George W. Bush in Europa: Amerika schmiedet ein neues Bündnis mit Russland. Wichtiger bleiben die alten, unbequemen Partner
Washington, zum Jahresbeginn: "Warum", wollte der Besucher von einem Vertrauten des George Bush wissen, "hat der Präsident Europa in seiner State of the Union-Rede nicht ein einziges Mal erwähnt?" Die flapsige Antwort: "Das hätte mindestens 30 Sekunden gekostet." Übersetzt: Auf der Agenda der amerikanischen Politik - vom Antiterrorkrieg über Nahost bis zur Rezession - gibt es Dringlicheres zu bereden. Nun aber kommt Bush höchstselbst nach Europa, fast eine ganze Woche lang: erst nach Berlin (22./23. Mai), dann Moskau und St. Petersburg, schließlich Paris.
Eine Hommage an eine 50 Jahre alte Tradition des "Euroamerikanismus"? Möglich. Aber das ist es nicht allein. Man blicke auf das russische Mittelstück der Reise. In Moskau werden Bush und Putin das radikalste Abrüstungsprogramm aller Zeiten unterzeichnen (siehe auch Seite 6): den Abbau der strategischen Nuklearsprengköpfe von jeweils 6000 auf 2200 oder gar 1700. Die Symbolik dieser Aktion ist kaum zu überschätzen. Wie viele Anläufe sind seit Breschnews Zeiten im Gestrüpp des Kalten Krieges hängen geblieben - von Salt II bis Start III? Nun aber läuft es in einem Tempo ab, das den schwerfälligen Architekten EU-Europas bei ihrem nächsten Gipfel die Neidesblässe ins Gesicht treiben müsste. Und an dieser Geschicht hängt eine historische Moral.
Deren Konturen scheinen nicht erst seit dem 11. September auf: Die Erzfeinde bieten sich einander Schritt für Schritt als beste Bundesgenossen an. "Der Vertrag", prophezeit Bush, "wird die Hinterlassenschaft des Kalten Krieges begraben." Die beiden schaufeln bereits seit Monaten. Ohne Putins Plazet hätte Bush im Afghanistankrieg nie die Stützpunkte im "weichen Unterbauch" der Exsowjetunion, in Usbekistan und Tadschikistan nutzen können. Dafür gab's im November eine Einladung auf die Präsidentenranch in Texas. Plötzlich ließ Putin den Widerstand gegen die amerikanische Raketenabwehr fallen - so, als hätten seine Vorgänger im Kreml nicht aufs allerheftigste gegen Star Wars und seine Nachfolgevarianten gekämpft. Als Belohnung erhält Putin am 23. Mai den "Großorden der Weltmächte": eben jenen Abrüstungsvertrag, der ihm, dem Absteiger, Parität mit der "letzten verbleibenden Supermacht" verschafft.
Und die Europäer, denen Bush vorher (Berlin) und nachher (Paris) die lange verzögerte Aufwartung macht? Die Alt-Alliierten blicken wie eh und je mit gemischten Gefühlen auf derlei herzliche Umarmung. Einerseits: Sie freuen sich wie in frühesten Entspannungszeiten über jegliche Annäherung der Großen, insbesondere über jeden Versuch, das Atomare in der Weltpolitik kleiner zu schreiben. Vertragen sich die Schwergewichte, müssen sich die Europäer nicht davor fürchten, in deren Händel verstrickt zu werden. Anderseits: Hier bahnt sich eine neue Konstellation an, welche die Europäer um ihre privilegierte Position in der großen Strategie Amerikas bangen lässt.
Man darf es noch schärfer ausdrücken. Nicht erst seit der Inthronisierung des zweiten George, nicht erst seit dem 11. September wird ein neues Muster in der amerikanischen Außenpolitik sichtbar. Waren einst die Allianzen mit Europa und Japan das A und O der amerikanischen Diplomatie, so schält sich jetzt ein System heraus, das sich in das Bild von "Nabe und Speichen" kleiden lässt.
