Der rechte Baron hat natürlich recht. Der Chefredakteur der „Wirtschaftswoche“ mokierte sich im April 1999 über die moralische Aufgeblasenheit von Schröder, Fischer und Scharping und insbesondere über die Erklärung Schröders, im Kosovo ginge es um Menschenrechte und da sie nur eine Flugstunde von uns entfernt verletzt würden, könne Deutschland nicht tatenlos zusehen. Stefan Baron damals, am 15. April, süffisant: „Sind Menschenleben in Europa mehr wert als etwa in Afrika? Ab welcher Distanz können uns Massenvertreibungen gleichgültig sein? Zwei Flugstunden weit weg oder drei?“ Und belehrend fügte er hinzu: „Die Argumente von Kanzler und Kollegen sind entweder naiv oder heuchlerisch. Als Grundlage für eine verläßlich deutsche Außenpolitik können sie keinesfalls dienen. Gerechte Kriege gibt es nicht, Staaten haben keine Moral, sondern Interessen.“
Wo er recht hat, hat er recht. Welche Interessen also spielten in diesem Krieg eine Rolle und wer hat sie wie weit durchgesetzt?
Ein Kriegsrückblick
Blicken wir zunächst auf das Opfer des 77tägigen Bombenterrors. Die Presse hierzulande war sichtbar irritiert, als sie ihre eigenen Bilder über die jubelnden Menschen in Belgrad, Novi Sad und anderswo zeigte. Denn das Drehbuch für die Bonner Hofjournalisten lautete anders: Durch die Einigkeit der NATO ist der abscheuliche Diktator Milosevic besiegt worden, mußte er bedingungslos kapitulieren.
Tatsächlich: Die jugoslawischen Truppen ziehen aus der Provinz Kosovo ab. Truppen Großbritanniens, der USA, Deutschlands, Frankreichs und Italiens rücken nach. Gemeinhin gilt: Wer das Schlachtfeld räumt, hat verloren. Im Kern ist das so, aber der Satz verlangt nach einigen „Aber“.
Zunächst einmal: Die Sieger konnten das Schlachtfeld erst betreten, nachdem sie ein Papier unterzeichneten, in dem sie die Zugehörigkeit des eroberten Stückes Land zu dem Staat erklärten, dessen Truppen nun abziehen. Papier ist geduldig - aber jedenfalls dort ist die territoriale Integrität Jugoslawiens gewahrt.
Jugoslawien hat nicht kapituliert. Der größte Teil des Landes ist nicht besetzt. Seine Wirtschaft ist zwar zertrümmert, aber die Menschen können und werden sie wieder aufbauen; die Armee ist intakt; es gibt das Bewußtsein, der stärksten Militärmaschine der Welt zweieinhalb Monate lang getrotzt zu haben.
Vor dem Krieg beinhaltete der in Rambouillet vorgelegt Diktatversuch: Zusicherung der ungehinderten Bewegungsfreiheit der NATO-Truppen in ganz Jugoslawien. Jetzt: Rückzug aus der Provinz Kosovo mit der Zusicherung, daß jugoslawische Polizei zurückkehren kann. Rambouillet: Uneingeschränktes NATO-Diktat. Jetzt: zeitlich befristetes UNO-Protektorat in einem Teil Jugoslawiens.
Freude in Bonn, Abnicken in Washington
Bonn: Kein Jubel auf den Straßen, aber in den herrschenden politischen Kreisen. Sie haben ihre Feuerprobe bestanden. Schröder selbst hat mehrfach - zuletzt beim Einjahresjubiläum des neuen Kabinetts - den Krieg als die wichtigste Entscheidung seiner Regierung bezeichnet. Tatsächlich: Die Bundeswehr ist wieder handlungsfähig. Das Volk hat nicht rebelliert, sondern mitgemacht. Das Trauma von 1945 beginnt zu weichen. Es ist vollbracht: Deutschland hat wieder ein Protektorat! Ein ganz kleines zwar nur, nur ein Stückchen einer Provinz eines Balkanlandes - aber aller Anfang ist halt schwer. Es ist das erste deutsche Protektorat nach der Kolonialzeit und nach der kurzen Sumpfblüte von 1939 bis 1945.
Was war - um bei der Leitfrage von Herrn Baron zu bleiben - das Interesse der herrschenden Klassen Deutschlands an diesem Krieg? Es bestand und besteht vor allem darin, die Stellung als vorherrschende europäische Kontinentalmacht ein Stückchen auszubauen. Das ist gelungen. Es ist zwar nicht soweit gelungen, wie gehofft war, aber sie sind vorangekommen. Der deutsche Militärstiefel steht im Balkan.
Jenseits des Atlantiks ist der Jubel unüberhörbar verhaltener. Die Interessenlage der herrschenden Kreise in Washington, Denver und anderswo war ebenfalls klar: Der Kaukausus, der Nahe Osten und das Scharnier für beide, der Balkan, sind amerikanisches Interessengebiet. Sie sind es geostrategisch wegen der Rohstoffvorräte und -verbindungen und sie sind es, um dem europäischen Konkurrenten das Spielfeld Eurasien nicht zu überlassen. Im Kampf der imperialistischen Giganten sind die USA nicht der Angreifer, sondern der Verteidiger. Sie müssen nicht mehr die Nr. 1 werden, sie sind es und sie möchten es bleiben. Sie registrieren seit rund zwei Jahrzehnten ein ökonomisches Stärkerwerden der 1945 tief am Boden liegenden kapitalistischen Staaten Europas. Sie sahen, wie vor allem das deutsche Kapital den Gewinn aus dem Zerschlagen und Zusammenbrechen der realsozialistischen Staatengemeinschaft zog. Sie haben mit der EU einen in seinem Volumen und seiner Geschlossenheit erstmals gleichwertigen Konterpart und mit dem EURO eine Herausforderung des Dollars als der Leitwährung bekommen, deren Unentbehrlichkeit zum Handel in der Welt der Haupthebel war und ist, um die Wirtschaftskraft fremder Länder in die USA zu lenken und dort zu verwerten.
Ungeduldig auf die Zerlegung Jugoslawiens drängende Kraft war Deutschland. Nur der Papst stand Kohl und Genscher bei, als am 23.12.91 Bonn Krotien und Slowenien anerkannte. Die UNO warnte, London warnte, Washington warnte. Der Jugoslawien-Vermittler Carrington erklärte öffentlich, das sei das „Signal zum Bürgerkrieg“. Dieser Bürgerkrieg wurde internationalisiert, weil Washington diese Herausforderung Deutschlands begriffen hatte. Also gingen die Amerikaner mit ihrer stärksten Karte in das Spiel: der militärischen. Sie waren es, die die militärische Eskalation betrieben haben und einige Wochen sah es so aus, als würden die deutschen Zauberlehrlinge die Kräfte fürchten, die sie riefen. Als der Bodenkrieg angesichts der scheinbaren Wirkungslosigkeit der Bombardements immer näher rückte - trotz Bonner Widerstand immer wieder von Washington und London ins Gespräch gebracht -, da schien der aufstrebende deutsche Imperialismus Schiß vor der eigenen Courage zu bekommen. Tatsächlich hat die deutsche Diplomatie die herrschenden Kreise aus der drohenden Sackgasse herausgetrickst.
Die russische Karte
Die Kunst der Diplomatie im imperialistischen Zeitalter besteht bekanntlich darin, auch kleinste Haarrisse zwischen den Interessen handelnder Mächte und auch innerhalb der herrschenden Kreise dieser Mächte selbst auszunutzen. Hinsichtlich der USA lag dieser Haarriß zwischen der Bereitschaft, in dem Gerangel mit EUROland zwar auf die militärische Karte zu setzen, aber eben nicht voll, weil - trotz „Wüstensturm“ - das Vietnam-Trauma noch sitzt. Das Hin und Her um die Apache-Hubschrauber zeigt unübersehbar, daß im Lager des stärksten imperialistischen Räubers heftig gestritten wurde, ob die ganze Macht in diesem Konflikt eingesetzt werden sollte oder nicht. Der Juniorpartner Großbritannien war da ebenso unübersehbar forscher. Wer einmal im „Imperial War Museum“ in London war - dem Museum, in dem der britische Imperialismus nicht gequält, sondern stolz die Devotionalien aus 150 Jahren erfolgreicher Waffengänge zur Schau stellt - stößt als jüngste Abteilung eben nicht auf die Scham Vietnam, sondern auf den Stolz des Falkland-Sieges. Der wird ausführlich zelebriert und jede britische Provinzbücherei ist voll von diversen Erinnerungsbüchern zu diesem Waffengang. Das Vermitteln eines Bodenkrieges bis in die eigene Bevölkerung hinein war in den USA anders als in Großbritannien zäh - unabhängig von der Entschlossenheit der Führung, es zu tun.
