Eine Woche der Horrormeldungen. Bayer, Ahold und die Diskussion um die Klage von Aktionärsschützern gegen die Telekom drückten den DAX auf den tiefsten Stand seit sieben Jahren. Konzerne mit größeren Ungereimtheiten und unklaren Aussagen werden derzeit gnadenlos abgestraft.
von Carl Batisweiler, Julia Gross, Tobias Meister und Joachim Spiering
Euro am Sonntag 09/03
Am 9. Juni 2000 war die Welt noch in Ordnung. Die so genannte dritte Tranche der Telekom-Aktien war gerade problemlos am Markt untergebracht worden. Stückpreis 66,50 Euro. Telekom-Chef Ron Sommer und Bundesfinanzminister Hans Eichel freuten sich über 15 Milliarden Euro Einnahmen, und an der Frankfurter Börse herrschte business as usual.
Inzwischen ist nichts mehr in Ordnung. Die Telekom-Aktien notieren bei 10,40 Euro, Ron Sommer musste seinen Posten räumen, das gleiche Schicksal droht Hans Eichel. Und an der Börse geht mittlerweile die Angst um: "Jeder bangt um seinen Arbeitsplatz. Wer bis jetzt noch nicht gehen musste, muss befürchten, dass er dazu da ist, um als Letzter das Licht auszuschalten", sagt ein Händler frustriert.
Dabei ist es nicht nur der drohende Irak-Krieg, der den Börsianern immer mehr zusetzt. Vergangene Woche war es vor allem die Serie schockierender Einzelfälle, die ihnen den Boden unter den Füßen wegrissen: die Deutsche Telekom im Visier klagender Aktionärsschützer, Ahold frisiert wie zu besten Enron-Zeiten seine Bilanzen, und das Bayer-Management steht sogar im Verdacht, von den tödlichen Nebenwirkungen des Medikaments Lipobay gewusst zu haben, ohne das Arzneimittel vom Markt zu nehmen. Selbst für hartgesottene Börsianer ist das allmählich zu viel. Sie fragen sich: Ist alles nur noch Lug und Trug? Gehen Manager über Leichen? Und welche Horror-Nachricht kommt als nächste? Dass die Ex-Mannesmann-Bosse Klaus Esser und Co bald auf der Anklagebank sitzen dürften, weil sie sich bei der Übernahme durch Vodafone unzulässigerweise die Taschen vollgestopft haben sollen, wirkt da schon fast wie eine Kleinigkeit.
Dabei ist die Serie der Horrormeldungen pures Gift für die Börse. Denn die Märkte sind ohnehin hypernervös - siehe auch die Abstrafung der HypoVereinsbank (Seite 5). Das Resultat: Der DAX fiel zeitweise auf 2433 Punkte, dem tiefsten Stand seit sieben Jahren. "Der Markt ist völlig irrational", stöhnt Olaf Gabriel, Händler bei der Commerzbank. "Ich kann nur hoffen, dass die Meldungen der vergangenen Tage nicht zur Routine werden." Auch Vermögensverwalter Jens Ehrhardt wirkt resigniert: "Zurzeit wird alles rausgehauen, nur weil es Aktie heißt."
Vernunft ist momentan nicht gefragt. Beispiel Deutsche Telekom: Ob an dem Vorwurf der Aktionärsschützer und Anwälte (siehe Interview) überhaupt etwas dran ist, wird sich noch zeigen müssen. 230 Millionen T-Aktien aus dem Bestand des Bundes wurden im Sommer 2000 an die Börse gebracht. Bislang lautet der Vorwurf, dass Ron Sommer und Hans Eichel Warnungen des ehemaligen Telekom-Finanzchefs Joachim Kröske, der Kauf des britischen Mobilfunkers One2One für zehn Milliarden Euro sei zu hoch, einfach in den Wind geschlagen hätten. Der Preis von 66,50 Euro je Telekom-Aktie sei deshalb überhöht gewesen.
