Krise am Neuen Markt: Zwischen Hoffnung und Höhenflug
Von Ralf Zimmermann, Frankfurt
Kaum ein Aktienmarkt ist so schwer zu prognostizieren wie der Neue Markt. Nach wie vor prägen risikobereite Privatanleger den Markt, für die fundamentale Bewertungsmethoden keine Rolle spielen - sofern sie diese überhaupt kennen.
Der Neue Markt bleibt Ersatz für jene, die sich keine Krawatte für die Spielbank umbinden wollen. Ein nicht enden wollender Kursrutsch und die Fragezeichen hinter der US-Konjunktur haben zudem viele Anleger verunsichert.
In den vergangen Tagen haben wir die Gründe für den Aufstieg und späteren Fall des Neuen Marktes detailliert aufgezeigt. Fast alle Beobachter sind sich einig, dass der Neuen Markt vor gut einem Jahr sehr stark überbewertet war. Uneinigkeit herrscht indes über die Zukunftsaussichten.
EM.TV
Für die Optimisten steigt der Markt bald wieder in der gesamten Breite. Danach war der Salami-Crash, der die Kurse auf ein Fünftel seit der Spitze abgesäbelt hat, übertrieben. Der Irrationalität im Aufschwung folgte die Irrationalität im Abschwung. Die Gewinnwarnungen sind schon in den Preisen enthalten - bei EM.TV und Intershop und zahllosen anderen.
Was soll jetzt noch kommen? Die realwirtschaftliche Bereinigung bei den Dotcom-Firmen stärkt die Großen wie T-Online. Es sind auch keine 140 Börsengänger mehr zu erwarten wie im vergangenen Jahr, die in den Feldern der Etablierten wildern. In den kommenden Quartalen ist daher eher mit positiven Gewinnüberraschungen zu rechnen.
Optimisten vertrauen dabei auch auf die menschliche Natur: vor allem Gier und die Angst, einen Trend zu verpassen. Selbst professionelle Investoren sind nicht dagegen immun. Steigen bei guten Nachrichten die Kurse wieder an, werden immer mehr auf den fahrenden Zug aufspringen und die Kurse weiter nach oben treiben. Mit anderen Worten: Nach dem Crash ist vor der Euphorie.
Gigabell
Die Pessimisten hingegen halten einen weiteren Kursrutsch für wahrscheinlich. Der Vertrauensschaden, den Pleitiers wie Gigabell, Manager wie Thomas Haffa, Bilanztrickser wie Infomatec angerichtet haben, ist schwer zu beheben. Der Strom an Negativnachrichten ist noch lange nicht abgeebbt. Der Neue Markt hat bislang erst zwei Konkursanträge gesehen. Es wird weitere Totalausfälle geben. Das lehrt der Blick auf die Nasdaq, wo regelmäßig Unternehmen vom Kurszettel verschwinden.
Der Vergleich mit der Nasdaq zeigt auch noch etwas anderes, was für den Neuen Markt zu denken gibt. Jedes der fünf größten Unternehmen an der Nasdaq - Microsoft, Intel, Cisco, Qualcomm, Oracle - ist schwerer als der gesamte Neue Markt. An der Nasdaq sind Unternehmen notiert, die globale Standards setzen und die Welt mit Software, Halbleitern oder Internet-Bausteinen versorgen. Am Neuen Markt handeln Nischenspieler, die einem deutlich höheren unternehmerischen Risiko ausgesetzt sind. Die deutschen Schwergewichte SAP und Infineon notieren im Dax und nicht am Neuen Markt.
Intershop
Intershop, eine der bekanntesten Firmen am Neuen Markt, machte im vergangenen Jahr gerade mal ein Fünfzigstel des Umsatzes von SAP. Der Neue Markt ist eher mit dem unteren namenlosen Drittel der Nasdaq zu vergleichen. Kleine verschwinden leichter vom Markt als Große. Am Neuen Markt steht eine Bereinigung größeren Umfangs noch aus. Die bedrohten Unternehmen müssen darauf hoffen, gekauft zu werden. Aber bei Firmen, deren Wert aus Mitarbeitern besteht - wie bei Softwareherstellern - ist es viel billiger, die Leute abzuwerben, als die Firma zu kaufen.
