Vor knapp zehn Tagen hat die Credit Suisse Group (CSG) ihre Generalversammlung abgehalten. Nach dem katastrophalen Jahresabschluss hätte man eigentlich erwarten können, dass die Aktionäre sich mit Macht und Stimmkraft zu Wort melden würden. Doch weit gefehlt. Wohl hat die CSG fast 1,19 Mrd. Namenaktien ausstehend, vertreten waren indessen nicht einmal 30% . Diese schlechte Präsenz erklärt sich nicht mit der Situation bei der CSG; auch bei anderen Generalversammlungen ist die Situation oft ähnlich. Eine Teilantwort geben vielmehr Schwachstellen der Schweizer Aktienrechtsreform von 1991.
Genügend flüssige Mittel vorausgesetzt, ist wirtschaftlich gesehen der Erwerb börsenhnotierter Aktien eine einfache Sache. Man gibt der Bank den Auftrag, zahlt mit dem Preis eine Courtage, und die Sache ist erledigt. Viel komplizierter ist der Vorgang in rechtlicher Hinsicht, und zwar besonders bei den weit verbreiteten vinkulierten Namenaktien. Hier sind vier Stufen zu bewältigen, damit überhaupt die Voraussetzungen für Stimmabgabe und Präsenz an der Generalversammlung geschaffen sind. In der ersten Stufe der Transaktion wird der Verkauf vollzogen. Die Gesellschaft kennt den neuen Eigentümer noch nicht, womit für sie der Veräusserer vorläufig Aktionär bleibt. In der Stufe zwei meldet die Bank des Veräusserers den Handwechsel der Gesellschaft. Nun ist der Veräusserer aus dem Aktienbuch der Gesellschaft zu streichen, obwohl der Name des Erwerbers noch nicht feststeht. Damit entstehen die sogenannten Dispo-Aktien. Der neue Käufer wird nur eingetragen, wenn er ein Gesuch um Anerkennung einreicht (Stufe drei) und ihn die Gesellschaft durch positiven Entscheid oder Untätigkeit während 20 Tagen als Vollaktionär zulässt (Stufe vier). Doch weshalb soll sich der Erwerber «outen», wenn er nicht primär an den Stimmrechten interessiert ist und via Bankensystem gleichwohl auf Dauer in den Genuss der Vermögensrechte kommt? Seine Lethargie ist in diesem Umfeld rational.
Im Aktienbuch der Gesellschaften entstehen dadurch «leere Stellen». Das eigentlich dem Erwerber zustehende Stimmrecht wird nicht ausgeübt, er bleibt zudem anonym. An der jüngsten Generalversammlung der CSG hat der Dispo-Bestand rund einen Drittel erreicht. Bei anderen Schweizer Gesellschaften kann er bis 50% und mehr ausmachen. Wer mit den Usanzen der Schweizer Stimmbeteiligungen in politischen Belangen vertraut ist, mag die Achseln zucken: Man muss bis ins Jahr 1974 zurückblättern, um bei eidgenössischen Urnengängen im Jahresdurchschnitt eine Stimmbeteiligung von 55% anzutreffen. Und wie in der Politik erhöht sich auch in den Unternehmen durch die Abstinenz der einen die relative Stimmkraft der anwesenden Aktionäre. Doch ein wesentlicher Unterschied besteht: Der politisch Stimmberechtigte erhält ungeachtet seiner allenfalls notorischen Passivität immer das Stimmmaterial. Der Dispo-Aktionär hingegen erhält keine Einladung zur Generalversammlung und hat somit auch keine Kenntnis von den Traktanden. Sofern die Medien nicht im Vorfeld berichten, kann er auch keinen informierten Delegationsentscheid zugunsten der übrigen Aktionäre fällen.
Zu den wuchernden Dispo-Aktien gesellt sich ein weiteres Problem: Auch Aktionäre, welche die «Mühsal» der Anmeldung auf sich genommen haben, können rational und lethargisch sein. An sich haben sie drei Möglichkeiten: Sie können selbst an der Generalversammlung teilnehmen, sich vertreten lassen oder gar nichts tun. Die Vertretung kann, sofern es die Statuten zulassen, durch einen beliebigen Dritten erfolgen, weitaus häufiger wird aber einer der drei institutionalisierten Vertreter (Depotbank, Mitglieder der Gesellschaftsorgane oder der sogenannte unabhängige Stimmrechtsvertreter) beauftragt. Von der persönlichen Teilnahme wird sich vor allem der dispensieren, den die Zeit reut, bei mutmasslich klarem Abstimmungsausgang stundenlang oftmals unbedarfte Voten selbsternannter Spezialisten anhören zu müssen. Doch die Vertretung bedingt eine Instruktion. Erhält der Aktionär die Unterlagen von der Gesellschaft direkt, muss er tätig werden. Sind seine Titel im Bankdepot, muss das Institut um Weisung ersuchen.