Das Verdienst der deutschen Diplomatie war - darin sind sich alle großen bürgerlichen Blätter einig - das Hereinholen „der Russen“. Nun muß mensch sich sowohl auf linker wie auf serbischer Seite vor einem teilweise etwas nostalgisch verklärten Rußland-Bild hüten. Das ist eben heute weniger ehemalige sozialistische Hauptmacht als viel mehr der verarmte Rüpel, der sich in die Herrenrunde, zu der er wieder wie zu Zars Zeiten gehören möchte, notfalls selbst einlädt. Diese Macht Rußland ist nach wie vor groß in ihrer territorialen Ausdehnung und der Zahl ihrer Bevölkerung. Unter Zerschlagung sozialistischer Errungenschaften ist sie seit nunmehr bald zehn Jahren wieder eine kapitalistische Macht, deren herrschende Klasse mafiose Strukturen ausweist und sich nur halten kann, weil sie vom Westen mit Krediten über Wasser gehalten wird, deren Rückzahlung sie durch weitere Auspressung ihres Volkes zu garantieren hat. Sie ist insofern eine labile Macht. Aber sie hat eine Mitgift der von dieser Klasse erdolchten sozialistischen Mutter: die Atomwaffe und zumindest die Reste einer Armee, die gelernt hat, wie Kriege geführt werden und deren Generalstab das nach wie vor kann - davon zeugt der jüngste Coup nach Belgrad.
Nachdem Deutschland also zunächst, als die Bomber von der Leine gelassen wurden, das Spiel mitgespielt hat, die NATO anstelle der UNO zu setzen und damit Rußland (und China) an den Rand zu spielen, hat es Rußland als Rettungsanker benutzt, um den drohenden Bodenkrieg abzuwenden. Mit Baron gefragt: Welche Interessen hat Rußland? Die herrschenden Kreise dieses labilen Landes wissen, daß sie das nächste Spielfeld sind, wenn die Sache mit Jugoslawien durch ist. Es geht um den Kaukasus - ihren Kaukasus. Auch Rußland ist nicht der versoffene Jelzin allein. Nüchtern betrachtet liegt die beste Politik auf der Hand: Je intensiver und länger auf dem Balkan und damit auf Kosten der Balkanvölker herumscharmützelt wird, desto mehr Zeit hat das Land bis zum direkten Griff zu seinen Ressourcen. Also hat Rußland die Einladung Deutschlands, sich doch wieder einzumischen, dankend angenommen, hat Diplomaten und am Schluß auch Teile seiner einst ruhmreichen Armee geschickt.
Die amerikanische Supermacht stand nach dem Krieg unübersehbar verdrossen neben der Taschenspielerrunde aus Deutschen, Eurokraten und Russen. Das Hereinholen oder -kaufen der Jelzin-Russen und das Aufweichen der Kapitulations-Linie von Rambouillet hat Belgrad den Rückzug ermöglicht und so Bonn vor der Nagelprobe Bodentruppen bewahrt. Und so stehen im Kosovo jetzt nicht - wie im Bodenkriegs-Fall - nur amerikanischen und britische Truppen, sondern eben auch italienische, französische, deutsche und russische - wo auch immer. Das nennt mensch „unentschieden“.
Unentschieden ist nicht Sieg und das Spiel um die imperialistische Weltherrschaft nach der historischen Niederlage des Sozialismus von 1989 hat erst begonnen.
Der Kosovo wird Kräfte binden. Die Krisenreaktionskräfte, die die Bundeswehr zur Zeit erst noch bildet, werden überwiegend in den Balkan wandern. Aber schon Ost-Timor hat gezeigt: Diese neue blutrot-olivgrüne Regierung wird keine Kosten scheuen, um das neue deutsche Prinzip deutscher Außenpolitik durchzusetzen, das da lautet: Nie wieder Krieg ohne deutsche Soldaten.
Das beinhaltet sowohl Kumpanei mit anderen Kräften der NATO als auch Rivalitäten. Um das nachzuvollziehen, müssen wir einen etwas gründlicheren Blick auf dieses Instrument werfen, das im Kosovo so unübersehbar der UNO die Werkzeuge aus der Hand genommen hat.
Die NATO: Das gemeinsame Dach ohne Zukunft
NATO steht für „North Atlantic Treaty Organisation“. Der deutsche Brockhaus sagt dem Leser, der sich über diese Organisation genauer informieren will, gleich zu Beginn, sie sei ein „westliches Verteidigungsbündnis auf der Grundlage des am 4.4.1949 geschlossenen Nordatlantikvertrages.“ (1)
Das suggeriert, es hätte einen Angreifer oder jedenfalls eine Bedrohung gegeben - und tatsächlich war die Legitimation in deutschen Schulbüchern jahrzehntelang die, die NATO gäbe es, weil sich der Westen habe verteidigen müssen gegen die Sowjetunion und die mit ihr verbündeten Länder des Warschauer Paktes.
Diesen Irrtum behebt ein Blick in ein viel kleineres Lexikon als den ehrwürdigen Brockhaus, nämlich das „Kleine Lexikon Rüstung, Abrüstung, Frieden“ vom Pahl-Rugenstein-Verlag aus dem Jahre 1981. Dort heißt es unter dem Stichwort NATO: „Am 4.4.1949 auf Initiative und unter Dominanz der USA geschlossene Allianz mit westeuropäischen Staaten und Kanada. Die BRD trat am 9.5.1955 bei, was die Konstituierung der Warschauer Vertrags-Organisation auslöste. Die Allianz war und ist vor allem gegen die UdSSR gerichtet. Als die UdSSR am 31.3.1954 ihren und den Beitritt anderer sozialistischer Staaten in die NATO vorschlug, um eine militärische Konfrontation in Europa zu vermeiden, lehnte die NATO ab. Die NATO war von Anfang an ein Instrument im Rahmen der Globalstrategie der USA...“ (2)
Das dürfte den Kern besser treffen als die Lüge von der „Verteidigung“. Denn wäre das der Sinn gewesen, dann hätte die NATO 1989/1991 tatsächlich das machen müssen, was vor allem Friedensfreunde aus dem Lager der SPD, der Kirchen oder der GRÜNEN nicht nur forderten, sondern wirklich für folgerichtig hielten: die Auflösung dieser Organisation. Diese Friedensfreunde von damals haben damit allerdings nur bewiesen, daß sie - weil sie eben nicht marxistisch analysierten - Propaganda und Wahrheit nicht trennten. Denn das Gerede von der Bedrohung aus dem Osten war eine Propagandaaktion. Wäre sie wahr gewesen, wäre tatsächlich spätestens 1991 der Grund für die NATO entfallen, gäbe es sie schon nicht mehr.
Also hatte und hat Lorenz Knorr recht und der große BROCKHAUS unrecht: Es ging und geht nicht um Verteidigung, sondern um „ein Instrument im Rahmen der Globalstrategie der USA...“
Das Schlüsseljahr 1989
Diese NATO war schon vor 1989 mit weitem Abstand die stärkste bewaffnete Macht der Welt. Sie verfügte über ein mehrfaches des Waffenarsenals der Warschauer Vertragsstaaten sowohl auf konventionellem als auch auf dem Gebiet der Massenvernichtungswaffen, also ABC-Waffen (3). Im Zentrum der NATO steht die USA. Wer sich die Mühe macht, mal auf einer Weltkarte auch andere wichtige Militärpakte einzuzeichnen, trifft auf ähnliche Konstruktionen auch für den amerikanischen Raum (OAS) und den Pazifik (SEATO) - ergänzt von einem festen Militärbündnis zwischen den USA und der heute von ihren Militärhaushalt gesehen zweitstärksten Militärmacht der Welt, Japan. Es gibt nur ein Land, das wie eine Spinne im Netz im Mittelpunkt all dieser Kreise sitzt: die Vereinigten Staaten von Amerika.