Und wenn es weder zu Konkurs noch Übernahme kommt, dann droht der Rückzug von der Börse. Die Firmen müssen teure Leute bezahlen, die sich ständig um die Finanzmärkte kümmern. Ob sich das für die Winzlinge am Markt lohnt, bei denen sogar die Konsortialbanken langsam die Beobachtung einstellen? Rund 120 Unternehmen haben einen Marktwert unter 50 Mio. Euro, die früher oder später außerhalb des Scheinwerferlichts der Öffentlichkeit vor sich hindämmern werden.
Gipfel vorerst unerreichbar
Der Neue Markt wird sich wohl in der Mitte zwischen den Hoffnungen auf einen neuen Höhenflug und den Schwarzmalereien bewegen. Die Optimisten verdrängen jeden Lerneffekte bei Anlegern; die Pessimisten unterschlagen das Kurspotenzial, das sich mittlerweile bei einer Reihe von Aktien bietet. Eine Übertreibung, wie sie das Frühjahr 2000 gebracht hat, wird es nicht mehr geben. Es mag zu zyklischen Zwischenhochs mit langsamem Trendanstieg kommen. Der Gipfel vom März 2000 bleibt auf lange Zeit unerreichbar.
So dümpelt in Japan der umfassende Topix-Index auch elf Jahre nach Platzen der Blase rund 60 Prozent unter dem Rekord. Menschen mögen von der Gier getrieben werden, sie sind aber auch lernfähig. Die Kurse mögen wieder steigen, aber Gewinne werden schneller mitgenommen. Viele Investoren sitzen auf nicht realisierten Verlusten. Sie werden die erstbeste Gelegenheit nutzen, diese Pakete mit Gewinn abzustoßen.
Der Markt dürfte stärker selektieren. Es wird nicht reichen, Aktien zu kaufen und zu hoffen, dass ein steigender Markt sie nach oben treibt. Es gilt, die Unternehmen genauer anzuschauen und die richtigen Aktien herauszupicken. Wer sind aber die Träger eines neuen Aufschwungs?
T-Online
Vieles spricht dafür, dass es nicht die jetzigen Großen sein werden. Für die werden nach wie vor übermäßig hohe Prämien bezahlt. Man schaue sich nur die drei Größten im Nemax 50 an: T-Online kostet immer noch 11 Mrd. Euro, das Zehnfache des für 2001 erwarteten Umsatzes. Wer auf die Telekom-Tochter setzt, sollte sich fragen: Was wäre die Aktie wert, wenn 100 Prozent der Aktien und nicht nur elf Prozent breit gestreut wären?
Für Qiagen, die Biotech-Hoffnung, zahlen die Anleger das 81fache des 2001er-Gewinns und das Zwölffache des 2001er-Umsatzes. Die Nummer drei ist Aixtron, der Aachener Weltmarktführer bei Maschinen für Verbindungs-Halbleiter. Preis: das Elffache des 2001er-Umsatzes. Das sind Bewertungen, in denen schon ziemlich viel künftiges Wachstum enthalten ist. Eine Nettoumsatzrendite von fünf Prozent geht bei einem Kurs-Gewinn-Verhältnis (KGV) von 20 mit einem Kurs-Umsatz-Verhältnis (KUV) von eins einher. Bei einem 2001er-KUV von zehn muss der Umsatz von 2001 bis 2005 jährlich um 50 Prozent wachsen, um ein KUV von immer noch zwei zu erreichen. Der Kurs hat sich dabei noch nicht bewegt.
Thiel
Trübe Aussichten also für die drei Größten, wenn man fundamentale Bewertungskennziffern ernst nimmt. Für die bisherigen Anlegerlieblinge ist die Luft dünn. Ganz sicher zählt das auch für die Logistiker Thiel und D.Logistics.
Dennoch spricht vieles dafür, dass der Kursrutsch am Neuen Markt zu einem Verhältnis von Chancen zu Risiken geführt hat, das so vorteilhaft wie kaum zuvor ist. Die Deutsche Bank berechnet regelmäßig die KGVs für den Gesamtmarkt. Rund die Hälfte aller knapp 340 Unternehmen am Neuen Markt soll im vergangenen Jahren einen Gewinn erzielt haben - für viele Unternehmen liegt der endgültige Jahresabschluss noch nicht vor. Auf Basis der Konsensschätzungen für 2000 kosten diese Unternehmen das 31fache der 2000er-Gewinne, das 22fache der 2001er-Gewinne und das 17fache der für 2002 erwarteten Gewinne. Auf 2001 bezogen sind die Gewinne erzielenden Unternehmen kaum teurer als der Dax oder der Europe Stoxx. Allerdings dürften die Unternehmen am Neuen Markt stärker wachsen.
