Ein Streifzug durch das deutsche Jammertal

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Ein Streifzug durch das deutsche Jammertal

 
23.12.02 08:18
Die larmoyante Republik

Keine Spur mehr von Spaßgesellschaft, kein Hauch von nationalem Hochmut. Zynismus ist die Moral unserer Zeit. Wir lamentieren, klagen, nörgeln auf höchstem Niveau. Jeder für sich und alle über etwas anderes. Das Volk über die Regierung, die Wirtschaft über die Politik, die Länder über den Bund, der Kanzler über die Verbände, die Gewerkschaften über die Arbeitgeber, der Handel über die Verbraucher, die Unternehmen über die schlechte Konjunktur, die Banken über ihre bankrotten Kunden, die Arbeitnehmer über den schlechten Stellenmarkt.

Das Jahr neigt sich zu seinem Ende – und wenn wir nach dem Geräuschpegel des deutschen Gequengels zu urteilen haben, dann bleibt uns nur ein Schluss nach diesem annus horribilis 2002: Asche auf unser Haupt!

Unternehmen wir einen kurzen Streifzug durch das deutsche Jammertal: Der Pisa-Schock lehrte uns, dass die Finnen viel besser rechnen und schreiben können als unsere faulen Gymnasiasten. Durch einen blauen Brief aus Brüssel mussten wir erfahren, dass selbst die leichtlebigen Italiener besser Haus halten als wir. Die bequemen Franzosen produzieren und konsumieren auf Hochtouren, während unsere erzeffiziente Wirtschaft lahmt. Die postsozialistischen Ungarn kommen mit weniger Bürokratie aus als die Deutschen (und öffnen ihre Läden rund um die Uhr). Britische Magazine spotten über die „German disease“. Aus Tokio fragt man uns, ob in deutschen Banken auch „japanische Verhältnisse“ herrschen. Unsere Militärflugzeuge für den Einsatz in Afghanistan leihen wir uns in der Ukraine. Und George W. Bush gibt uns nicht einmal mehr die Hand.

Wer will noch am deutschen Wesen genesen?

Niemand, schallt es aus den westlichen Nachbarländern. Wo sind wir noch Vorbild? Bei uns nicht, rufen die östlichen EU-Beitrittskandidaten unisono. Wie uns das in den Ohren klingt: „Schlusslicht in Europa!“ Ach, Deutschland. Das wir uns das anhören müssen. Diese Diskussionen, diese Häme, dieses mitleidige Lächeln. Schlimme Einsichten aus einer steilen europäischen Lernkurve. Und schon wieder könnten wir loslamentieren. Und jammern. Und selbst ein paar Beispiele erzählen. Und die Nörgelspirale wieder mit einem kräftigen Schubser in die nächste Drehung versetzen.

Schuld an allem sind natürlich niemals wir selbst, sondern immer die anderen in dieser larmoyanten Republik. Deshalb fallen unsere ständigen Beschwerden und allfälligen Bedenken, so berechtigt sie in ihrem Urgrund auch sein mögen, nur allzu leicht aus allen Proportionen heraus: Der Bundesfinanzminister ruft die „Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts“ aus, obwohl wir schon schlimmere Wachstumseinbrüche verkrafteten. Telefonkonzerne beschwören eine „schwere Krise“, nur weil sie nach einer gewaltigen Nachfrageblase wieder auf dem betonharten Boden einstelliger Umsatzzuwächse landen. Die Ärzte verkünden den „Tod des deutschen Gesundheitswesens“, nur weil ihre bescheidenen Honorare nicht mehr ganz so schnell steigen. Und ein Zeitungsherausgeber verkündet wortreich landauf, landab das „Ende des Qualitätsjournalismus“, nur weil er seinem Kulturkorrespondenten in Venedig das neue Dienstmotorboot streichen muss.

Nein, wir wollen nichts verniedlichen: Es gibt große Probleme in Deutschland. Aber warum immer diese Übertreibungen? Was soll dieser hysterische Alarmismus? Der Sozialstaat – völlig am Ende. Unsere Wettbewerbsfähigkeit – ein für alle Mal dahin. Reformen? Völlig undenkbar in Deutschland. Ärmel aufkrempeln, anpacken? Niemals. Was konnte man in den letzten Monaten nicht alles hören, sehen, lesen: Die Deutschen sterben aus, unser Niedergang ist unaufhaltsam, künftige Generationen werden uns verfluchen. Kein Wort ist zu kräftig, wenn wir uns selbst kasteien. Fast meinte man, wir möchten uns eigenhändig wachrütteln durch all die finalen Adjektive, mit denen wir Deutschland bedenken. Aber durch diese dauernde verbale Selbstvernichtung erschweren wir in Wahrheit eine präzise Diagnose der deutschen Krankheit. Solange wir lauthals klagen, müssen wir nicht wirklich zuhören. Solange man sich an die Brust schlägt, passiert nichts.