Hinsichtlich des sgn. Südostasien-Verteidigungs-Paktes (SEATO) kann mit einiger Mühe die Bedrohungslüge noch aufrechterhalten werden, weil es zwar die Sowjetunion nicht mehr gibt, aber immer noch das kommunistisch regierte China.
Aber für die NATO gab es 1990 akuten Notstand: Der Gegner, mit dem die eigene Existenz begründet wurde, war abhanden gekommen, hatte sich aufgelöst.
Das folgende ist sicher eine der Dinge, über die wir innerhalb der Friedensbewegung zu streiten haben werden. Zuspitzungen erleichtern den Streit und das gemeinsame Vorwärtskommen. Deshalb sind hier die drei Thesen angeführt, über die auch innerhalb der Linken gestritten wird. Denn die Frage, die sich jeder vernünftige Mensch stellt, ist: Warum gibt es diese NATO noch?
Darauf werden in politischen Debatten drei Antworten gegeben.
Antwort 1 ist die herrschende: Zwar gibt es die Bedrohung aus dem Osten nicht mehr. Aber die Welt ist insgesamt gefährlicher geworden. Kleinere Staaten verfügen schon oder bald über militärische Fähigkeiten, die sie in die Lage versetzen, auch unsere eigene Sicherheit zu bedrohen. Deshalb wäre es falsch, das vorhandene Instrument NATO abzuschaffen. Richtig ist - und das wird auch gemacht - das Instrument zu verändern. Das bedeutet Weiterentwicklung von der Abschreckung zur Fähigkeit, schon bei entstehenden Konflikten einzugreifen und ihre Ausbreitung zu verhindern. Daher ist die Verwandlung von einem reinem Verteidigungs- zu einem Interventionsbündnis folgerichtig.
Antwort 2 ist - häufig unter Beimischung von Elementen aus der Antwort 1 - eine quasi überstaatliche: Die NATO hat als ein Verteidigungsbündnis westlicher Staaten eigentlich keinen Sinn mehr. Aber sie wird mehr und mehr zur gemeinsamen militärischen Plattform international operierender Konzerne, die sie benutzen, um notfalls auch mit militärischen Mitteln überall die Gesetze der freien Marktwirtschaft durchzusetzen, damit die „global players“ überall ungestört Profit machen können.
Antwort 3 ist die in den Traditionen von Marx, Lenin und Luxemburg stehende Erklärung: Das Militär ist immer das Zwangsinstrument der herrschenden Klassen. Im Zeitalter des Imperialismus haben sich die Monopole untrennbar mit Staaten und Staatengruppen verschmolzen, die sich im Auftrag ihrer Monopole bekämpfen und notfalls bekriegen Die NATO startete mit dem Auftrag, durch Totrüsten oder notfalls Krieg das alternative Gesellschaftssystem, den Sozialismus, in Europa zu vernichten. Nachdem das gelungen ist, treten die alten Wesensmerkmale des Imperialismus wieder zum Vorschein. Das aber bedeutet: Die imperialistischen Staaten und Staatengruppen, vor allem USA und Euroland, streiten jetzt erneut um ihre Einflußzonen. Die NATO gewinnt damit seit 1989 ein doppeltes Gesicht: Sie ist einerseits der gemeinsame Schild, mit dem die imperialistischen Länder in die ehemals sozialistisch organisierten Räume vordringen. Und zweitens verstärkt sich hinter diesem Schild das Gerangel um die Frage, wer unter den imperialistischen Gruppierungen künftig das Sagen haben soll.
Was die neue Strategie der NATO zur Zeit prägt ...
Die gemeinsame Basis - und wir befinden uns geschichtlich noch in der Phase der Dominanz des Gemeinsamen - ist die Umformung des Bündnisses zu einem Instrument des Eingreifens überall in der Welt.
Das dominierende gemeinsame Merkmale der Streitkräfte der NATO - die ja immer noch, das darf niemals vergessen werden, in nationalen Kontingenten organisiert sind - ist ihre umfassende technische Modernisierung. Die Armeen werden professionalisiert: sie werden (zur Zeit) kleiner, aber deutlich schlagkräftiger. Die Verteidigungsausgaben pro Soldat der Bundeswehr sind von 1989 bis 1994 von 126.000 auf 162.000 DM gestiegen. Die Investitionsquote der Bundeswehr - also die Geldmenge für neue Waffensysteme, die 1990 noch bei 21,1 Prozent lag, ist bis 1996 auf 24,4 Prozent gestiegen und soll bis zum Jahr 2000 nach den Planungen auf 30 Prozent steigen (4).
Die Zahlen für die amerikanische Armee sind hinsichtlich dieser Relationen noch höher, die Trends gehen - wie bei der englischen oder der französischen - aber dennoch in dieselbe Richtung.
Kurz gesagt - und darüber kann es keinen Streit geben, weil die Faktenlage klar ist - ist die Entwicklung seit 1989 so: Die Kriegsfähigkeit der imperialistischen Staaten war durch die schiere Macht der Sowjetunion und ihrer Verbündeten 1949 bis 1989 bedroht. Seit diese Bedrohung nicht mehr existiert, entwickelt die NATO vor allem ihre tatsächliche Kriegsfähigkeit in der Praxis. Irak, Jugoslawien und morgen vielleicht schon Tschetschenien sind die Felder, auf denen die NATO diese „endlich“ wieder erlangte Kriegsfähigkeit begierig praktisch ausprobiert.
MarxistInnen meinen: Die Politik folgt der Ökonomie und Gesetz und Propaganda folgen als Pat und Paterchon der Politik. Mit anderen Worten: Ökonomisch ist der tiefe Einschnitt von 1989 dadurch gekennzeichnet, daß riesige Gebiete, die bis dahin der Profitmacherei verschlossen waren, geöffnet wurden. Die Politik folgte diesen Möglichkeiten und stärkte das Instrument, mit dem diese Territorien für die Ausbeutung von Mensch und Natur gesichert werden sollten und sollen: Das Militär, also die NATO. Folgerichtig mußte auch das alte offizielle strategische Konzept samt ihrer ganzen propagandistischen Sprachregelungen, die von gut bezahlten Journalisten tagein, tagaus über die Medien geblasen werden, verändert werden. Denn es stammte ja noch aus jener längst vergangenen Epoche von vor der Zeitenwende 1989. Das neue Konzept beinhaltet das Recht der NATO, nicht nur zur Verteidigung der eigenen Sicherheit, sondern schon bei Bedrohung sogenannter legitimer Interessen militärisch einzugreifen - und zwar erstens ohne jede Legitimation durch die Völkergemeinschaft, also die UNO und zweitens auch jenseits der Grenzen der zur NATO gehörenden Staaten. Und das neue Konzept schließt auch - gegen anfängliche zaghafte Versuche der neuen Bundesregierung, das zu ändern - den Ersteinsatz von Atomwaffen nicht aus (5).
Aber selbst eine Bedrohung irgendwelcher „legitimer Interessen“ deutscher oder amerikanischer oder englischer Bürger durch das, was im Kosovo passiert - selbst wenn mensch Scharpings Märchenstunde für die Wahrheit halten würde - ist nicht feststellbar. Oder sollen künftig die Einschränkungen der Tourismusindustrie schon in den Rang von Interessen kommen, deren Bedrohung den Kriegsfall auslöst?
Was also tun die NATO-Öffentlichkeitsverantwortlichen in einer solchen Lage? Sie stellen die CD „Humanitätsgedusel“ so laut, daß sie alle kritischen Fragen übertönt.
Und so haben wir alle Puzzleteile zusammen, die die neue NATO-Strategie kennzeichnen: Umprofilierung von einer Territorial- zu einer Interventionsarmee, Aufblähung der Rüstungshaushalte vor allem durch elektronische Investitionen, Veränderung der Verträge, um Interventionen außerhalb der eigenen Grenzen zu legitimieren, verstärkte Moralisierung der offiziellen Politik und Propaganda. ... und wo die Reise wohl weiter hingeht.
Das alles ist zum Kotzen schon reichlich genug. Wahrscheinlich aber kommt’s noch schlimmer. Wenn die obige Antwortvariante 2 recht hat (Variante 1 war eh’ nur für die, die noch an das Gute im Clinton glauben), dann erwartet uns wohl so eine Art neues düsteres römisches Zeitalter auf hohem technischen Niveau. So wie einst die Legionen so ziehen dann die NATO-Truppen - Bomber voran - in all diejenigen Länder, die sich der globalen Herrschaft der transnationalen Konzerne und ihren neoliberalen Gesetzen zu widersetzen wagen. Nachdem nun Illyricum (6) befriedet ist, ziehen die Legionen des neuen ROM weiter in das in Unordnung geratene Reich des früheren Widersachers Rußland.
