Wenn Wissen zu Sand wird
Vor nicht allzu langer Zeit galt sie allerorten als die große Zukunft. Jetzt scheint sie schon wieder Vergangenheit zu sein: die New Economy. War sie nur Illusion, nur Irrsinn? Oder hat ihr Niedergang etwas verschüttet, was wir bald sehnlichst vermissen werden?
Vielen der einst umjubelten Internet-Unternehmen ging es mehr um das schnelle Geld sals darum, ein solides Unternehmen aufzubauen. Oft scheiterten sie an der Dummheit ihrer Kapitalgeber, oft aber auch an der Unerfahrenheit ihrer manchmal etwas zu jungen Manager und Eigner. Das ist nicht despektierlich gemeint, im Gegenteil: Die New Economy war ein Jugendkultur-Business, in ihrer Art einzigartig. Da konnten sich ihre Vertreter keine Vorbilder nehmen. Da mussten sie selbst Erfahrungen sammeln.
Nicht wenige der E-Business- und E-Commerce-Unternehmen haben den Börsensturz überlebt. Was aber in den meisten Fällen verschwand, ist der einzigartige Teamgeist. Die Mannschaften gingen auseinander - und ihre Motivation, ihre Energie und ihre gemeinsame Intelligenz gingen verloren. Genau das aber war das eigentliche Kapital der New Economy. Die Teams waren kreativ, wild, innovativ, kooperativ et cetera. Ihr Ziel war nicht nur Erfolg, Profit, sondern zugleich auch Anerkennung, Spaß, activity. Die hohe Intensität der Arbeit war kein Problem, weil Arbeit und Leben identisch schienen. Die work/life-balance stimmte, weil Arbeit als vital empfunden wurde, als real life. Das spiegelte eine neue Einstellung zur Arbeit wieder: new work.
Wie anders, wie zukunftsweisend die Wirtschaftskultur der New Economy war, zeigt sich am deutlichsten in ihrem Umgang mit Wissen.
Die Old Economy mit ihren klaren Hierarchien neigt dazu, Wissen einzubunkern. Wissen wird nicht geteilt, sondern taktisch eingesetzt - mit dem Risiko, dass weniger Innovationen entstehen. Jeder in der Hierarchie eines Unternehmens behält sein Wissen für sich. Er weiß: Sobald er es preisgibt, stellt er es anderen zur Verfügung, die sich damit über ihn hinwegsetzen.
Genau umgekehrt hat es die New Economy versucht: mit freiem Wissensaustausch. Jeder erzählt jedem, was er weiß, und zwar im Überfluss. Das geschah in einer Atmosphäre der Kreativität. Vieles konnte selbst oder in schneller Kommunikation mit anderen entschieden werden. Der relativ niedrige Level an Hierarchie machte jeden Mitarbeiter zum virtuellen Zentrum der Organisation (und führte dazu, dass sich die Mitarbeiter gegenseitig genauer beobachteten und auf Fehler hinwiesen).
Weil es fast allen gleichzeitig gehörte, kam es nicht so sehr auf das Wissen selbst an. Sondern darauf, möglichst schnell und viel daraus zu machen. Wissen wurde zum freien Gut, wie Sand am Strand oder Sauerstoff. In diesem Sinne war die New Economy das erste Experiment, wie die künftige Wissensgesellschaft aussehen könnte.
Dieser Versuch ist gescheitert. Die New Economy war so damit beschäftigt, neue Formen der Organisation in der Wissensgesellschaft zu erproben, dass sie ihr primäres Ziel, neue Märkte zu schaffen und profitabel zu nutzen, oftmals vergaß. Wer jedoch meint, nun zu einer gewohnten Normalität zurückkehren zu können, übersieht, wie viel uns dann verloren ginge.
Was die New Economy ausgemacht hat, gilt es zu bewahren. Dazu gehört:
1. Exzellente Leute exzellent arbeiten zu lassen. Oft scheitern exzellente Leute an nicht so exzellenten Vorgesetzten. Das kann bedeuten, eher den Kapitän auszuwechseln als die Mannschaft. Denn entscheidend ist nicht, die Hierarchie aufrechtzuerhalten, sondern die Produktivität.
2. Netzwerkbeteiligungen fördern. Exzellente Leute kennen meist andere exzellente Leute in anderen Unternehmen. Diese Leute sollen in ihren Netzwerken Wissen tauschen. Der Nutzen für die Firma, die das fördert, ist so hoch wie das Wissen anderer Firmen, das ihr zugute kommt. Allerdings unter der Bedingung, dass das Wissen der eigenen Firma ebenfalls anderen zugute kommt.
3. Neue Ideen verwirklichen. Um Unternehmertum im Unternehmen zu fördern (intrapreneurship), werden Mitarbeiter gegebenenfalls mit eigenen Budgets ausgestattet.
4. Im Unternehmen Arenen bauen, in denen Kreativität sichtbar wird. Es geht darum, Spielräume zu eröffnen.
5. Das heißt auch: Vertrauen schenken. Das ist die Zusammenfassung vieler Aspekte der New Economy und schließt die Erwartung der Kooperation ein - statt des Konflikts oder des Wettbewerbs. Wer anderen vertraut, erwartet Zuarbeit statt Störung. Wie organisiert man Vertrauen? Die Antwort lautet: Schaut in die New Economy.
6. Der entscheidende Punkt ist vielleicht: Die New Economy schien deshalb so erfolgreich zu sein, weil sie auf Kultur setzte, auf Motivation, auf spirit, nicht auf hard facts. Dass die hard facts sie eingeholt haben, ist womöglich nur ein Beweis dafür, dass die Entfaltung von Kultur und von Vertrauen mehr Zeit braucht, als nach schnellem Gewinn gierende Wagniskapitalgeber zugestehen können.
7. Die Frage, die uns die New Economy hinterlässt, lautet schlicht: Wie viel Zeit lassen wir uns für Entwicklungen? Können wir weniger auf kurzfristige Erfolge setzen? Haben wir vernünftige Zeitbalancen? Fordert time management nicht mehr, als alles einfach in weniger Zeit erledigen zu wollen? Ist time management nicht stattdessen vor allem dort vonnöten, wo sich etwas langsam entwickeln soll?
8. Die New Economy war dort schlecht, wo sie, über Anreizsysteme, motivieren wollte, wo sie etwa feste Gehälter durch Aktienoptionen ersetzte. Sie hat zu oft die Gier der Mitarbeiter nutzen wollen und sie in die Hysterie getrieben. Sie hat sie nicht dazu gebracht, ihrer Kreativität zu folgen und soziale Intelligenz zu entwickeln, beides macht exzellente Kooperation aus. Als die selbst mitgebrachte Motivation verbraucht war, war keine reifende Struktur vorhanden.
Im Nachhinein erscheint die New Economy als unreif. Aber: Haben wir sie überhaupt reifen lassen? Sind es nicht wir, die unreif sind, weil wir etwas, das länger hätte reifen müssen, vorzeitig abbrachen?
zeit.de