Gewinnschätzungen können schnell in den Papierkörben der Analysten verschwinden. Enttäuschungen verteuern dann die Aktien rasch wieder. Bislang unterstellen die Analysten, dass die Gewinne von 2000 bis 2002 jährlich um 50 Prozent wachsen. Es ist fraglich, ob die schwache US-Konjunktur in diesen Prognosen bereits gänzlich enthalten ist. Aber selbst wenn die Unternehmen nur noch halb so schnell wachsen, sind die Unternehmen nicht mehr extrem teuer.
Eine wichtige Rolle für die künftige Entwicklung spielt die Liquidität. Die vergangene Hausse war liquiditätsgetrieben. Davon ist man derzeit weit entfernt. Genaue Zahlen über die gesamten Zuflüsse in Neuer-Markt-Fonds fehlen. Wer Meinungen einsammelt, dem drängt sich folgender Schluss auf: Seit Jahresanfang halten sich Zu- und Abflüsse in Neuer-Markt-Fonds bestenfalls die Waage. Marktbeobachter verweisen darauf, dass die Handelsumsätze in Bezug zur Marktkapitalisierung zurückgehen - ein bedenkliches Zeichen. Enge Märkte haben einen hohen Preis: Die Kurse schwanken stärker, die Differenz zwischen Kauf- und Verkaufskursen steigt. Anleger bekommen nicht mehr die Kurse, zu denen sie einsteigen oder aussteigen möchten. Das mindert die Attraktivität des Marktes weiter.
Auf das Ausland angewiesen
Es gibt eine Fondsgesellschaft, die mit ihren Wachstumsfonds rund zehn Prozent des Streubesitzes am Neuen Markt kontrolliert. Agieren die großen Spieler am Markt, müssen sie ihre Aufträge über einen größeren Zeitraum strecken. Ansonsten ruinieren sie sich die Kurse. Die deutschen Fonds sind daher dringend auf den Zufluss ausländischer Gelder angewiesen, wenn sie nicht unter sich bleiben wollen. Aber gerade die Ausländer, die spät am Neuen Markt eingestiegen sind, haben sich die Finger verbrannt und warten nun ab. Sie werden erst wieder zurückkehren, wenn der Vertrauensschaden durch gute Zahlen wieder behoben wird.
Gute Unternehmenszahlen, und das über mehrere Quartale hinweg, ist das, was der Markt braucht. Solche Zahlen sind die unabdingbaren Zutaten für ein Wiederbeleben des Segments. Todsichere Tips gibt es nicht. Am Neuen Markt gibt es nur Aktien mit mehr Risiko als an anderen Segmenten. Wer sein Geld ausschließlich auf die Wachstumsbörse setzt, dürfte jetzt schon verloren haben. Ausgewählte Aktien können nur eine Beimischung sein.
Altmodische Methoden
Der Neue Markt wird erwachsen, und die Ansprüche an Kurszuwächse werden realistischer. Anleger werden die Aktien nicht mit abenteuerlichen Fantasien, sondern mit den normalen, altmodischen Methoden bewerten. Um die richtigen Aktien herauszupicken, müssen sich Privatleute kritische Fragen stellen: Wie stark ist das Management? Welchen Nutzen haben die Kunden von den Versprechen der Firmen? Wie hoch ist der Wettbewerbsdruck? Und vor allem: Wie viel zukünftige Gewinne sind jetzt schon im Kurs enthalten? Diese entscheidende Frage wurde bislang viel zu selten gestellt.
Erst die Antwort darauf entscheidet, wie hoch das Verlustrisiko einer Aktie ist. Selbst solide und profitable Unternehmen bieten keine Garantie für Kursgewinne. Auch hier gilt: Der Preis muss in einem realistischen Verhältnis zu den erwarteten Gewinnen stehen. Einige Anleger werden die jetzige Schwäche des Marktes auszunutzen, um sich ein kleines Portfolio aus Aktien zusammenzustellen, bei denen Qualität und Preis stimmen. Viele andere hingegen werden Zuflucht in Fonds suchen und ihr Portfolio noch stärker diversifizieren. Auch das gehört zum Erwachsenwerden.