Dieser Abschnitt des Bildungsthemas soll mit einer Gegenthese zu dieser Position enden und so der Debatte dienen. Denn es ist zu befürchten, daß alles noch viel schlimmer kommt als die Anhänger der oben skizzierten Antwortvariante 2 glauben. Neu ist nicht, daß sich irgendwo US-Truppen festsetzen. Neu am Kosovo ist, daß sie das nicht mehr, wie von 1945 bis 1990 gewohnt, alleine tun. Zum ersten Mal seit 1918 und seit der kurzen Sumpfblütenzeit von 1939 bis 1944 hat Deutschland wieder eine Art Kolonie, ein Protektorat - wenigstens ein kleines Stückchen davon: den südlichen Teil des Kosovo, wo nach dem Schreiben dieses Artikels wohl deutsche Truppen einmarschieren und de facto deutsches Recht gilt. Das vor allem ist das bedrohliche: Innerhalb und noch unter dem gemeinsamen Dach der NATO bildet sich eine neue innerimperialistische Konfrontation heraus.
Die These hier also lautet: Der Hauptfeind von morgen ist nicht die NATO. Die NATO ist der Sack, in dem sich die Konfrontation entwickelt. Der Hauptfeind steht im eigenen Land. Es ist der mit Frankreich und Italien verbündete deutsche Imperialismus, der, nachdem er Kontinentaleuropa unter seiner Führung geeinigt hat, schrittweise die Konfrontation mit der nach wie vor dominierenden Militärmacht USA entwickelt. Im Schoße der NATO wächst so die Gefahr eines neuen Weltkrieges unter den Mächten, welche die NATO zur Zeit noch vereint. (7)
Anmerkungen zu diesem Teil:
(1) Brockhaus in 5 Bänden, Mannheim/Leipzig 1993
(2) Lorenz Knorr, Kleines Lexikon Rüstung, Abrüstung, Frieden, Pahl-Rugenstein-Verlag, Köln 1981, S. 133 - übrigens: unbedingt zugreifen, wenn Ihr das auf einem Antiquariats-Büchertisch findet. Auch heute noch eine Fundgrube vor allem für die ganze Zeit der Koexistenz kapitalistischer und sozialistischer Staaten in Europa.
(3) Atomare, Biologische, Chemische Waffen - zwar von diversen Konventionen vom Völkerbund bis zur UNO geächtet, aber trotzdem mit hohem Einsatz (und hohem Gewinn) weiterproduzierte und -verfeinerte Waffensysteme
(4) Zahlen nach Arno Neuber, Neue Strategie, neue Waffen, neuer Rüstungsboom, in: Marxistische Blätter, 3/97, S. 44f
(5) ausführlich und sehr gut dazu: Arno Neuber, Neue NATO-Strategie: Faustrecht gegen den Rest der Welt, in: Marxistische Blätter special, NATO-Krieg und Kosovo-Konflikt, Essen 1999, S. 57ff
(6) frühere römische Bezeichnung für das, wo jetzt die NATO herrscht
(7) Dazu ausführlich und für diese Debatte unentbehrlich: Wolf-Dieter Gudopp, Der Imperialismus und die Periode der Weltkriege, in: Marxistische Blätter 3/97, S. 67-72
Zurückgeworfen um 100 Jahre?
Historikern kommt einiges an diesem Kosovo-Krieg von allen großen gegen eine kleine Macht merkwürdig bekannt vor. Denn das folgende spielte sich fast genau 100 Jahre früher ab:
Rosa Luxemburg kämpfte vergeblich. Das Protokoll des SPD-Parteitags vom 17. bis 21. September 1900 in Mainz weist zwar lebhafte Zurufe und Heiterkeit bei den prachtvollen rhetorischen Spitzen auf - aber ihre Rede über die dringende Notwendigkeit einer verstärkten Protestbewegung gegen den Chinakrieg hat ihr Ziel, ausgehend von der Sozialdemokratie „in allen Ländern die gleichgültigen Volksmassen aufzurütteln“ (2) nicht erreicht.
Der Chinakrieg ist aus westlichen Geschichtsbüchern als „Boxeraufstand“ bekannt - nach einer damals aktiven chinesischen Untergrundorganisation, die sich „Faustkämpfer für Recht und Einigkeit“ nennt und deren Ziel es ist, die seit den 80er Jahren immer drückendere Fremdherrschaft abzuschütteln. Mit Untersützung der chinesischen Kaiserin dringen Aufständische im Juni 1900 in Peking ein und erwirken, daß den rund 1000 in der Stadt lebenden Ausländern eine Frist von einer Woche gesetzt wird, um die Stadt zu verlassen. Soviel Souveränität ist entschieden zuviel. Und nachdem am 20. Juni im Zuge der anhaltenden Unruhen auch der deutsche Gesandte Klemens Freiherr von Ketteler getötet wird, ist der Anlaß da: 16.000 Soldaten aus 8 kapitalistischen Mächten (Japan, England, Deutschland, Rußland, Österreich, Italien, USA und Frankreich) fallen am 14. August in Peking ein und richten ein Blutbad an - getreu der Anordnung des deutschen Kaisers: „Pardon wird nicht gegeben!“.
Was Rosa Luxemburg zu einer ihrer schwungvollsten Reden auf SPD-Parteitagen treibt, ist aber nicht nur die frische Empörung über dieses Gemetzel allein. Sie versucht ihren Genossinnen und Genossen einzubleuen, daß dies mehr sei als ein weiteres Kapitel in der blutigen Chronologie der Kolonialisierung: „Der chinesische Krieg ist das erste Ereignis der weltpolitischen Ära, in das alle Kulturstaaten verwickelt sind, und dieser erste Vorstoß der internationalen Reaktion, der Heiligen Allianz, hätte sofort durch einen Protest der vereinigten Arbeiterparteien Europas beantwortet werden müssen.“ (3)
Neue weltpolitische Ära - diesen Begriff und diesen Gedanken arbeitet sie in den Monaten vor dem Parteitag in einer Reihe von Artikeln heraus, die sich insbesondere mit der galoppierenden Flottenpolitik des deutschen Reiches und der englischen Militärreform befassen. In diesen Artikeln entwickelt sie einen Gedanken, der innerhalb der europäischen Sozialdemokratie ohne Resonanz bleibt - bis 14 Jahre später die grausame Wahrheit dieser Gedanke sich bestätigt.
Bevor wir zu der Aktualität dieser Gedanken kommen, müssen wir noch zwei geschichtliche Rückblenden machen.
Die erste betrifft diese Militärreform. Sie wird ausgelöst durch den sogenannten Burenkrieg. Nach der Entdeckung von Goldfeldern in Südafrika hatte England im Oktober 1899 einen Krieg gegen die dortige Burenrepublik - holländische Einwanderer - provoziert. Zunächst siegten die Buren und erst im Mai 1902 gelang es den Engländern, die Buren in einem blutigen Vernichtungsfeldzug niederzuwerfen. Zwischen 1899 und 1902 aber steht die erwähnte englische Militärreform. Diese Militärreform interessiert in Deutschland kaum jemanden - und Rosa Luxemburg hat dafür in einem Artikel vom 26. Mai 1900 in der „Leipziger Volkszeitung“ auch Verständnis: „Auf den ersten Blick sind die vorgeschlagenen Reformen ziemlich unbedeutend...“. Ihre sehr sorgfältige Analyse aber, von der hier nur das Kernergebnis dargelegt werden kann, fördert etwas Grundsätzliches zutage. Vor der Reform war die englische Armee in drei Teile gegliedert, von denen nur der geringste - das stehende Heer von 152.000 Mann - und auch dies nur zu einem Teil im Ausland eingesetzt werden durfte. Die Miliz und das Freiwilligencorps aber durften nur zur Verteidigung des Vereinigten Königreiches eingesetzt werden. Damit räumt die Militärreform auf und stellt ausländischen Interventionen die ganze britische Streitmacht zur Verfügung. Luxemburgs Schlußfolgerung: „Auf diese Weise wird zum ersten Mal in die militärische Verfassung Englands das Prinzip des Angriffskrieges und der Weltpolitik eingeführt und durch Gesetz heiliggesprochen. Darin liegt die enorme Bedeutung der Bill des Kriegsministeriums...“. Und diese Prozesse laufen parallel mit dem aggressiv anwachsenden Militärpotential vor allem Deutschlands, aktuell seiner Aufrüstung zur See.