Wie verteilten sich nun bei den Generalversammlungen 2002 die Stimmrechtsvertretungen? Eine von Prof. Hans Caspar von der Crone vom Rechtswissenschaftlichen Institut der Universität Zürich unter 286 Publikumsgesellschaften durchgeführte Umfrage ist dem nachgegangen. 176 Unternehmen, von denen 21 im SMI vertreten sind, haben geantwortet.* Bei diesen Gesellschaften wurden 23% der anwesenden Stimmen durch die Organe (SMI-Firmen: 36%) abgegeben. 10 (20)% entfielen auf den unabhängigen Stimmrechtsvertreter, und lediglich 4 (2)% wurden von den Depotvertretern ausgeübt. Das einst berüchtigte Depotstimmrecht der Banken ist also kein Faktor mehr; 20 (SMI- Firmen: 57)% konstatieren eine abnehmende Bedeutung. Zunächst scheint das Ergebnis zu beruhigen: 63 (42)% der Stimmen entfallen direkt auf die anwesenden Aktionäre.
Doch die nächste Schwierigkeit folgt auf dem Fuss. Die Stimmrechtsvertreter erhalten längst nicht immer klare Vorgaben. Der Aktienrechtler Prof. Peter Böckli geht davon aus, dass bei börsenkotierten Firmen die Mehrheit der retournierten Vollmachten ohne Weisung erfolgt. Was nun? Hier behilft man sich mit der Überlegung, wonach jener, der sich die Mühe macht, eine Vollmacht überhaupt zurückzuschicken, und dabei auf besondere Instruktionen verzichtet, wohl am ehesten die Anträge des amtierenden Verwaltungsrats unterstützt. Ergo stimmen dann die Vertreter nach dem Motto «in dubio pro administratione», im Zweifel mit der Verwaltung. Um das Mass des Übels voll zu machen, ist daran zu erinnern, dass der Verwaltungsrat je nach Statuten Aktionären das Stimmrecht begrenzen kann.
Durch den Mix aus Vinkulierung, Stimmrechtsbegrenzung, Verzicht auf Weisungen, persönliches Nichterscheinen an der Generalversammlung und Unterlassung des Gesuchs um Eintragung kommt es dazu, dass lediglich ein Bruchteil der Eigentümer sich tatsächlich um die Belange des Unternehmens kümmert. Bekommt damit Josep Alois Schumpeter doch noch recht, der einst im Zusammenhang mit Aktiengesellschaften geschrieben hatte: «Ein Eigentum, das von Person und Materie gelöst und ohne Funktion ist, macht keinen Eindruck und erzeugt keine moralische Treuepflicht . . . Zuletzt bleibt niemand mehr übrig, der sich wirklich dafür einsetzen will . . .»? Zu wünschen ist, dass sich diese Prophezeiung nicht erfüllt. Kreative Lösungen bestehen. Sie umfassen die Idee der elektronischen Vollmacht, die Lancierung gewerbsmässiger Stimmrechtsvertreter, Nominee-Konstrukte, ein vermehrtes Tätigwerden der Banken beim Besitzwechsel (die Bank des Neuerwerbers einer Aktie wird verpflichtet, diesen als Aktionär eintragen zu lassen) und den Vorschlag, weisungslose Vollmachten proportional den mit Weisung eingegangenen Stimmen anzupassen. So sinnvoll und wichtig diese Massnahmen sind, eines bewirken sie per se leider nicht: die Erkenntnis, dass die Geschicke einer Unternehmung und das eigene Vermögen ein zu wichtiges Gut sind, als dass man es weisungslos dem Verwaltungsrat überlassen sollte. Lethargie, und das müsste eigentlich eine Lehre aus den jüngsten Unternehmenskrisen sein, ist in jeder Hinsicht zu kostspielig.