Europäische Biotechnologie-Industrie boomt weiter
(27.4.2001) Das Jahr 2000 war für die europäische Biotechnologie-Industrie das bisher erfolgreichste Jahr. Hinsichtlich der Kapitalbeschaffung, der Marktbewertung, der Umsatzerlöse, der Anzahl der Firmen und der Beschäftigten erreichte der Biotechnologie-Sektor ein Rekord-Niveau. Der Trend zur Zusammenarbeit ging weiter: Allianzen, Fusionen und Unternehmenskäufe nahmen gegenüber dem Vorjahr um 41 Prozent zu. Das ist das Resümee der Studie „Integration – Ernst & Young’s eighth annual European life sciences report“, die Ernst & Young am Donnerstag in Frankfurt vorgestellt hat.
„Aus deutscher Sicht ist besonders erfreulich, dass Deutschland nicht nur die Spitzenposition bei der Anzahl von Biotechnologie-Unternehmen in Europa hält, sondern dass unsere Unternehmen auch qualitativ aufholen“, so Alfred Müller, Vorstandsmitglied von Ernst & Young in Deutschland und zuständig für den Bereich Health Sciences. Ein Beleg für diese Einschätzung sei der Erwerb amerikanischer und britischer Biotechnologie-Unternehmen durch deutsche Firmen – ein Vorgang, der noch vor wenigen Jahren undenkbar gewesen sei. Überdies liege die Steigerung sämtlicher Kennzahlen über dem europäischen Durchschnitt: In Deutschland sind insgesamt 332 Unternehmen ansässig, deren Hauptzweck die Kommerzialisierung der modernen Biotechnologie ist. Das sind 19 Prozent mehr als im Jahr 1999. Im europäischen Durchschnitt liegt der Zuwachs an Biotechnologie-Unternehmen bei 16 Prozent. Der Gesamtumsatz deutscher Biotechnologie-Unternehmen stieg im Jahr 2000 um 52 Prozent auf 786 Mio. Euro. Mit 10.673 Beschäftigten arbeiteten 31 Prozent mehr Menschen im deutschen Biotechnologie-Sektor als im Vorjahr. In Forschung und Entwicklung wurden 719 Mio. Euro investiert – mehr als doppelt so viel wie im Jahr 1999.
Zwang zur kritischen Masse
Der globale Trend zur stärkeren Zusammenarbeit zwischen Biotechnologie-Unternehmen bestätigt sich auch in Europa: Allianzen, Fusionen und Unternehmenskäufe nahmen gegenüber dem Jahr 1999 um 41 Prozent zu. “Um langfristig erfolgreich zu sein, müssen die Unternehmen eine kritische Masse erreichen“, kommentiert Müller diese Entwicklung. Je mehr Ressourcen einem Unternehmen aufgrund seiner Größe zur Verfügung stünden, desto schneller könne es die Marktführung einnehmen. „Der zweite Platz ist selten gut genug in dieser Branche“, fügt Müller hinzu. In der Marktposition sei auch immer noch ein deutlicher Abstand zwischen der europäischen und der amerikanischen Biotechnologie-Industrie zu erkennen: Die durchschnittliche Börsenkapitalisierung der notierten europäischen Gesellschaften erreicht nur 60 Prozent des entsprechenden Wertes in den USA, und US-Unternehmen haben im Jahr 2000 fünfmal mehr neues Kapital aufgenommen als europäische.
Europa muss strukturelle Hürden überwinden
Laut Ernst & Young-Studie müssen sich die Rahmenbedingungen für die europäische Biotechnologie-Industrie ändern, wenn genügend europäische Biotechnologie-Unternehmen das Ziel der kritischen Masse erreichen sollen: Um beispielsweise die Investitionen über einen leistungsfähigen Kapitalmarkt anzuregen, der höhere Exit-Bewertungen und handelbare Volumina zulässt, werde eine einheitliche pan-europäische High-Tech-Börse benötigt. Zudem sei eine europaweite Wissenschaftsstrategie erforderlich, um Forschungsvorhaben besser steuern zu können. Zu große Streuung oder Dopplungen von Forschungsbemühungen könnten so vermieden werden. Neben einer einheitlichen Besteuerungspolitik müssten die Europäer auch regulatorische Prozesse vereinheitlichen. Und schließlich sei eine konsistente Patent- und Preispolitik für Medikamente eine wichtige Voraussetzung für eine dynamische Entwicklung der europäischen Biotechnologie-Industrie.
Wie geht es weiter?