© 2001 Financial Times Deutschland
Von Ralf Zimmermann, Frankfurt
Kaum ein Aktienmarkt ist so schwer zu prognostizieren wie der Neue Markt. Nach wie vor prägen risikobereite Privatanleger den Markt, für die fundamentale Bewertungsmethoden keine Rolle spielen - sofern sie diese überhaupt kennen.
Der Neue Markt bleibt Ersatz für jene, die sich keine Krawatte für die Spielbank umbinden wollen. Ein nicht enden wollender Kursrutsch und die Fragezeichen hinter der US-Konjunktur haben zudem viele Anleger verunsichert.
In den vergangen Tagen haben wir die Gründe für den Aufstieg und späteren Fall des Neuen Marktes detailliert aufgezeigt. Fast alle Beobachter sind sich einig, dass der Neuen Markt vor gut einem Jahr sehr stark überbewertet war. Uneinigkeit herrscht indes über die Zukunftsaussichten.
EM.TV
Für die Optimisten steigt der Markt bald wieder in der gesamten Breite. Danach war der Salami-Crash, der die Kurse auf ein Fünftel seit der Spitze abgesäbelt hat, übertrieben. Der Irrationalität im Aufschwung folgte die Irrationalität im Abschwung. Die Gewinnwarnungen sind schon in den Preisen enthalten - bei EM.TV und Intershop und zahllosen anderen.
Was soll jetzt noch kommen? Die realwirtschaftliche Bereinigung bei den Dotcom-Firmen stärkt die Großen wie T-Online. Es sind auch keine 140 Börsengänger mehr zu erwarten wie im vergangenen Jahr, die in den Feldern der Etablierten wildern. In den kommenden Quartalen ist daher eher mit positiven Gewinnüberraschungen zu rechnen.
Optimisten vertrauen dabei auch auf die menschliche Natur: vor allem Gier und die Angst, einen Trend zu verpassen. Selbst professionelle Investoren sind nicht dagegen immun. Steigen bei guten Nachrichten die Kurse wieder an, werden immer mehr auf den fahrenden Zug aufspringen und die Kurse weiter nach oben treiben. Mit anderen Worten: Nach dem Crash ist vor der Euphorie.
Gigabell
Die Pessimisten hingegen halten einen weiteren Kursrutsch für wahrscheinlich. Der Vertrauensschaden, den Pleitiers wie Gigabell, Manager wie Thomas Haffa, Bilanztrickser wie Infomatec angerichtet haben, ist schwer zu beheben. Der Strom an Negativnachrichten ist noch lange nicht abgeebbt. Der Neue Markt hat bislang erst zwei Konkursanträge gesehen. Es wird weitere Totalausfälle geben. Das lehrt der Blick auf die Nasdaq, wo regelmäßig Unternehmen vom Kurszettel verschwinden.
Der Vergleich mit der Nasdaq zeigt auch noch etwas anderes, was für den Neuen Markt zu denken gibt. Jedes der fünf größten Unternehmen an der Nasdaq - Microsoft, Intel, Cisco, Qualcomm, Oracle - ist schwerer als der gesamte Neue Markt. An der Nasdaq sind Unternehmen notiert, die globale Standards setzen und die Welt mit Software, Halbleitern oder Internet-Bausteinen versorgen. Am Neuen Markt handeln Nischenspieler, die einem deutlich höheren unternehmerischen Risiko ausgesetzt sind. Die deutschen Schwergewichte SAP und Infineon notieren im Dax und nicht am Neuen Markt.
Intershop
Intershop, eine der bekanntesten Firmen am Neuen Markt, machte im vergangenen Jahr gerade mal ein Fünfzigstel des Umsatzes von SAP. Der Neue Markt ist eher mit dem unteren namenlosen Drittel der Nasdaq zu vergleichen. Kleine verschwinden leichter vom Markt als Große. Am Neuen Markt steht eine Bereinigung größeren Umfangs noch aus. Die bedrohten Unternehmen müssen darauf hoffen, gekauft zu werden. Aber bei Firmen, deren Wert aus Mitarbeitern besteht - wie bei Softwareherstellern - ist es viel billiger, die Leute abzuwerben, als die Firma zu kaufen.