Aber selbst die Schutzgemeinschaft der Kleinaktionäre (SdK) warnt vor "übereilten Schritten" und will durch einen Anwalt selbst erst mal überprüfen, ob eine Klage wegen Prospekthaftung Aussicht auf Erfolg haben könnte. Aus heutiger Sicht mag der Vorwurf schlüssig sein. Damals aber lag der Kaufpreis für One2One nach Ansicht der Experten im Rahmen. "Nicht unbedingt ein Schnäppchen, aber ein fairer Preis", zitierte EURO seinerzeit Analyst Michael Schatzschneider von der BHF-Bank. Auch an der Börse wurde der Kauf moderat aufgenommen: Am Tag der Bekanntgabe legte die Aktie zunächst von 37,90 auf 39,10 Euro zu, bevor sie auf 36,75 Euro nachgab. Ob sich hinter dem Fall Telekom tatsächlich "der größte Emissionsbetrug der deutschen Börsengeschichte" verbirgt, wie Aktienexperte Wolfgang Gerke bereits orakelte, ist deshalb zweifelhaft. "Es reicht nicht, dass der Finanzvorstand anderer Meinung war als der Konzernchef", meint SdK-Vertreter Lars Labryga.
Deutlich kritischer ist die Lage im Fall Ahold. Der niederländische Einzelhandelskonzern hatte am Montag Falschbuchungen von rund 500 Millionen Dollar eingeräumt. Ahold-Chef Cees van der Hoeven trat zurück, ebenso Finanzchef Michiel Meurs. Die Reaktion der Börse glich einer Hinrichtung: Der Kurs brach um zwei Drittel ein, innerhalb weniger Stunden waren die Aktionäre um sechs Milliarden Euro ärmer. Erstmals hatte die Enronitis einen Konzernriesen aus Europa erfasst. Ursprung war allerdings auch diesmal die USA. Denn die amerikanische Ahold-Tochter US-Foodservice hatte 2001 und 2002 von Lieferanten angebotene Provisionen in den Bilanzen deutlich höher angegeben, als diese dann wirklich ausfielen, oder zu früh verbucht. Nun ermittelt die US-Börsenaufsicht SEC.
Gleichzeitig stuften die Rating-Agenturen die Bonität Aholds auf knapp über Junk-Bond-Niveau (siehe auch Seite 57). Dies trifft die Niederländer hart. Denn der extreme Wachstumskurs seit Anfang der 90er-Jahre wurde hauptsächlich auf Pump finanziert. Mit rund zwölf Milliarden Euro steht Ahold bei den Banken in der Kreide. Nun wird es für die Holländer wesentlich teurer, fremdes Geld aufzunehmen. Inzwischen werden sogar die ersten Worst-Case-Szenarien gespielt: "Eine Insolvenz ist nicht mehr auszuschließen", sagt etwa Tim Attenborough von BNP Paribas. "Wir erwarten, dass der Konzern zerschlagen wird", schätzt Merrill-Lynch-Analyst Andrew Fowler. Dafür spricht, dass das Interims-Management um Aufsichtsrats-Chef Henny de Ruiter Konzernteile, die nicht zum Kerngeschäft gehören, baldmöglichst abstoßen will. Außerdem steht die Konkurrenz schon in den Startlöchern, um sich die Perlen aus dem Ahold-Portfolio, dessen Wert auf insgesamt 15 Milliarden Euro geschätzt wird, zu sichern. Für die US-Supermärkte sollen Kroger und Safeway Interesse bekundet haben. Und auch Wal-Mart, größter Einzelhändler der Welt, ist als Käufer im Gespräch.
Das Ahold-Desaster zog gleich die ganze Branche in Europa nach unten, auch Metro und KarstadtQuelle verloren deutlich. Da half es auch nichts, dass Hubertus Pellengahr, Sprecher des Hauptverbandes des Deutschen Einzelhandels, sogleich erklärte: "Die Reaktion der Märkte ist völlig irrational und nicht nachvollziehbar." Deutsche Handelsunternehmen seien nicht annähernd so stark in den USA engagiert und würden auf hohe Transparenz in der Bilanzierung achten. Auch drei Finanzwerte aus dem Euro Stoxx 50 wurden in Mitleidenschaft gezogen: Fortis, ING Groep und Aegon. Sie hielten jeweils zwischen sechs und acht Prozent der Ahold-Anteile.
