Beckmann von der Deutschen Bank fest. Von einer Deflation spricht man zwar erst, wenn die Preise kontinuierlich fallen, doch der starke Rückgang der Inflation weist schon in diese Richtung. Unter US-amerikanischen Wissenschaftlern und Wirtschaftsvertretern ist inzwischen die Diskussion über die Gefahr sinkender Preise voll entbrannt, denn auch in den Vereinigten Staaten sind seit einigen Jahren deflationäre Tendenzen nicht zu übersehen. Dasselbe gilt für Taiwan und Singapur. Japan, China und Hongkong stecken bereits seit einigen Jahren mitten in einer Deflation und ihren Folgen.
An und für sich ist die wundersame Stärkung der Kaufkraft nichts Schlimmes – auf die Ursachen kommt es an. So sanken etwa im Verlauf des 19. Jahrhunderts die Preise in den USA langsam, aber stetig: Der technische Fortschritt ermöglichte eine immer effektivere Produktion. Dasselbe gilt auch heute noch in einzelnen Branchen, beispielsweise in der Halbleiterindustrie. Bei gleich bleibenden Preisen wird die Rechenleistung der Chips ständig erhöht.
Diese gutartige Deflation, auch technologische Deflation genannt, kennzeichnet eine kerngesunde Volkswirtschaft. Dank fortschreitender Rationalisierung sinken die Preise; die Kaufkraft nimmt zu, selbst wenn die Löhne nominell gleich bleiben, weil die Menschen fürs gleiche Geld mehr bekommen. Mit der Kaufkraft wachsen Nachfrage, Warenproduktion und Lebensstandard. Nicht zuletzt freut sich die Exportwirtschaft, die dank sinkender Preise (vorausgesetzt, die Wechselkurse bleiben gleich) im Ausland mehr absetzen kann.
Ganz anders sieht es bei der bösartigen oder so genannten monetären Deflation aus. Hier sinkt das Preisniveau nicht wegen des Fortschritts, sonden wegen sinkender Nachfrage. Die Unternehmen können ihre Investitionen und Kosten nicht mehr einspielen, sie machen Verluste, viele gehen Pleite. Die Arbeitslosigkeit steigt, Banken drohen zusammenzubrechen, weil ihre Kredite nicht mehr bedient werden.
Wie bedrohlich ein solches Szenario ist – und wie schwer man ihm beikommt –, zeigt das Beispiel Japan. Dort platzte Anfang der neunziger Jahre eine gewaltige Spekulationsblase, und die Preise rauschten in den Keller. Die einsetzende Rezession sorgte zusätzlich für größere Zurückhaltung bei den Verbrauchern und Investoren. Obwohl die japanische Regierung versuchte, mit einer massiven Ausweitung der Staatsausgaben der Krise entgegenzuwirken, kam die Wirtschaft nicht wieder auf Wachstumskurs.
Was kräftig wuchs, war die Staatsverschuldung, die bereits 1995 bei mehr als 80 Prozent des Bruttoinlandsprodukts lag (Zum Vergleich: Die Bundesrepublik ist heute insgesamt mit rund 60 Prozent des Bruttoinlandsprodukts verschuldet). Auch die – zunächst zaghaften, dann immer verzweifelteren – Interventionen der japanischen Notenbank änderten nichts an der Misere. Der Leitzins sank von 8,2 Prozent im März 1991 auf zwei Prozent im Frühjahr 1995. Seit Oktober 1995 verleiht die japanische Notenbank den Yen nahezu zum Nulltarif an die Geschäftsbanken und hat damit ihren Handlungsspielraum vollständig ausgereizt.
Trotzdem fielen die Preise in der zweitgrößten Volkswirtschaft der Welt weiter, und sie tun es noch. Das Land scheint in einer Deflationsspirale gefangen. Geld, das auf japanischen Konten liegt, wird wertvoller, obwohl es eigentlich keine Zinsen abwirft – schlicht, weil bei kontinuierlich fallenden Preisen desto mehr für eine bestimmte Summe gekauft werden kann, desto länger sie gehortet wird.