Rosa Luxemburg sieht klarer als andere den Zusammenhang zwischen der gegeneinander gerichteten Aufrüstung der damaligen imperialistischen Hauptmächte und der gemeinsamen Aktion in China, die eben nicht nur den Zweck erfüllt, einen antiimperialistischen Aufstand niederzuschlagen, sondern auch, beim Niederschlagen, auf den Mitschlagenden blickend, die Kräfte künftiger Konkurrenten abschätzen zu können. Und Rosa Luxemburg sieht diese Widersprüche im imperialistischen Block nicht allein - einige hundert Kilometer weiter östlich kommt ein anderer Kopf zu ähnlichen Schlußfolgerungen wie sie. Und diese weit zurückliegenden Überlegungen sind erstaunlich aktuell.
Die erstaunliche Aktualität des alten Lenins für die Friedensfrage
Heute vor 10 Jahren gab es allerorten Friedenseuphorie. Bis weit in die PDS hinein wurde eine Friedensdividende erwartet, wurde die Hoffnung geäußert, nun, nach dem Zerfall des einen Militärbündnisses in Europa könne die Politik doch die Auflösung des anderen auf die Tagesordnung setzen - kurz, es gab die Erwartung nicht nur auf der Rechten, sondern auch bei der zuweilen kampfmüde erscheinenden Linken nach einem Ende der Blockkonfrontation als dem Anfang vom Ende aller Kriege.
Als eine der ganz wenigen Zeitungen in Deutschland, das sei zur Ehre der winzig gewordenen kommunistischen Partei gesagt, hat die UZ, die Wochenzeitung der DKP, in dieser allgemeinen Friedenseuphorie dagegen gehalten.
Im September 1991 hatte gerade Jelzin das russische Parlament zusammengeschossen und mit dem Versuch begonnen, die kommunistische Partei zu liquidieren. Am 20. September war in der besagten UZ folgendes unter der Überschrift „Neue Weltordnung. Prognosen.“ zu lesen: „Dieser September 1991 ist seit dem Oktober 1917 der erste Monat, in dem Europa völlig frei ist. Vom Atlantik bis zum Ural, vom Nordkap bis Sizilien gibt es keine Regierung mehr unter Beteiligung einer Partei, die sich kommunistisch nennt. Der Kontinent ist von ihnen befreit, die Revolution von 1917 annulliert.
Die große Koalition der Antikommunis-ten von Kohl bis Fischer, von Thatcher bis Jelzin hat gesiegt - auch durch die Fehler und die Überheblichkeit der Kommunisten.
Die jetzt Geschlagenen werden nicht wundenleckend am Rande des Geschehens stehen, sie werden im Rahmen ihrer Kräfte weiter eingreifen. Illusionen machen sie sich keine. Kommunistinnen und Kommunisten werden den Gang der Geschichte in Europa für einige Jahre nicht wesentlich mit beeinflussen. Das läßt einige Grundfragen klarer werden. Wir sagen: Der Kapitalismus ist - egal in welchem Gewand - nicht friedensfähig. Wir wagen hier und heute die ehrliche, aber schlimme Prognose: Mit dem Fall der kommunistisch regierten Länder wächst die Kriegsgefahr für die gesamte Menschheit.
Auch die Gegenseite, die der siegestrunken feiernden Antikommunisten, hat ihre Prognose in dieser Hauptfrage. Am 26. August gibt ein Herr von Loewenstein auf Seite eins der „Welt“ diese Prognose für die Gestaltung der Zukunft in der von kommunistischen Regierungen freien Welt ab: „Jetzt endlich zeichnet sich die zukünftige neue Weltordnung, der Weltfriede, eindeutig ab, nun, da die UdSSR nicht mehr unter dem Druck der Welteroberer-Ideologie steht ...“
Wir nehmen diesen Satz auf Wiedervorlage. Halten wir aber fest, was wohl unbestreitbar ist: Die Zeit von 1945 bis 1990, in der Kommunisten die Regierungen in halb Europa stellten, war eine bisher für unseren Kontinent unbekannte Zeit von 45 Jahren Frieden.
Für die nächsten 45 Jahre gibt es zwei Prognosen. Die der Sieger von heute, die da lautet: Die Kommunisten sind weg, der Frieden kommt. Und unsere Prognose: Die Kommunisten sind schwächer, der Frieden ist unsicherer.“
Die Tatsache, daß die große „Welt“ damals unrecht und die kleine „UZ“ damals recht hatte, liegt schlicht und ergreifend darin begründet, daß wir unsere Analysen auf Lenin fußen und andere nicht.
Der Grundgedanke, der dieser damaligen Prognose zugrunde lag, war in seiner Struktur höchst simpel: Wir gingen aus von Lenins Imperialismusanalyse und seiner Kern-Schlußfolgerung, daß dieses System nicht aufgrund der Boshaftigkeit irgendwelcher Politiker oder aufgrund politischer Zwänge, sondern aufgrund seiner grundlegenden ökonomischen Struktur zur Aggression nach außen und zur Repression nach innen treibt.
Dieses aggressive Wesen ist unveränderlich - übrigens auch unbeschadet aller damaligen SPD-SED- oder vielleicht noch kommender SPD-PDS-Thesen. Eingedämmt wurde es nur in den Jahren von 1917, vor allem aber nach 1945 bis 1989 durch die bewaffnete Macht der Systemalternative. Imperialismus ist insofern zwar strukturell nicht friedensfähig, aber historisch erwiesenermaßen friedenserzwingungsfähig. Wenn aber nun diese äußere Zwangsjacke „Warschauer Vertrag“ weg ist, so unsere Folgerung, müsse das aggressive Wesen des Imperialismus sich wieder vermehrt entfalten, müsse es also verstärkt zu Kriegen kommen. Das war im Grunde alles, das ist im Grunde alles und das trifft - leider - den Kern der heutigen Friedensfrage.
Die Aktualität Lenins erschöpft sich aber nicht darin, daß seine Analysearbeit die Frage beantwortet und erklärt, ob die Welt friedlicher oder kriegerischer wird, sie besteht auch darin, daß in seiner Analyse m.E. nach wie vor die Grundrichtung herauslesbar ist, in der sich die Konflikte entwickeln werden.
Dies allerdings ist ein Streitpunkt auch innerhalb der marxistischen Linken und er muß m.E. ordentlich ausgefochten werden so wie es gute marx’sche und lenin’sche Tradition ist.
Inzwischen bestreitet keiner mehr ernsthaft: Dieses 20. und das 21. Jahrhundert wird ein Doppeljahrhundert der Kriege und großen Schlachten sein. Nur 8 Staaten über 1/2 Millionen Einwohner sind aus dem noch laufenden Jahrhundert herausgekommen, ohne durch eine Revolution, bewaffnete Konterrevolution, einen Militärcoup oder einen Bürgerkrieg zu gehen und von diesen 8 haben nur zwei sich nicht an den beiden Weltkriegen beteiligt (4). Nichts deutet darauf hin, daß die Zahlen ab übernächstem Jahr sich wesentlich anders entwickeln.
Das also scheint unstrittig. Aber wird diese heraufziehende Welt eher eine Art globales Rom werden mit den USA als unbestrittene Führungsmacht, umgeben von zweitrangigen Vasallenstaaten, die mit diesem neuen Rom durch tausend Fäden verbunden sind, zwar rangeln, aber nicht auftrumpfen und die mit dem neuen Rom gemeinsam kriegerisch lediglich dann werden, wenn es gilt, an den Grenzen des Reiches aufmüpfige Klein- und Mittelstaaten zur Räson zu bringen?
Dieses Bild schwebt m.E. in den Köpfen auch der meisten Linken. Es wird begründet einmal mit der alles überragenden Stärke der USA und - mehr noch - mit der verbindenden Kraft der ökonomischen Globalisierung, nach der die Interessen der transnationalen Konzerne zwar die Ausbeutung weltweit vorantreiben, aber einen großen Krieg zwischen den imperialistischen Nationen doch mehr und mehr unwahrscheinlich werden lassen.