Und wenn es weder zu Konkurs noch Übernahme kommt, dann droht der Rückzug von der Börse. Die Firmen müssen teure Leute bezahlen, die sich ständig um die Finanzmärkte kümmern. Ob sich das für die Winzlinge am Markt lohnt, bei denen sogar die Konsortialbanken langsam die Beobachtung einstellen? Rund 120 Unternehmen haben einen Marktwert unter 50 Mio. Euro, die früher oder später außerhalb des Scheinwerferlichts der Öffentlichkeit vor sich hindämmern werden.
Gipfel vorerst unerreichbar
Der Neue Markt wird sich wohl in der Mitte zwischen den Hoffnungen auf einen neuen Höhenflug und den Schwarzmalereien bewegen. Die Optimisten verdrängen jeden Lerneffekte bei Anlegern; die Pessimisten unterschlagen das Kurspotenzial, das sich mittlerweile bei einer Reihe von Aktien bietet. Eine Übertreibung, wie sie das Frühjahr 2000 gebracht hat, wird es nicht mehr geben. Es mag zu zyklischen Zwischenhochs mit langsamem Trendanstieg kommen. Der Gipfel vom März 2000 bleibt auf lange Zeit unerreichbar.
So dümpelt in Japan der umfassende Topix-Index auch elf Jahre nach Platzen der Blase rund 60 Prozent unter dem Rekord. Menschen mögen von der Gier getrieben werden, sie sind aber auch lernfähig. Die Kurse mögen wieder steigen, aber Gewinne werden schneller mitgenommen. Viele Investoren sitzen auf nicht realisierten Verlusten. Sie werden die erstbeste Gelegenheit nutzen, diese Pakete mit Gewinn abzustoßen.
Der Markt dürfte stärker selektieren. Es wird nicht reichen, Aktien zu kaufen und zu hoffen, dass ein steigender Markt sie nach oben treibt. Es gilt, die Unternehmen genauer anzuschauen und die richtigen Aktien herauszupicken. Wer sind aber die Träger eines neuen Aufschwungs?
T-Online
Vieles spricht dafür, dass es nicht die jetzigen Großen sein werden. Für die werden nach wie vor übermäßig hohe Prämien bezahlt. Man schaue sich nur die drei Größten im Nemax 50 an: T-Online kostet immer noch 11 Mrd. Euro, das Zehnfache des für 2001 erwarteten Umsatzes. Wer auf die Telekom-Tochter setzt, sollte sich fragen: Was wäre die Aktie wert, wenn 100 Prozent der Aktien und nicht nur elf Prozent breit gestreut wären?
Für Qiagen, die Biotech-Hoffnung, zahlen die Anleger das 81fache des 2001er-Gewinns und das Zwölffache des 2001er-Umsatzes. Die Nummer drei ist Aixtron, der Aachener Weltmarktführer bei Maschinen für Verbindungs-Halbleiter. Preis: das Elffache des 2001er-Umsatzes. Das sind Bewertungen, in denen schon ziemlich viel künftiges Wachstum enthalten ist. Eine Nettoumsatzrendite von fünf Prozent geht bei einem Kurs-Gewinn-Verhältnis (KGV) von 20 mit einem Kurs-Umsatz-Verhältnis (KUV) von eins einher. Bei einem 2001er-KUV von zehn muss der Umsatz von 2001 bis 2005 jährlich um 50 Prozent wachsen, um ein KUV von immer noch zwei zu erreichen. Der Kurs hat sich dabei noch nicht bewegt.
Thiel
Trübe Aussichten also für die drei Größten, wenn man fundamentale Bewertungskennziffern ernst nimmt. Für die bisherigen Anlegerlieblinge ist die Luft dünn. Ganz sicher zählt das auch für die Logistiker Thiel und D.Logistics.
Dennoch spricht vieles dafür, dass der Kursrutsch am Neuen Markt zu einem Verhältnis von Chancen zu Risiken geführt hat, das so vorteilhaft wie kaum zuvor ist. Die Deutsche Bank berechnet regelmäßig die KGVs für den Gesamtmarkt. Rund die Hälfte aller knapp 340 Unternehmen am Neuen Markt soll im vergangenen Jahren einen Gewinn erzielt haben - für viele Unternehmen liegt der endgültige Jahresabschluss noch nicht vor. Auf Basis der Konsensschätzungen für 2000 kosten diese Unternehmen das 31fache der 2000er-Gewinne, das 22fache der 2001er-Gewinne und das 17fache der für 2002 erwarteten Gewinne. Auf 2001 bezogen sind die Gewinne erzielenden Unternehmen kaum teurer als der Dax oder der Europe Stoxx. Allerdings dürften die Unternehmen am Neuen Markt stärker wachsen.