Sicherlich haben wir wahrhaftig manchen Grund, uns zu beklagen. Aber ist die ganze Jammerei nicht vielleicht selbst ein Grund dafür, warum es uns schlechter geht als den Franzosen oder Italienern? Alle Probleme unserer Gesellschaft – von Alterssicherung bis zur Zuwanderung – sind mit einer schrittweisen, zielgerichteten Reformpolitik über einen Zeitraum von zehn Jahren lösbar. Viele Probleme – zum Beispiel die öffentliche Haushaltsmisere – würden sich sogar von selbst lösen, wenn wir ein vernünftiges Wirtschaftswachstum erreichten. Doch bevor man über Lösungen reden kann, muss man sich über Ursachen verständigen.

Die Suche nach den wahren Gründen des deutschen Jammers müsste uns zurückführen bis weit in die Wendezeit – und zum Teil sogar bis in die frühen achtziger Jahre. Nach 1989 hat das wiedervereinigte Deutschland seine historische Chance verspielt, sich von Grund auf zu entbürokratisieren, seine Sozialsysteme zu entwirren, sich fit zu machen, um größere Lasten zu tragen. Doch bei uns gab es keine eiserne Lady, die für Tony Blair in Großbritannien in den achtziger Jahren die Aufräumarbeiten erledigte. Wir haben noch friedlich geschlafen, als Ronald Reagan in den USA seine Deregulierungsrevolution ausrief. Die Blut-, Schweiß- und Tränen-Rede, die heute alle Welt von Gerhard Schröder fordert, hätte eigentlich schon Helmut Kohl halten müssen. Stattdessen sollten und wollten wir glauben, dass unsere Landschaften ganz von selbst blühen wie die Lilien auf dem Felde.

Überlastet, überfordert, überhoben

Nun merken wir, dass wir uns seit Jahren selbst überlastet, überfordert, überhoben haben. Mit zu hohen Löhnen, zu hohen Abgaben, zu hohen Kosten, zu hohen Erwartungen, mit zu viel Staat und zu wenig Leistung. Der larmoyante Ton, den wir zunächst nur aus dem Osten der Republik kannten, schwingt nun auch über dem Rhein. Wir jammern, weil wir endlich spüren: Wir müssten – frei nach Lampedusa – eigentlich alles ändern, wenn alles so bleiben soll, wie es ist. Wir müssten uns bewegen, obwohl wir doch so gern hocken blieben.

Alexander Gauland schreibt in seinem lesenswerten Buch „Anleitung zum Konservativsein“, die Deutschen hätten sich im Gegensatz zu anderen europäischen Völkern immer nur „über industrielle und soziale Errungenschaften“ definiert: „Es gab keinen way of life, der auf natürlich-gelassene Art bestimmte, was deutsch war.“ Vielleicht fällt uns heute der Kraftakt der Veränderung so schwer, weil uns dieses Selbstbewusstsein fehlt – und deshalb wohl auch: das Gefühl des nationalen Niedergangs. Selbst die Wiedervereinigung löste kein kollektives Verständnis einer nationalen Anstrengung aus. Der ganze Begriff ist vielen Intellektuellen bereits verdächtig. Dabei brauchten wir ihn heute.

Ist es politisch naiv, wenn man die völlige Abwesenheit einer überparteilichen Idee in der gesamten deutschen Reformdebatte der letzten Jahre beklagt? Selbstverständlich wurden die Reagan-Reformen und der Thatcherismus innenpolitisch ähnlich erbittert bekämpft wie die heutigen Reformansätze in der deutschen Renten- oder Gesundheitsdebatte. Aber am Ende führten die politischen Gegner der wirtschaftsliberalen Revolution – denken wir an Clinton, denken wir an Blair – dann doch das Programm ihrer Vorgänger unter anderem Namen fort: Mit „new labour“ gegen „Britain’s decline“. In Deutschland lassen sich die verschleppten Reformen heute auch nur noch in einer gemeinsamen Anstrengung bewältigen, die national zu nennen nicht falsch wäre, sondern umgekehrt geradezu notwendig.

Gerhard Schröders Reformkommissionitis schafft den notwendigen gesellschaftlichen Konsens, den viele fordern, jedoch gerade nicht. Viele runde Tische tagen in Berlin „just for show“. Andere Kommissionen binden nur die Außenseiter aus dem gegnerischen Lager ein, um die oppositionellen Schlachtordnungen zu verwirren. Mit der Berufung einer Rita Süßmuth ließ sich zwar die CDU richtig schön ärgern, aber in Deutschland rein gar nichts in Bewegung bringen. Genauso fatal funktioniert Schröders mehrfach angewandte Taktik, einzelne Länderministerpräsidenten aus der gegnerischen Fronde herauszukaufen. So verhindert man auf die Dauer gerade jene gemeinsame Bereitschaft zu Reformen, die man gleichzeitig wortreich einfordert.