Der Fall Ahold könnte von Bayer allerdings noch übertroffen werden. Die Bilanz der vergangenen Woche: Aktienkurs um 22 Prozent eingebrochen, das Image sackte kerzengerade im Keller. Und das Desaster bei dem Pharma-Konzern hat einen Namen: Lipobay. In der vergangenen Woche verdichtete sich an der Börse der Verdacht, dass das Bayer-Management das Medikament zumindest fahrlässig zu spät vom Markt genommen hat. Dies belegen interne Memos, E-Mails, Faxe und eidesstattliche Aussagen von Managern, die EURO am Sonntag vorliegen. Einige der gewichtigsten Vorwürfe im Einzelnen:
• Bayers amerikanischer Vertriebspartner Glaxo Smith-Kline soll bereits vor der Einführung von Lipobay in den USA festgestellt haben, das Medikament sei weder so effektiv noch so sicher, wie man es sich zu Beginn der Zusammenarbeit vorgestellt habe;
• Bayer habe spätestens im Jahr 2000 gewusst , dass Lipobay alleine fünf- bis zehnmal häufiger die Nebenwirkung Muskelzerfall (Rhabdomyolyse) auslöst als andere Cholesterinsenker der gleichen Wirkstoffklasse, und dass die Kombination von Lipobay mit Gemfibrozil sogar 100 Mal häufiger zu dieser Nebenwirkung führt; • Und: Bayer habe seine Außendienstmitarbeiter angewiesen, das Thema Nebenwirkungen im Gespräch mit Ärzten nicht anzusprechen.
Seit Montag läuft der erste Prozess in Texas. "Wir werden 500 Millionen Dollar Strafschadenersatz (punitive damages) beantragen", sagte Rechtsanwalt Mikal Watts gegenüber EURO. Bei diesen so genannten "punitive damages" handelt es sich um eine Art zusätzliche Strafe, die verhängt werden kann, wenn der Beklagte schuldhaft gehandelt hat. Sie kann ein Vielfaches des normalen Schadensersatzes betragen. "Wir werden über 100 neue, interne Bayer-Dokumente präsentieren, die die Geringschätzung des Konzerns für Kunden und die Vertuschung der ganzen Angelegenheit belegen. Die Unterlagen werden zeigen, dass Bayer Informationen über die Nebenwirkungen von Lipobay vor Patienten, Ärzten und Zulassungsbehörden verborgen hat." Auch anderswo nimmt der Druck auf Bayer zu: "Wir haben eine Sammelklage und Strafschadenersatz beantragt", erklärt Robert Hopper von der Kanzlei Zimmerman Reed in Minneapolis.
Bayer hat den Vorwürfen nicht allzu viel entgegenzusetzen - außer sie zu bestreiten. Denn Kommentare zum laufenden Verfahren sind dem Konzern aus rechtlichen Gründen nicht erlaubt. Die Zitate aus internen Unterlagen seien aus dem Zusammenhang gerissen. Bayer habe stets korrekt und einwandfrei gehandelt, heißt es aus Leverkusen. Mit ganzseitigen Anzeigen in verschiedenen Tageszeitungen versuchte der Konzern vergangene Woche, sich zu rechtfertigen. Eine Aktion mit ähnlicher Zielsetzung in den USA ging aber bereits gewaltig nach hinten los: Am Tag, als im texanischen Corpus Christi ein Lipobay-Prozess begann, verschickte Bayer einen Brief an über 2100 Einwohner der Stadt (siehe Ausriss). Darin wurde darauf hingewiesen, dass Bayer 2000 Mitarbeiter in Texas habe und darum bitte, Berichte über den Prozess nicht voreingenommen zu sehen - auch "angesichts des enormen Beitrags, den Bayer zur Gesundheit von Menschen weltweit geleistet hat und weiter leisten wird".