Die Nabe ist Amerika. Die Speichen, die sich um sie gruppieren, sind: Europa, Russland, China, Japan, der Nahe Osten (genauer: die Hilfsmächte Israel, Ägypten und Saudi-Arabien). Für Washington ist das eine feine Sache. Es kann mal mit dieser, mal mit jener "Speiche" Politik machen und so verhindern, dass sich die Sekundärmächte gegen die Nummer eins zusammenrotten. Das System erinnert an das Prinzip Bismarck: Nicht "irgendein Ländererwerb" schwebte ihm vor, sondern eine "Gesamtsituation, in welcher alle Mächte außer Frankreich unser bedürfen und von Koalitionen gegen uns durch ihre Beziehungen zueinander nach Möglichkeit abgehalten werden".
Was folgt daraus in der Praxis für die amerikanische Politik, die sich nun endlich anschickt, die lange vernachlässigte europäische Speiche zu reparieren, zumindest zu polieren? Womöglich haben die "Cowboys" nach 15 Monaten im Amt begriffen, dass Unilateralismus pur nicht der Großmachtsweisheit letzter Schluss sein, dass nicht immer die berüchtigte Rumsfeld-Doktrin greifen kann, wonach allein "der Auftrag die Koalition bestimmt, und nicht umgekehrt".
Auch die "Hypermacht" braucht verlässliche Verbündete. Obwohl sie heute so viel für Wehr und Waffen ausgibt wie die nächstgrößeren 15 Mächte zusammen. Wo sie die findet? Mag sein, dass dereinst ein demokratisches, liberales Russland einen solchen Freund abgibt. Oder irgendwann gar China. Einstweilen aber bleibt der logische Partner Europa, ganz gleich, wie oft es sich über die Todesstrafe in Amerika, seinen Rückzug aus der globalen Umweltpolitik oder aus dem Projekt des Internationalen Strafgerichtshofs echauffiert. Wer die Macht hat, darf sich über den Widerwillen der Schwächeren nicht wundern (weshalb es auch keinen "Antihollandismus" gibt). Auch nicht über deren Versuche, die "Hypermacht" in internationale Institutionen wie den Gerichtshof einzubinden. Wer aber die Macht hat, muss auch verantwortlich mit ihr hantieren, sprich: die Interessen der anderen mittragen, so wie es Amerika in der Glanzzeit seiner Nachkriegsdiplomatie getan hat.
An dieser Erkenntnis fehlt es den Bushisten noch - siehe die Rücksichtslosigkeit, mit der sie neuerdings den Protektionismus pflegen, sei's durch Strafzölle auf Stahl oder die Fastverdoppelung der Subsidien für amerikanische Farmer. Wie die weltpolitische Läuterung des George W. am besten befördern? Nicht durch Appelle an die Moral, sondern an die nackten Interessen. Zum Beispiel sollte Kanzler Schröder so zu seinem Besucher sprechen: "Lieber Freund, als größte Exportmacht der Welt profitiert keiner mehr vom freien Welthandel als Amerika." Oder: "Auch der Mächtigste ist am stärksten eben nicht allein." Fast alle Nato-Staaten sind/waren in irgendeiner Form am Afghanistankrieg beteiligt; ohne deren Hilfe könnten FBI und CIA das Ausheben von Terrornestern rings um die Welt vergessen. Unverzichtbar sind die Industriestaaten beim Kampf gegen die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen (siehe Irak, Nordkorea). Kurzum: Der Sheriff braucht die Bürgerwehr; nur im Film (12 Uhr mittags) konnte Gary Cooper ganz allein bestehen.
Brauchen die Europäer aber auch den Sheriff? Ihre Hilflosigkeit in Bosnien, im Kosovo, im Nahen Osten sagt: "Ja." Muss das so bleiben? Europas Demografie, Wirtschaft und (theoretische) Militärmacht sagen: "Nein, aber." Denn solange sich Europas grandiose Ressourcen nicht in einem gemeinsamen Staat vereinen, wird das Ganze leichter sein als die Summe seiner Teile. Zu leicht jedenfalls, um die "Hypermacht" aufzuwiegen. Deshalb fährt Bush auch nicht zu den Herren Solana und Patten in Brüssel, sondern zu Schröder und Chirac. Die beiden sind trotzdem stark genug, um Bush daran zu erinnern, dass Einsamkeit der schlimmste Feind der Macht ist.
Quelle:Die Zeit