Nach Einschätzung der Ernst & Young-Studie wird das Gewicht der Biotechnologie-Unternehmen gegenüber den großen Pharma-Unternehmen steigen. Wurden im Jahr 1998 beispielsweise noch 86 Prozent der Biotechnologie-Allianzen zwischen Pharma- und Biotechnologie-Unternehmen geschlossen, sank dieser Anteil im Jahr 2000 auf 64 Prozent. Hinsichtlich der Kapitalaufbringung, der Bewertung und des Marktzugangs werden die Biotechnologie-Unternehmen zunehmend unabhängiger von den großen Pharma-Unternehmen. Biotechnologie-Unternehmen werden künftig vermehrt Allianzen untereinander schließen. Dessen ungeachtet werden Pharmafirmen jedoch immer attraktive Partner für Biotechnologie-Unternehmen bleiben. Als Folge der steigenden Marktmacht von Biotechnologie-Unternehmen werden Pharma-Unternehmen versuchen, ihre Forschungs- und Entwicklungs-Gruppen in separate Einheiten auszugliedern, um interne Innovationskraft und Ausnutzung der Größeneffekte miteinander zu verbinden.
Neue Geschäftsmodelle
Als Alternativen zu Fusionen und Übernahmen innerhalb der Biotechnologie-Branche könnten sich Biotechnologie-Unternehmen um ein virtuelles Pharma-Unternehmen gruppieren, das sich aus jeweils unabhängigen Vertriebs-, Marketing- und klinischen Entwicklungsorganisationen zusammensetzt. Über elektronische Infrastrukturen könnte ein solches virtuelles Unternehmen zudem eine zentralisierte Finanzverwaltung und ein Business Development zur Verfügung stellen. Auf diese Weise könnten sich die Biotechnologie-Unternehmen auf ihre Kernkompetenzen - ihre Forschungspotenziale - konzentrieren und gleichzeitig die Größeneffekte eines großen Unternehmens nutzen.
Die wichtigsten Ergebnisse für Europa auf einen Blick
Strategische Allianzen boomen: Mit 403 Allianzen gab es in Europa einen Zuwachs um 54 Prozent gegenüber 1999.
Europäische Biotechnologie-Aktienindices übertrafen im Jahr 2000 den NASDAQ. Während dieser um 39 Prozent zurückging, konnten europäische Indices um 50 bis 75 Prozent zulegen.
Während Biotechnologie-Unternehmen im Jahr 1999 1,1 Mrd. Euro an Eigenkapital aufgenommen haben, waren es im Jahr 2000 über 6,5 Milliarden Euro.
39 europäische Unternehmen gingen im Jahr 2000 an die Börse - eine Steigerung der notierten Firmen gegenüber 1999 um 52 Prozent. In Deutschland wurden 12 Unternehmen erstmals notiert, was einer Steigerung der gelisteten Unternehmen um 150 Prozent entspricht.
Über Börsengänge beschafften europäische Biotechnologie-Unternehmen 3 Mrd. Euro gegenüber 0,3 Milliarden Euro im Jahr zuvor.
Im Durchschnitt nahmen Biotechnologie-Unternehmen bei ihrem Börsengang 76 Millionen Euro auf – nahezu doppelt so viel wie 1999. In Deutschland betrug die Kapitalaufnahme durch Börsengänge durchschnittlich 74 Mio. Euro.
Europäische Biotech-Unternehmen verfügen heute über eine höhere finanzielle Stabilität als je zuvor. 60 Prozent der börsennotierten europäischen Unternehmen verfügen mindestens noch für vier Jahre über liquide Mittel (zu derzeit feststehenden Ausgaben), ein Zuwachs um 46 Prozent gegenüber 1999.
Die Marktkapitalisierung vieler Unternehmen erhöhte sich um mindestens 100 Prozent. In manchen Fällen steigerte sich die Bewertung um 500 Prozent.
Die europäischen börsennotierten Biotechnologie-Unternehmen weisen derzeit 278 Produkte in verschiedenen Phasen der Medikamentenentwicklung auf.
Alle Finanzkennzahlen erhöhten sich im Jahr 2000 signifikant: Der Branchen-Umsatz stieg um 38 Prozent auf 8,7 Milliarden Euro, Forschungs- und Entwicklungsausgaben um 48 Prozent auf 5 Milliarden Euro und die Bilanzverluste um 42 Prozent auf 1,6 Milliarden Euro. In Deutschland stieg der Umsatz um 52 Prozent auf 786 Mio. Euro, die Forschungs- und Entwicklungsausgaben um mehr als das Doppelte auf 719 Mio. Euro und die Bilanzverluste um 56 Prozent auf 82,6 Mio. Euro.
Insgesamt erhöhte sich die Anzahl europäischer „entrepreneurial life science companies (ELISCOs)“ um 16 Prozent auf 1570 Unternehmen. Damit gibt es in Europa etwa 300 Biotechnologie-Unternehmen mehr als in den USA.
Zusätzliche Informationen: www.ernst-young.de
Quelle: Ernts&Young