Das Gericht reagierte äußerst verärgert und beauftragte den Bezirksstaatsanwalt mit Ermittlungen. Denn der Brief könnte als rechtswidriger Versuch gewertet werden, Jurymitglieder zu beeinflussen. Bayer entschuldigte sich für den Vorfall und erklärte, der Brief sei aus Versehen an die falsche Empfängerliste geschickt worden. Er sei ursprünglich nur für Mitglieder der örtlichen Handelskammer gedacht gewesen.
Der materielle Schaden des Lipobay Skandals ist inzwischen unkalkulierbar geworden. 125 Millionen Euro flossen bereits für 450 Vergleiche ohne Schuldeingeständnis, 500 weitere Vergleiche sind in Arbeit. Rückstellungen hat Bayer bislang mit Verweis auf eine Produkthaftpflichtversicherung verweigert. Branchenkenner schätzen, dass dadurch Schäden von einer Milliarde Euro abgedeckt werden. Die Summe könnte aber auch darüber liegen. Prognosen von Analysten bewegen sich zwischen einer und zehn Milliarden Dollar.
Auf dem derzeitigen Kursniveau sind allerdings bereits mehr als zehn Milliarden Dollar Schadenersatz eingepreist - eine eher unrealistische Annahme. Sollten die Kläger Bayer allerdings nachweisen, dass der Konzern tatsächlich über die Risiken von Lipobay Bescheid wusste, dann müsste wohl auch die Versicherung nicht zahlen. Denn schuldhaftes Verhalten ist bei jeder normalen Haftpflichtversicherung ausgeschlossen.
Ist also tatsächlich alles nur noch Lug und Trug? Natürlich nicht. Dennoch geben die Vorfälle der vergangenen Woche einige Fingerzeige. So wird spekuliert, dass vor allem Pharmafirmen künftig mit einem gewissen Risikoabschlag gehandelt werden könnten.
Dennoch glauben Experten nicht, dass deutsche Aktien in Sippenhaft genommen werden. Die Börse reagiert zwar derzeit rigoros auf hohe Risiken. Andererseits wissen Anleger auch bei Krisenfällen zu unterscheiden. Während Bayer und Ahold tief in der Minuszone verharrten, konnte die Deutsche Telekom bereits einen Großteil ihrer Verluste in der zweiten Wochenhälfte wieder wettmachen. Nicht nur Hans Eichel dürfte sich darüber freuen.
von Carl Batisweiler, Julia Gross, Tobias Meister und Joachim Spiering
Euro am Sonntag 09/03
Am 9. Juni 2000 war die Welt noch in Ordnung. Die so genannte dritte Tranche der Telekom-Aktien war gerade problemlos am Markt untergebracht worden. Stückpreis 66,50 Euro. Telekom-Chef Ron Sommer und Bundesfinanzminister Hans Eichel freuten sich über 15 Milliarden Euro Einnahmen, und an der Frankfurter Börse herrschte business as usual.
Inzwischen ist nichts mehr in Ordnung. Die Telekom-Aktien notieren bei 10,40 Euro, Ron Sommer musste seinen Posten räumen, das gleiche Schicksal droht Hans Eichel. Und an der Börse geht mittlerweile die Angst um: "Jeder bangt um seinen Arbeitsplatz. Wer bis jetzt noch nicht gehen musste, muss befürchten, dass er dazu da ist, um als Letzter das Licht auszuschalten", sagt ein Händler frustriert.
Dabei ist es nicht nur der drohende Irak-Krieg, der den Börsianern immer mehr zusetzt. Vergangene Woche war es vor allem die Serie schockierender Einzelfälle, die ihnen den Boden unter den Füßen wegrissen: die Deutsche Telekom im Visier klagender Aktionärsschützer, Ahold frisiert wie zu besten Enron-Zeiten seine Bilanzen, und das Bayer-Management steht sogar im Verdacht, von den tödlichen Nebenwirkungen des Medikaments Lipobay gewusst zu haben, ohne das Arzneimittel vom Markt zu nehmen. Selbst für hartgesottene Börsianer ist das allmählich zu viel. Sie fragen sich: Ist alles nur noch Lug und Trug? Gehen Manager über Leichen? Und welche Horror-Nachricht kommt als nächste? Dass die Ex-Mannesmann-Bosse Klaus Esser und Co bald auf der Anklagebank sitzen dürften, weil sie sich bei der Übernahme durch Vodafone unzulässigerweise die Taschen vollgestopft haben sollen, wirkt da schon fast wie eine Kleinigkeit.
