Die Finanzkrise, die eine Kreditkrise war
Im Jahr 1700 veröffentlichte der französische Ballettmeister Raoul-Auger Feuillet unter dem Titel Chorégraphie die erste Abhandlung zum Tanz, die eine systematische Notation enthielt. Er erfand, wenn man so will, die Idee der Choreographie: der Lenkung und Organisation von Bewegung mittels einer Ordnung von Zeichen.
Die Tanzwissenschaftlerin Susan Forster hat darauf hingewiesen, dass die Umstellung der Wirtschaftsordnung auf Papiergeld in dieselbe Zeit fällt. Sie legt nahe, dass eine Verbindung zwischen beiden Entwicklungen bestehe. Und tatsächlich: wenngleich die massive Einführung der Banknoten unter John Law zunächst zu einem Fiasko führte, spricht daraus derselbe Glaube, die Welt der Bewegungen am effektivsten und sichersten beherrschen zu können, indem man sich ganz auf die Konventionalität eines Zeichensystems verlässt. Das arbiträre, durch keine Notwendigkeit mit dem Realen verbundene Zeichen, das sich bloß durch seinen Gebrauch bestimmt, empfiehlt sich als Instrument im Umgang mit einer verwirrend komplexen Dynamik der Ströme von Körpern und Dingen.
So gibt es im modernen Geld von Anfang ein Moment des Choreographischen. Ohne etwas im Einzelnen festzulegen, verspricht das von allen realen Werten abgelöste Geldzeichen, die ökonomische Dynamik, das freie Spiel der kommerziellen Bewegungen so zu organisieren, dass ein harmonisches Ganzes, ein Tanz daraus wird.
Die Wirkungssphäre dieses Geldes ist für mehrere Jahrhunderte der Kredit. Kredit heißt: Geld geben, um Zeit zu geben. Indem eine Bank jemandem Kredit einräumt, gibt sie ihm Zeit, um etwas anzufangen. Die mit einer Geldsumme gegebene Zeit ist die der unternehmerischen Initiative, das heißt einer Form des Handelns, die sich vollends in die Frist eines Aufschubs einfügt und den Zeitdruck, unter dem sie steht, für eine neue Art von Produktivmachen nutzt. Die Entschlossenheit zum Produzieren und die Entschlossenheit zur Steigerung der Produktion, diese entrepreneurial determination, ohne die der moderne Kapitalismus mit seinem alternativenlosen Bekenntnis zum Wachstum nicht denkbar wäre, entspricht der Zeitbindung des Geldes im Kredit. Und auf diese Weise vollzieht sich zugleich der choreographierende Einfluss des Geldzeichens: Als Kredit gegeben, wird das Geld zum Zeichen für eine Zeit des Möglichen.
Nach dem Zusammenbruch des Goldstandards in den 30er Jahren verständigte man sich darauf, den Wert des Geldes ganz auf die Regulierung des Kreditvolumens zu stützen, und etablierte damit das Regime der eingeräumten Möglichkeiten offiziell als Weltwirtschaftsordnung. Die in Bretton Woods geschaffenen Institutionen, der IWF und die heutige Weltbank, scheinen noch immer den Glauben an eine nahezu unbeschränkte Macht durch die Vergabe von Krediten zu verkörpern: Macht zum Guten oder zum Schlechten.
Doch die "Finanzkrise", die derzeit für so viel Aufruhr sorgt, ist nicht zufällig eine Kreditkrise. Sie betrifft das Geld - ja, natürlich, aber sie dokumentiert vor allem ein Versagen des Geldes als ein Mittel, um Zeit zum Produzieren, Verkaufen, Verdienen, Reinvestieren und Wachsen zu geben. Der "Vertrauensverlust", der große Banken in sich zusammensacken lässt wie Soufflés, ist nur die emotionale Resonanz eines strukturellen Verlustes, den man ganz direkt so zur Sprache bringen sollte: Der Kredit ist am Ende. Das Prinzip des Kredites.
Wer die leere Selbstbezüglichkeit beobachtet, die Geld auf den globalen Finanzmärkten angenommen hat, wo es keine Zeit zum Produzieren und zum wirtschaftlichen Wachstum mehr gibt, sondern selbst unmittelbar zum Medium der Steigerung (das heißt zu ihrer Quelle, ihrem Mittel und ihrem Resultat) geworden ist, den dürfte das nicht überraschen. Die Zeit des Geldes auf den Finanzmärkten ist eine andere als die Zeit des Kredites. Sie impliziert ein anderes Risiko und eine andere Sicherheit. Denn dort gilt im Grunde: je leerer das Geldzeichen ist, je weniger Möglichkeiten es 'enthält', je rascher und direkter es seine eigene Zukunft vorwegnimmt, desto sicherer der Handel damit.
Kredit zu geben wird in einer Weltwirtschaft, die zunehmend von den Bewegungen der Finanzmärkte beherrscht wird, zu einem Vorgang, der sich auf das Geldzeichen immer weniger stützen kann. Denn eben jenes choreographische Potenzial, das Geld in der Moderne hatte, kollabiert in dieser Ökonomie. Die Verbindung zwischen den Zirkulationen des Geldzeichens und den Produktionskreisläufen zerreißt - und es ist gerade die Bank, die Institution, die diese Verbindung verkörpert, an der dieser Riss nun sichtbar wird.
Ob und wie Politik, IWF, Banken und Unternehmen die derzeitige Krise wieder "in den Griff kriegen" (was immer man hier unter "Griff" versteht), scheint im Moment eher offen. Die folgende Frage wird sich aber in jedem Falle stellen: Was lenkt in einer Marktwirtschaft die kommerziellen Bewegungen, wenn das Geld sein choreographisches Potenzial eingebüßt hat? Was könnte eine neue wirksame Währung sein, wenn Währung im Sinne von "währen" bedeutet, den ökonomischen Prozessen die Zeit zu geben, die sie brauchen, um zumindest etwas von dem einzulösen, was wir uns von ihnen versprechen?