In der Folge steht vielen Unternehmen das Wasser bis zum Hals. Früher oder später müssen sie reagieren: Löhne senken, Fabriken schließen, Arbeiter entlassen. Die logische Konsequenz: Der Konsum geht weiter zurück. Ein weiteres Problem für die Firmen ist, dass bei fallenden Preisen ihre Schulden automatisch an Wert zu- und nicht – wie bei Inflation – abnehmen. Höhere Schulden, geringere Einnahmen, so wird die Wirtschaft stranguliert.
Was tun? Eine weitere Möglichkeit, diesem Teufelskreis zu entkommen, ist, Geld zu drucken, um so die Inflation anzuheizen. Die japanische Notenbank lässt die Druckmaschinen seit Jahren auf Hochtouren laufen, doch trotzdem steigt die Geldmenge nicht schnell genug. Wegen der lahmen Konjunktur werden zu wenig Darlehen nachgefragt. Und dummerweise erhöhen frisch gedruckte Scheine, die nicht zirkulieren, auch die Geldmenge nicht. Erst wenn wiederholt von verschiedenen Personen Banknoten eingezahlt und wieder abgehoben werden, wächst durch den „Multiplikatoreffekt“ die Geldmenge. Bleibt er aus, wurde die Notenpresse umsonst angeworfen.
Dies war auch der Grund, warum es massive Kritik an den deutschen Banken hagelte, die auch nach der Zinssenkung durch die Europäische Zentralbank (EZB) im Dezember vergangenen Jahres ankündigten, diesen Kostenvorteil nicht an ihre Kunden weiterzugeben. Glücklicherweise ist Deutschland von japanischen Verhältnissen ein gutes Stück entfernt. Allerdings stehen der rot-grünen Regierung im Kampf gegen eine drohende Deflation auch weniger Instrumente zur Verfügung.
Nach der Einführung des Euro ist es hier zu Lande zum Beispiel nicht mehr möglich, die Landeswährung auf den internationalen Devisenmärkten abzuwerten. Dadurch verteuerten sich ausländische Waren und Rohstoffe wie etwa Öl, die Durchschnittspreise im Inland erhöhten sich. Gleichzeitig würden heimische Güter für ausländische Käufer billiger, die inländische Produktion profitierte also zusätzlich.
Die Abwertung der Landeswährung wäre gerade für eine Exportnation wie Deutschland bei einer schwächelnden Binnenkonjunktur sehr angenehm. Doch die Europäische Zentralbank muss auch die volkswirtschaftlichen Daten der anderen Mitgliedsländer berücksichtigen. Und die lassen eine Abwertung nicht ohne weiteres zu. Tatsächlich wird der Euro immer härter – ein Umstand, der die deflationären Tendenzen in der Bundesrepublik weiter verschärft.
Eine unabhängige deutsche Bundesbank hätte in einer vergleichbaren Situation den Leitzins vermutlich früher und kräftiger gesenkt als die EZB, die das Inflationsziel für den gesamten Euro-Raum beachten muss, und das hat sie seit ihrer Gründung eher über- als unterschritten. Auch die Ausweitung der Staatsausgaben ist nicht ohne weiteres drin. Der – einst von der Euro-skeptischen Bundesrepublik – mit Macht durchgesetzte Stabilitätspakt verbietet das. Bundesfinanzminister Hans Eichel kassierte erst im Januar einen Rüffel der EU-Kommission, weil das öffentliche Defizit in 2002 über dem erlaubten Wert von drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts lag. In diesem sieht es nicht besser aus. Wenig Spielraum für die Regierung.
Mehr finanzpolitischen Einfluss haben die Gewerkschaften. Die jüngst von Ver.di erstrittenen Tariferhöhungen im öffentlichen Dienst bringen zwar viele öffentliche Arbeitgeber an den Rand des Ruins, andererseits sind sie ein sicherer Quell der Inflation. Die Mahnungen von Renate Künast werden das Gespenst Deflation dagegen wohl herzlich wenig beeindrucken. ----|
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Grüße Max