Dabei ist die Serie der Horrormeldungen pures Gift für die Börse. Denn die Märkte sind ohnehin hypernervös - siehe auch die Abstrafung der HypoVereinsbank (Seite 5). Das Resultat: Der DAX fiel zeitweise auf 2433 Punkte, dem tiefsten Stand seit sieben Jahren. "Der Markt ist völlig irrational", stöhnt Olaf Gabriel, Händler bei der Commerzbank. "Ich kann nur hoffen, dass die Meldungen der vergangenen Tage nicht zur Routine werden." Auch Vermögensverwalter Jens Ehrhardt wirkt resigniert: "Zurzeit wird alles rausgehauen, nur weil es Aktie heißt."
Vernunft ist momentan nicht gefragt. Beispiel Deutsche Telekom: Ob an dem Vorwurf der Aktionärsschützer und Anwälte (siehe Interview) überhaupt etwas dran ist, wird sich noch zeigen müssen. 230 Millionen T-Aktien aus dem Bestand des Bundes wurden im Sommer 2000 an die Börse gebracht. Bislang lautet der Vorwurf, dass Ron Sommer und Hans Eichel Warnungen des ehemaligen Telekom-Finanzchefs Joachim Kröske, der Kauf des britischen Mobilfunkers One2One für zehn Milliarden Euro sei zu hoch, einfach in den Wind geschlagen hätten. Der Preis von 66,50 Euro je Telekom-Aktie sei deshalb überhöht gewesen.
Aber selbst die Schutzgemeinschaft der Kleinaktionäre (SdK) warnt vor "übereilten Schritten" und will durch einen Anwalt selbst erst mal überprüfen, ob eine Klage wegen Prospekthaftung Aussicht auf Erfolg haben könnte. Aus heutiger Sicht mag der Vorwurf schlüssig sein. Damals aber lag der Kaufpreis für One2One nach Ansicht der Experten im Rahmen. "Nicht unbedingt ein Schnäppchen, aber ein fairer Preis", zitierte EURO seinerzeit Analyst Michael Schatzschneider von der BHF-Bank. Auch an der Börse wurde der Kauf moderat aufgenommen: Am Tag der Bekanntgabe legte die Aktie zunächst von 37,90 auf 39,10 Euro zu, bevor sie auf 36,75 Euro nachgab. Ob sich hinter dem Fall Telekom tatsächlich "der größte Emissionsbetrug der deutschen Börsengeschichte" verbirgt, wie Aktienexperte Wolfgang Gerke bereits orakelte, ist deshalb zweifelhaft. "Es reicht nicht, dass der Finanzvorstand anderer Meinung war als der Konzernchef", meint SdK-Vertreter Lars Labryga.
Deutlich kritischer ist die Lage im Fall Ahold. Der niederländische Einzelhandelskonzern hatte am Montag Falschbuchungen von rund 500 Millionen Dollar eingeräumt. Ahold-Chef Cees van der Hoeven trat zurück, ebenso Finanzchef Michiel Meurs. Die Reaktion der Börse glich einer Hinrichtung: Der Kurs brach um zwei Drittel ein, innerhalb weniger Stunden waren die Aktionäre um sechs Milliarden Euro ärmer. Erstmals hatte die Enronitis einen Konzernriesen aus Europa erfasst. Ursprung war allerdings auch diesmal die USA. Denn die amerikanische Ahold-Tochter US-Foodservice hatte 2001 und 2002 von Lieferanten angebotene Provisionen in den Bilanzen deutlich höher angegeben, als diese dann wirklich ausfielen, oder zu früh verbucht. Nun ermittelt die US-Börsenaufsicht SEC.