Für diese gegenwärtige Mehrheitsmeinung der Linken möchte ich zwei Belege anführen:
Willi Gerns argumentiert - übrigens mit ausdrücklicher Unterstützung dieses Aufsatzes durch das DKP-Sekretariat - in den „Marxistischen Blättern“ folgendermaßen: „Allerdings wird der mit der Ungleichmäßigkeit der Entwicklung im Imperialismus zusammenhängende Kampf um die Neuaufteilung der Welt und der Einflußsphären heute noch in erster Linie mit ökonomischen und politischen Waffen ausgetragen. Mit einem Weltkrieg zwischen den imperialistischen Metropolen ist meiner Überzeugung nach in der absehbar nächsten Zeit nicht zu rechnen. Dafür sehe ich vor allem drei Gründe: erstens die heute noch bestehende absolute militärische Überlegenheit der USA gegenüber den anderen Metropolen und imperialistischen Zentren; zweitens die Gefahr, daß ein solcher Krieg zum alles vernichtenden Atomkrieg werden könnte; drittens den Umstand, daß die transnationalen Konzerne in ihren Interessen heute häufig mit mehreren Staaten und Staatengruppen direkt verbunden sind, was dem Austragen von Konflikten zwischen diesen Staaten mittels Kriegen in einem gewissen Maße entgegenwirkt.“ (5)
Das schließt sich nahtlos an an eine bereits vorher vorgebrachte Argumentation von Leo Mayer vom gewerkschaftsnahen Institut für sozial-ökologische Wirtschaftsforschung in München, in der es im Anschluß an eine Analyse über die Entstehung von globalen Produktionsnetzen der transnationalen Konzerne heißt: „Dies hat Auswirkungen auf die Wirtschafts- und Außenpolitik. Im Vordergrund steht nicht mehr der Schutz der einheimischen Monopole vor der Konkurrenz, z.B. durch Schutzzollpolitik, und auch die Tendenz zur gewaltsam-militärischen Korrektur der ökonomischen und politischen Kräftekonstellation zwischen den führenden imperialistischen Mächten wird relativiert. In den Vordergrund tritt die Förderung der Konkurrenzfähigkeit der eigenen transnationalen Konzerne und das gemeinsame Interesse des transnationalen Kapitals und der Regierungen an der Sicherung von Rahmenbedingungen, die eine relativ störungsfreie Internationalisierung des Kapitals erlauben.“ (6)
Wir hoffen ja alle, daß die beiden recht haben. Die Hoffnung, die sie äußern und ihre Kernbegründung ist allerdings nicht neu.
Unbestreitbar ist: Kapitalismus hat den Weltmarkt hergestellt. Er hat dies in einem ersten Schritt getan durch die Globalisierung des Warenverkehrs. Das hat die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts geprägt. Er hat dies in einem zweiten Schritt getan durch die Globalisierung des Kapitalaustausches - das prägte die letzte Jahrhundertwende. Er tut dies gegenwärtig in einem dritten Schritt durch die Globalisierung der Produktion selbst - die sich allerdings bei nüchterner Betrachtung der erreichten Größenordnung dieses Prozesses noch sehr im Anfangsstadium befindet.
Alle diese Schritte der Globalisierung aber waren auf bürgerlich-pazifistischer Seite stets begleitet von der Illusion, das lege der Kriegsbereitschaft Fesseln an. Und alle diese Illusionswellen schwappten immer auch ins sozialistische Lager hinein. Das ist heute offenbar nicht anders.
Es gab um die Jahrhundertwende ein Buch, das damals ein wirklicher Bestseller und so eine Art Bibel der Friedensfreunde aller Richtungen war. Sein Autor war der Engländer Norman Angell, sein Titel: The Great Illusion. Dieses Buch wurde in 14 Sprachen übersetzt und erschien 1912 in Leipzig in deutscher Übersetzung unter dem Titel „Die falsche Rechnung“. (7)
Dieses Buch argumentiert aus der damaligen Sicht bestechend überzeugend - und das machte wahrscheinlich seine große Anhängerschaft aus. Angell registriert wie alle aufmerksamen Zeitgenossen seit ungefähr 1898 die zunehmende Aufrüstung Deutschlands gegen England und vermutet völlig richtig, daß dahinter vermeintliche ökonomische Interessen stünden. Das Buch besticht durch eine glänzende nüchterne ökonomische Abwägung der Gründe, die für und gegen einen Krieg der großen Nationen untereinander sprechen. Der Kern seiner Argumentation ist: Früher mögen Kriege gelohnt haben, heute, im Zeitalter der intensiven Handelsbeziehungen und der Massenheere lohnen sie nicht mehr, sie erschöpfen beide Beteiligten in einem Maße, daß nicht nur die Verlierer, sondern auch die scheinbaren Sieger am Ende ökonomisch ruiniert dastehen sie also eine „falsche Rechnung“ angestellt haben. Und im Vortext der deutschen Ausgabe erscheinen lange Darlegungen seitens der bürgerlichen ökonomischen Presse, die aus der Sicht des weltweiten Handels genauso diese Argumentation heftig unterstützen.
Wie gesagt: Ein brillantes Buch, Nicken auf allen Seiten, eine scheinbar schlüssige, überzeugende, materialistische Argumentation - und alles Müll. Es kostet heute einigen Aufwand, das Buch aus den hinteren Bibliotheksregalen wieder hervorzukramen, in denen es im August 1914 beerdigt wurde.
Was war Angells Fehler? Es war der gleiche wie der von Mayer, Gerns und anderen. Er überschätzte das Gewicht eines Trends, vor allem aber überschätzte er die Gesamtrationalität des kapitalistischen Systems.
Geschichte fließt nicht im Takt der Dauer eines Menschenlebens. Was wir gegenwärtig erleben, ist strukturell nach der sozialistischen Niederlage in Europa von 1989 eine Wiedererstarkung der Mechanismen, die 1914 zum ersten Weltkrieg führten und die danach in dieser Form nicht weiter aktiv waren, weil auf den August 1914 der November 1917 und später der Mai 1945 folgten. Der Vulkan war zwar nicht mehr aktiv - aber er war nur zugepfropft. Hinter all’ den gegenwärtigen Friedenserwartungen steckt die dünne, aber durch nichts belegte Annahme, daß das Gewicht der internationalen Produktionsnetze schwerer ist als das Gewicht der alten, 1989 von der Last der Systemkonkurrenz befreiten alten imperialistischen Strukturen.
Solange diese dünne Annahme aber nicht bewiesen ist, gilt - auch gegenüber Leuten, die sich um den Marxismus in diesem Land verdient gemacht haben - , was Lenin zu dieser Frage schrieb (wobei ich annehme, daß Lenin Angell’s Buch kannte, auch wenn er es hier nicht namentlich nennt): „Manche bürgerliche Schriftsteller (denen sich jetzt auch K. Kautsky zugesellt hat, der seiner marxistischen Einstellung z.B. von 1909, völlig untreu geworden ist) gaben der Meinung Ausdruck, daß die internationalen Kartelle, als eine der am klarsten ausgeprägten Erscheinungsformen der Internationalisierung des Kapitals, die Erhaltung des Friedens zwischen Völkern erhoffen lassen. Diese Ansicht ist theoretisch völlig unsinnig und praktisch ein Sophismus, eine unehrliche Methode, den schlimmsten Opportunismus zu verteidigen.... Die Kapitalisten teilen die Welt nicht etwa aus besonderer Bosheit unter sich auf, sondern weil die erreichte Stufe der Konzentration sie zwingt, diesen Weg zu beschreiten, um Profite zu erzielen; dabei wird die Teilung ‘nach dem Kapital’, ‘nach der Macht’ vorgenommen - eine andere Methode der Teilung kann es im System der Warenproduktion und des Kapitalismus nicht geben.“ (8)
Wer dem Imperialismus die Fähigkeit unterstellt, im gesamtgesellschaftlichen Interesse zu denken und zu handeln, landet unweigerlich bei Kautzky. Aber es ist eben eine völlig unbewiesene Unterstellung aus dem scheinbar gesunden Menschenverstand heraus. Sowohl der erste als auch der zweite Weltkrieg haben eine Fülle von Beispielen dafür geliefert, daß die internationalen Verflechtungen überhaupt keine Barriere bieten für das Auslösen eines Krieges zwischen den kapitalistischen Hauptnationen - und die Angst vor dem Untergang der Welt übrigens noch viel weniger.