Gewinnschätzungen können schnell in den Papierkörben der Analysten verschwinden. Enttäuschungen verteuern dann die Aktien rasch wieder. Bislang unterstellen die Analysten, dass die Gewinne von 2000 bis 2002 jährlich um 50 Prozent wachsen. Es ist fraglich, ob die schwache US-Konjunktur in diesen Prognosen bereits gänzlich enthalten ist. Aber selbst wenn die Unternehmen nur noch halb so schnell wachsen, sind die Unternehmen nicht mehr extrem teuer.
Eine wichtige Rolle für die künftige Entwicklung spielt die Liquidität. Die vergangene Hausse war liquiditätsgetrieben. Davon ist man derzeit weit entfernt. Genaue Zahlen über die gesamten Zuflüsse in Neuer-Markt-Fonds fehlen. Wer Meinungen einsammelt, dem drängt sich folgender Schluss auf: Seit Jahresanfang halten sich Zu- und Abflüsse in Neuer-Markt-Fonds bestenfalls die Waage. Marktbeobachter verweisen darauf, dass die Handelsumsätze in Bezug zur Marktkapitalisierung zurückgehen - ein bedenkliches Zeichen. Enge Märkte haben einen hohen Preis: Die Kurse schwanken stärker, die Differenz zwischen Kauf- und Verkaufskursen steigt. Anleger bekommen nicht mehr die Kurse, zu denen sie einsteigen oder aussteigen möchten. Das mindert die Attraktivität des Marktes weiter.
Auf das Ausland angewiesen
Es gibt eine Fondsgesellschaft, die mit ihren Wachstumsfonds rund zehn Prozent des Streubesitzes am Neuen Markt kontrolliert. Agieren die großen Spieler am Markt, müssen sie ihre Aufträge über einen größeren Zeitraum strecken. Ansonsten ruinieren sie sich die Kurse. Die deutschen Fonds sind daher dringend auf den Zufluss ausländischer Gelder angewiesen, wenn sie nicht unter sich bleiben wollen. Aber gerade die Ausländer, die spät am Neuen Markt eingestiegen sind, haben sich die Finger verbrannt und warten nun ab. Sie werden erst wieder zurückkehren, wenn der Vertrauensschaden durch gute Zahlen wieder behoben wird.
Gute Unternehmenszahlen, und das über mehrere Quartale hinweg, ist das, was der Markt braucht. Solche Zahlen sind die unabdingbaren Zutaten für ein Wiederbeleben des Segments. Todsichere Tips gibt es nicht. Am Neuen Markt gibt es nur Aktien mit mehr Risiko als an anderen Segmenten. Wer sein Geld ausschließlich auf die Wachstumsbörse setzt, dürfte jetzt schon verloren haben. Ausgewählte Aktien können nur eine Beimischung sein.
Altmodische Methoden
Der Neue Markt wird erwachsen, und die Ansprüche an Kurszuwächse werden realistischer. Anleger werden die Aktien nicht mit abenteuerlichen Fantasien, sondern mit den normalen, altmodischen Methoden bewerten. Um die richtigen Aktien herauszupicken, müssen sich Privatleute kritische Fragen stellen: Wie stark ist das Management? Welchen Nutzen haben die Kunden von den Versprechen der Firmen? Wie hoch ist der Wettbewerbsdruck? Und vor allem: Wie viel zukünftige Gewinne sind jetzt schon im Kurs enthalten? Diese entscheidende Frage wurde bislang viel zu selten gestellt.
Erst die Antwort darauf entscheidet, wie hoch das Verlustrisiko einer Aktie ist. Selbst solide und profitable Unternehmen bieten keine Garantie für Kursgewinne. Auch hier gilt: Der Preis muss in einem realistischen Verhältnis zu den erwarteten Gewinnen stehen. Einige Anleger werden die jetzige Schwäche des Marktes auszunutzen, um sich ein kleines Portfolio aus Aktien zusammenzustellen, bei denen Qualität und Preis stimmen. Viele andere hingegen werden Zuflucht in Fonds suchen und ihr Portfolio noch stärker diversifizieren. Auch das gehört zum Erwachsenwerden.
© 2001 Financial Times Deutschland