Gleichzeitig stuften die Rating-Agenturen die Bonität Aholds auf knapp über Junk-Bond-Niveau (siehe auch Seite 57). Dies trifft die Niederländer hart. Denn der extreme Wachstumskurs seit Anfang der 90er-Jahre wurde hauptsächlich auf Pump finanziert. Mit rund zwölf Milliarden Euro steht Ahold bei den Banken in der Kreide. Nun wird es für die Holländer wesentlich teurer, fremdes Geld aufzunehmen. Inzwischen werden sogar die ersten Worst-Case-Szenarien gespielt: "Eine Insolvenz ist nicht mehr auszuschließen", sagt etwa Tim Attenborough von BNP Paribas. "Wir erwarten, dass der Konzern zerschlagen wird", schätzt Merrill-Lynch-Analyst Andrew Fowler. Dafür spricht, dass das Interims-Management um Aufsichtsrats-Chef Henny de Ruiter Konzernteile, die nicht zum Kerngeschäft gehören, baldmöglichst abstoßen will. Außerdem steht die Konkurrenz schon in den Startlöchern, um sich die Perlen aus dem Ahold-Portfolio, dessen Wert auf insgesamt 15 Milliarden Euro geschätzt wird, zu sichern. Für die US-Supermärkte sollen Kroger und Safeway Interesse bekundet haben. Und auch Wal-Mart, größter Einzelhändler der Welt, ist als Käufer im Gespräch.
Das Ahold-Desaster zog gleich die ganze Branche in Europa nach unten, auch Metro und KarstadtQuelle verloren deutlich. Da half es auch nichts, dass Hubertus Pellengahr, Sprecher des Hauptverbandes des Deutschen Einzelhandels, sogleich erklärte: "Die Reaktion der Märkte ist völlig irrational und nicht nachvollziehbar." Deutsche Handelsunternehmen seien nicht annähernd so stark in den USA engagiert und würden auf hohe Transparenz in der Bilanzierung achten. Auch drei Finanzwerte aus dem Euro Stoxx 50 wurden in Mitleidenschaft gezogen: Fortis, ING Groep und Aegon. Sie hielten jeweils zwischen sechs und acht Prozent der Ahold-Anteile.
Der Fall Ahold könnte von Bayer allerdings noch übertroffen werden. Die Bilanz der vergangenen Woche: Aktienkurs um 22 Prozent eingebrochen, das Image sackte kerzengerade im Keller. Und das Desaster bei dem Pharma-Konzern hat einen Namen: Lipobay. In der vergangenen Woche verdichtete sich an der Börse der Verdacht, dass das Bayer-Management das Medikament zumindest fahrlässig zu spät vom Markt genommen hat. Dies belegen interne Memos, E-Mails, Faxe und eidesstattliche Aussagen von Managern, die EURO am Sonntag vorliegen. Einige der gewichtigsten Vorwürfe im Einzelnen:
• Bayers amerikanischer Vertriebspartner Glaxo Smith-Kline soll bereits vor der Einführung von Lipobay in den USA festgestellt haben, das Medikament sei weder so effektiv noch so sicher, wie man es sich zu Beginn der Zusammenarbeit vorgestellt habe;
• Bayer habe spätestens im Jahr 2000 gewusst , dass Lipobay alleine fünf- bis zehnmal häufiger die Nebenwirkung Muskelzerfall (Rhabdomyolyse) auslöst als andere Cholesterinsenker der gleichen Wirkstoffklasse, und dass die Kombination von Lipobay mit Gemfibrozil sogar 100 Mal häufiger zu dieser Nebenwirkung führt; • Und: Bayer habe seine Außendienstmitarbeiter angewiesen, das Thema Nebenwirkungen im Gespräch mit Ärzten nicht anzusprechen.
Seit Montag läuft der erste Prozess in Texas. "Wir werden 500 Millionen Dollar Strafschadenersatz (punitive damages) beantragen", sagte Rechtsanwalt Mikal Watts gegenüber EURO. Bei diesen so genannten "punitive damages" handelt es sich um eine Art zusätzliche Strafe, die verhängt werden kann, wenn der Beklagte schuldhaft gehandelt hat. Sie kann ein Vielfaches des normalen Schadensersatzes betragen. "Wir werden über 100 neue, interne Bayer-Dokumente präsentieren, die die Geringschätzung des Konzerns für Kunden und die Vertuschung der ganzen Angelegenheit belegen. Die Unterlagen werden zeigen, dass Bayer Informationen über die Nebenwirkungen von Lipobay vor Patienten, Ärzten und Zulassungsbehörden verborgen hat." Auch anderswo nimmt der Druck auf Bayer zu: "Wir haben eine Sammelklage und Strafschadenersatz beantragt", erklärt Robert Hopper von der Kanzlei Zimmerman Reed in Minneapolis.