Der „rheinische Kapitalismus“ mit seiner spezifischen Verbands- und Interessenpolitik versagt gegenwärtig gerade dort, wo er vermeintlich am stärksten ist: in der Konsensbildung seiner Elite. Was die Debatten im Bündnis für Arbeit und anderswo so langweilig und letztlich so sinnlos macht, sind die leeren Rituale der Klientelpolitik. Mit Karl Marx könnte man sagen, dass noch jede schöne Idee in diesen Kungel- und Kompromissrunden durch das hinter ihr stehende Interesse blamiert worden ist. Niemand traut sich, seinen eigenen Mitgliedern wirklich etwas zuzumuten. Gewerkschaften und Arbeitgebervereinigungen sind damit auch überfordert: „Gesamtgesellschaftliche Reformen“ von eng fokussierten Interessenorganisationen zu verlangen geht an ihrer eigentlichen Rolle in der Demokratie vorbei.

Die Idee einer gemeinsamen nationalen Anstrengung kann in einer demokratischen Gesellschaft nicht durch eine „Ersatz-Koalition“ am Parlament vorbei entstehen, sondern nur im direkten Dialog zwischen Regierung, Opposition und Wählern. Wer Reformen will, muss Reformen „setzen“ – zunächst über alle Einwände und Bedenken hinweg. Nichts ist stärker als eine Idee, deren Zeit gekommen ist. Die innenpolitischen Gegner ziehen am Schluss schon mit. Politischer Widerstand will also mit Verve überwunden sein, wie einst in England, und nicht übertrickst, wie so oft bei Schröder. Gefordert sind eher Risiko und Rücksichtslosigkeit, ja politische Brutalität, als taktische Raffinesse und Strippenzieherei.

Deutschland fehlt Leadership

Was uns fehlt, sind also nicht große Koalitionen und runde Tische, sondern (endlich) Leadership. Helmut Kohl war als Wirtschafts- und Gesellschaftsreformer (Stichwort: geistig-moralische Wende) ein Totalausfall; was nichts an seinen historischen Verdiensten ändert. Und seine Nachfolger in der CDU/CSU-Führung geben bisher wenig Anlass zu überwältigenden Hoffnungen: Der ökonomische Sachverstand vieler führender Unionspolitiker wie Angela Merkel erweist sich immer wieder als erschreckend gering, das Desinteresse an moderner Wirtschaftspolitik als direkte Fortsetzung einer fatalen konservativen Traditionslinie, die von Konrad Adenauer bis Helmut Kohl reicht. In den Reihen der Union finden wir, im Prinzip nicht anders als in der SPD, viel Taktiererei und wenig Führungsbereitschaft in ökonomischen Fragen. Die wohl traurigste Erscheinung des vergangenen Bundestagswahlkampfs waren die Versuche Edmund Stoibers, die SPD „links“ zu überholen. Bleibt also, bis auf weiteres, nur Gerhard Schröder.

Mit Deutschland ist nach seinem zweiten Wahlsieg etwas Interessantes passiert. Noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik hat ein Kanzler sein Ansehen so schnell verspielt wie Schröder in der kurzen Spanne zwischen dem 22. September und dem 22. November. Sucht man die Stichworte zur geistigen Situation dieser Wochen zusammen, dann kommt man an einigen unerhörten Begriffen nicht vorbei. Die Bürger rebellieren – zwar nicht auf der Straße, aber immerhin am Stammtisch. Der Michel singt kein Volksgut mehr, sondern ein Protestlied – zwar nicht die Marseillaise, aber immerhin Elmar Brandts Schröder-Song. Einige schicken in spontaner Aufwallung antiautoritärer Reflexe ihr letztes Hemd ans Kanzleramt.

Noch wissen wir natürlich nicht, ob dieser Fieberschub in unserer Nationalpsyche die harmoniesüchtigen Weihnachtstage und die ermattende Silvesternacht überstehen wird. Aber wir werden den kleinen irrlichternden Vormärz einer deutschen „taxpayers’ rebellion“ nicht vergessen. Wir haben hier nicht umsonst genörgelt: Die Politik, sie bewegt sich (plötzlich) doch. Schröder hört die Signale – und rückt wieder in die Mitte. Ohne die kläglich gescheiterte Linkswende (höhere Steuern, mehr Staat) stünden die Bedingungen für einen notwendigen Rechtsruck (niedrigere Steuern, weniger Staat) viel schlechter. Mit dem Rücken an der Wand könnte Schröder wieder zum Reformer werden. Man könnte es Dialektik nennen – oder: das kleine Weihnachtswunder.

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