Es ist doch bekannt, daß im ersten Weltkrieg Siemens munter Elektroausrüstungen an dänische und norwegische Firmen lieferte, die - mit Wissen aus München - in der britischen Kriegsflotte landeten, die damit wiederum die deutschen Schiffe mitsamt ihrer Siemens-Kriegsausrüstung auf den Boden der Nordsee schickten. Was hindert denn Daimler-Chrysler daran, im kommenden Krieg sowohl LKWs an die US Army als auch an die Bundeswehr gleichzeitig zu verkaufen und sich daran zu freuen, wenn sie sich gegenseitig möglichst viele davon kaputtschießen? Etwa die Angst vor einem Atomkrieg? Das ist weinerliche Gefühlsduselei. Warum verwendet denn das Pentagon einen erheblichen Teil seiner Forschungsgelder darauf, die in den 60er Jahren gleichzeitig klar und hoch liegende Atomkriegsschwelle abzubauen und die Scheidelinie zwischen konventionellen und atomaren Kriegen zu einer Grauzone werden zu lassen, innerhalb derer dann militärische Operationen stattfinden können? Wenn die Angst vor einem Atomkrieg auch bei den Herrschenden - und nur auf sie kommt es zur Zeit leider an - so übermächtig ist: warum dann die Entwicklung der Neutronenbombe, warum die Miniaturisierung der Atomwaffen bis zur Ebene der kleinkalibrigen Granaten hinunter, warum der Einsatz von urangehärteter Munition im Irak und Kosovo - doch wohl, um den Atomkrieg führbar zu machen. Und das Beschwören der Unführbarkeit eines doch „alles vernichtenden Atomkrieges“ ist dann wirklich nur noch hilfloses Jammern Wehrloser.
Bleibt als Argument gegen einen drohenden Waffengang zwischen den imperialistischen Mächten selbst nur noch die alles überragende Überlegenheit der USA. Das schützt uns tatsächlich noch eine Weile - aber der Ablauf dieser Galgenfrist ist absehbar wie der Ablauf der Galgenfrist ab 1898 absehbar war, deren Wesen eben in der alles erdrückenden Überlegenheit der englischen Flotte gegenüber der deutschen bestand. Am Abbau dieser Überlegenheit wird bekanntlich heftig gearbeitet - die deutsche Panzerwaffe hat sich in den 70er Jahren von der amerikanischen Abhängigkeit gelöst, in den 80er Jahren gelang dies dank Tornado und Erstkonzeption des Eurofighter in der Luftwaffe, jetzt in den 90er Jahren wird das Ziel eines unabhängigen Satellitensystems offen verkündet und im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts wird Deutschland via WEU Zugriff zu Atomwaffen haben und wenn das französische Potential nicht reicht, werden sich mehrere Referenten im auswärtigen Amt noch einmal in die Rapallo-Akten vertiefen, um zu sehen, wie die Diplomatie dieses militärische Problem lösen helfen könnte.
Kurz um, die Uhr läuft auch hier und von dem toten Lenin können wir nun wirklich nicht mehr verlangen als den Hinweis, daß es diese Uhr unverändert gibt. Draufsehen müssen wir schon selbst.
Lenin ist hilfreich auch für mehr Klarheit in einem anderen Streit. Die angesichts der Tiefe der Zäsur ziemlich kümmerliche deutsche Friedensbewegung gegen den Jugoslawien-Krieg ums Kosovo hat über weite Strecken den zunächst vernünftigen Versuch gemacht, bei den Erklärungen zu den Kriegsursachen an die Erfahrungen aus dem Irak-Krieg anzuknüpfen. Damals war klar: Es geht um „Blut für Öl“. Also ist auch diesmal intensiv nach Ölfeldern und - da es sie nicht gab - ersatzweise nach anderen Rohstoffen bzw. wenigstens Zugängen zum Öl geforscht worden. Diese nahen Ölfelder wurden im Kaukasus entdeckt und dann gab es einen ziemlich verkrampften Streit darum, wie wichtig Jugoslawien und speziell das Kosovo als Zugang zu diesen Ölquellen sei.
Nun ist es menschlich verständlich, wenn nach den endlosen Zitatenschlachten der 70er Jahr eine gewisse Scheu besteht, abermals braune oder blaue Bände wedelnd in die Debatten zu ziehen. Dennoch - ein bißchen mehr „Schlag nach bei Lenin“ hätte in diesem Falle genützt. Wiederum in Auseinandersetzung mit Kautsky, diesmal in der Frage, warum der Imperialismus nicht nur agrarische Gebiete erobert, schreibt der alte Russe: „Für den Imperialismus ist gerade das Bestreben charakteristisch, nicht nur agrarische Gebiete, sondern sogar höchst entwickelte Industriegebiete zu annektieren (...), denn erstens zwingt die abgeschlossene Aufteilung der Erde, bei einer Neuaufteilung die Hand nach jedem beliebigen Land auszustrecken, und zweitens ist für den Imperialismus wesentlich der Wettkampf einiger Großmächte in ihrem Streben nach Hegemonie, d.h. nach der Eroberung von Ländern, nicht so sehr direkt für sich als vielmehr zur Schwächung des Gegners und Untergrabung seiner Hegemonie ...“ (9)
Das ist nach wie vor gültig und erklärt nicht nur das Drängeln jeder imperialistischen Macht, die was auf sich hält, in diesen Krieg hinein, der gut und gerne auch von ein bis drei Mächten allein hätte gewonnen werden können. Dies erklärt m.E. eben auch, warum dies vom Charakter her ein qualitativ anderer Krieg ist als die Kriege, unter denen wir aufgewachsen sind: Ob Vietnam, ob Falklands, ob Irak und alles dazwischen: Das waren jeweils Kriege einer imperialistischen Nation (zuweilen auch einiger) um ihre Eigeninteressen. Im Kosovo ging es aber vor allem um die Positionierung der Mächte unter- und gegeneinander. Insofern ist er m.E. ein klassischer Vorfeldkrieg wie der China-Krieg 1899. Er gehört historisch-systematisch schon zur aufsteigenden Linie, die zum III. Weltkrieg führt.
Der von Lenin genannte Aspekt wird auch von einigen KPen so gesehen - mindestens von den arabischen. In einer gemeinsamen Erklärung schreiben sie, daß es natürlich um Jugoslawien gehe. Aber nicht nur das: „Auf der anderen Seite bestehen Washingtons Ziele darin, die US-Militärpräsenz im Balkan zu verstärken - einer Region, die sich Washington zu unterwerfen und zu kontrollieren versucht, so daß sie ein Sprungbrett wird, um Druck auf Rußland auszuüben und es einzukreisen, aber auch, um von innen heraus gegen Europa zu arbeiten und den Prozeß der Einigung zu behindern, der der US-Hegemonie im Wege steht.“ (10)
Wir sollten uns vor der arroganten Meinung hüten, wir seien einen zivilisatorischen Quantensprung von der alten Struktur entfernt, die zu zwei Weltkriegen führte. Wir sind es nicht. Noch einmal zu den ökonomischen Daten. Natürlich haben die Handelsbeziehungen heute zugenommen. Aber wir werden übernächstes Jahr folgendes plastisch sehen: Die Exportraten Deutschlands werden zurückschnellen als ob Du in einem Auto mit Drehzahlmesser vom zweiten in den vierten Gang schaltest. Der Grund: Mit Wirken des Euro ist die Berechnungsgrundlage für die Exportanteile nicht mehr der enge deutsche Markt, von dem aus auch die LKW-Fuhre nach Belgien Export ist, sondern der kontinentaleuropäische Markt. Und in dieser Größenordnung gilt: Die Ökonomie spielt sich überwiegend zuhause ab. Damit gilt dann hier das, was sowohl für die USA als auch für den asiatischen Markt als zusammengerechnete Größe gilt. Damit wird klar: Das, was als Globalisierung beschrieben wird, ist bei nüchterner Datenbetrachtung vor allem eine Kontinentalisierung und das stellt für die traditionellen nationalen Monopole vor allem die Aufgabe, kontinentalbeherrschendes Monopol zu werden. Diese Aufgabe haben die USA mit ihrem Bürgerkrieg im letzten Jahrhundert blutig gelöst und das macht im Kern ihre historische Überlegenheit in diesem Jahrhundert aus. Deutschland hat zwei blutige, aber gescheiterte Anläufe gemacht, um einen vergleichbar großen Markt in Europa hinzubekommen. Nachdem im Kampf gegen England 1914/18 die großeuropäische Lösung gescheitert war, haben sie 1939 zunächst die kontinentaleuropäische versucht und fast geschafft. Und Kohl-Schröder-Deutschland hat dieses wichtige Etappenziel mit der Einführung des EURO und der Aufrüstung der WEU jetzt labil zwar, aber im großen und ganzen endlich erreicht.