Bayer hat den Vorwürfen nicht allzu viel entgegenzusetzen - außer sie zu bestreiten. Denn Kommentare zum laufenden Verfahren sind dem Konzern aus rechtlichen Gründen nicht erlaubt. Die Zitate aus internen Unterlagen seien aus dem Zusammenhang gerissen. Bayer habe stets korrekt und einwandfrei gehandelt, heißt es aus Leverkusen. Mit ganzseitigen Anzeigen in verschiedenen Tageszeitungen versuchte der Konzern vergangene Woche, sich zu rechtfertigen. Eine Aktion mit ähnlicher Zielsetzung in den USA ging aber bereits gewaltig nach hinten los: Am Tag, als im texanischen Corpus Christi ein Lipobay-Prozess begann, verschickte Bayer einen Brief an über 2100 Einwohner der Stadt (siehe Ausriss). Darin wurde darauf hingewiesen, dass Bayer 2000 Mitarbeiter in Texas habe und darum bitte, Berichte über den Prozess nicht voreingenommen zu sehen - auch "angesichts des enormen Beitrags, den Bayer zur Gesundheit von Menschen weltweit geleistet hat und weiter leisten wird".
Das Gericht reagierte äußerst verärgert und beauftragte den Bezirksstaatsanwalt mit Ermittlungen. Denn der Brief könnte als rechtswidriger Versuch gewertet werden, Jurymitglieder zu beeinflussen. Bayer entschuldigte sich für den Vorfall und erklärte, der Brief sei aus Versehen an die falsche Empfängerliste geschickt worden. Er sei ursprünglich nur für Mitglieder der örtlichen Handelskammer gedacht gewesen.
Der materielle Schaden des Lipobay Skandals ist inzwischen unkalkulierbar geworden. 125 Millionen Euro flossen bereits für 450 Vergleiche ohne Schuldeingeständnis, 500 weitere Vergleiche sind in Arbeit. Rückstellungen hat Bayer bislang mit Verweis auf eine Produkthaftpflichtversicherung verweigert. Branchenkenner schätzen, dass dadurch Schäden von einer Milliarde Euro abgedeckt werden. Die Summe könnte aber auch darüber liegen. Prognosen von Analysten bewegen sich zwischen einer und zehn Milliarden Dollar.
Auf dem derzeitigen Kursniveau sind allerdings bereits mehr als zehn Milliarden Dollar Schadenersatz eingepreist - eine eher unrealistische Annahme. Sollten die Kläger Bayer allerdings nachweisen, dass der Konzern tatsächlich über die Risiken von Lipobay Bescheid wusste, dann müsste wohl auch die Versicherung nicht zahlen. Denn schuldhaftes Verhalten ist bei jeder normalen Haftpflichtversicherung ausgeschlossen.
Ist also tatsächlich alles nur noch Lug und Trug? Natürlich nicht. Dennoch geben die Vorfälle der vergangenen Woche einige Fingerzeige. So wird spekuliert, dass vor allem Pharmafirmen künftig mit einem gewissen Risikoabschlag gehandelt werden könnten.
Dennoch glauben Experten nicht, dass deutsche Aktien in Sippenhaft genommen werden. Die Börse reagiert zwar derzeit rigoros auf hohe Risiken. Andererseits wissen Anleger auch bei Krisenfällen zu unterscheiden. Während Bayer und Ahold tief in der Minuszone verharrten, konnte die Deutsche Telekom bereits einen Großteil ihrer Verluste in der zweiten Wochenhälfte wieder wettmachen. Nicht nur Hans Eichel dürfte sich darüber freuen.