Noch einmal Lenin. Damit hat Deutschland - mit ein bißchen Verspätung - die Aufgabe gelöst, die Lenin klar formuliert hat.
Er bringt diese Aufgabenstellung nach der Auswertung einer Tabelle mit den damals führenden Mächten. Japan taucht dort indirekt auf, spielt aber noch nicht die heutige Rolle. Setze im folgenden Text Japan an die Stelle Englands und England selbst mit Querstrich als Juniorpartner zu den USA (11) und Du hast ziemlich genau die heutige Konstellation:
„Wir sehen hier drei Gebiete mit hochentwickeltem Kapitalismus (...): das mitteleuropäische, britische und amerikanische; darunter drei weltbeherrschende Staaten: Deutschland, England und die Vereinigten Staaten. Die imperialistische Konkurrenz und der Kampf unter ihnen werden dadurch außerordentlich verschärft, daß Deutschland nur über ein ganz kleines Gebiet und wenig Kolonien verfügt; die Bildung ‘Mitteleuropas’ liegt noch in der Zukunft, und seine Geburt geht in einem erbitterten Kampf vor sich.“ (12)
Die Geburt ist kurz vor dem Ende, genug Blut hat’s gegeben und die Zukunft beginnt pünktlich mit der Jahrtausendwende im Januar 2001.
Klar ist aber, wenn Lenins Analyse in seinen Kerndaten stimmt: Dies ist für das dann kontinentaleuropäische, aus deutschen Traditionen kommende Kapital eine Zwischenetappe. Kapitalismus ist Weltmarkt und die Herrschaft auf einem Kontinent kann nur Ausgangspunkt für den Kampf um die Weltherrschaft sein.
Dieser Kampf ist ökonomisch eröffnet mit der Bildung des EURO. Es liegt in der Natur gesellschaftlicher Prozesse, daß er seine militärische Ergänzung hervorrufen wird. Aber der Kernfakt ist der EURO. Mit ihm wird die Destabilisierung eingeleitet. Niemand täusche sich über den engen Zusammenhang zwischen Währung und Krieg. Der bristische Historiker Hobsbawn hat recht: „Die Katastrophe zwischen den Kriegen, deren Wiederholung ohne Zweifel verhindert werden muß, hat viel zu tun mit dem Zusammenbruch des globalen Handels- und Finanzsystems und dem darauf folgenden Zerbrechen der Welt in einzelne autarke Nationalökonomien oder Reiche. Das globale System war einst durch die Hegemonie oder wenigstens durch die zentrale Stellung der britischen Ökonomie und seine Währung, dem Pfund Sterling, stabilisiert worden. Zwischen den Kriegen waren Britannien und das Pfund nicht länger stark genug, um diese Last zu tragen, die nun nur von den USA und dem Dollar übernommen werden konnte.“ (13)
In der Tat: Die Zeiten einer unangefochtenen kapitalistischen Leitwährung waren nie Zeiten ohne Unterdrückung und sogenannte kleine Kriege (die für die betroffenen keine kleine Kriege, sondern immer die großen, zentralen Lebenskatastrophen sind). Aber es waren Zeiten des Friedens zwischen den großen kapitalistischen Hauptnationen: das viktorianische Zeitalter und die goldenenen 50er bis 70er Jahre dieses Jahrhunderts. Die Angriffe auf Leitwährungen waren historisch immer identisch mit dem Heraufdämmern militärischer Waffengänge zwischen den Hauptnationen und dies ist kein zufälliger, sondern ein innerer Zusammenhang.
Es ist oben vom III. Weltkrieg gesprochen worden und allein dieses Wort löst in Diskussionsrunden jedesmal geweitete Augen und dünn werdende Lippen aus. Ich glaube in der Tat, daß wir dieser Gefahr aufrecht ins Auge blicken müssen und wir sie nicht kleinreden dürfen. Meine Auffassung ist so: Wir müssen uns für die kommenden zwei Jahrzehnte auf einen ökonomischen, politischen und auch militärischen Höllenritt vorbereiten. So wie die Kräfteverhältnisse gegenwärtig sind, halte ich die Verhinderung eines Krieges zwischen imperialistischen Hauptnationen - und das verbirgt sich ja hinter der Formulierung vom Weltkrieg - für möglich, aber unwahrscheinlich.
Aber um die Möglichkeit, es zu verhindern, müssen wir kämpfen mit allem, was wir an Herzblut und Klarheit haben. Wir brauchen die Analyse im Kopf, die Wut im Bauch und die Kritik in der Hand. Es gilt das, was in der Zeit der faschistischen deutschen Besetzung in Holland an vielen Hauswänden stand: Es ist sehr ärgerlich, einen Handschuh zu verlieren. Aber es gibt kaum etwas schlimmeres, als einen Handschuh zu verlieren, dann den zweiten wegzuwerfen und anschließend den ersten wiederzufinden.
Anmerkungen:
(1) „Denn der Menschheit drohen Kriege, gegen welche die vergangenen wie armselige Versuche sind, und sie werden kommen ohne jeden Zweifel, wenn denen, die sie in aller Öffentlichkeit vorbereiten, nicht die Hände zerschlagen werden.“ - Bertolt Brecht, Zum Völkerkongreß für den Frieden, Wien 1952, in: Brecht, Ein Lesebuch, Berlin und Weimar 1977, S. 481
(2) Rosa Luxemburg, Werke I/1, 7. Auflage, Berlin 1990, S. 801
(3) ebenda
(4) Nach Eric Hobsbawn, Age of Extremes, London 1994, S. 459
(5) Willi Gerns, Heutiger Imperialismus und antimonopolistische Strategie, in: Marxistische Blätter, 3/99, S. 45
(6) Leo Mayer, Transnationale Produktionsnetze, in: isw-Report Nr. 34, München 1998, S. 12
(7) Norman Angell, Die falsche Rechnung, Was bringt der Krieg ein?, Berlin-Charlottenburg o.J. (nach handschriftlicher Notiz der Universitätsbibliothek Göttingen 1912)
(8) Lenin, Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus, Lenin, Werke (LW), Berlin 1977, Band 22, S. 257
(9) ebenda, S. 273
(10) CPs of Arab Countries, in: Political Affairs, New York, April 1999, p. 30, Übersetzung MS
(11) Die Sonderrolle Englands in unserer Zeit ist eine eigene Untersuchung wert. Angedeutet sei hier nur soviel: Meines Erachtens ist England das Opfer der Tatsache, daß sich die Herstellung der Welt als Einheit, die schon im „Kommunistischen Manifest“ beschrieben wird und heute modern als „Globalisierung“ verkauft wird, in unserer Zeit erstens in imperialistischer Deformation stattfindet und sich zweitens auf der Stufe des Zusammenschweißens der Kontinente befindet. Dabei droht der britische Imperialismus in die Lücke zu fallen zwischen dem erstarkenden Deutsch-Europa und dem Weltmacht-Verteidiger USA. Die Herrschenden in diesem früher einmal dominierenden Imperialismus haben sich noch nicht endgültig entschieden, auf welche Seite der kommenden Weltschlacht sie sich schlagen wollen - aber die Zeichen stehen zur Zeit jedenfalls eindeutig eher auf eine neue angloamerikanische Allianz als auf eine Einreihung in Kontinentaleuropa unter deutscher Führung.Das ist m.E. der tiefere Grund für den Nichtanschluß Londons an den EURO, für Rindfleisch- und Weinkriege und vor allem für die Abkopplung der britischen Rüstungsindustrie vom deutsch-französischen Block.
(12) ebenda, S. 277
(13) Eric Hobsbawn, a.a.O., p. 271, Übersetzung MS
Autor: Manfred Sohn, Edemissen
© Philosophischer Salon - Der Verlag
Quelle: Kalaschnikow - Das Politmagazin
Ausgabe 14, Heft 1/00, S. 74ff.