Fluch über Doppeltürmen von AOL
Von Marc Pitzke, New York
Bei der Grundsteinlegung wurden die neuen AOL-Time-Warner-Türme noch als Sinnbild für das neue Manhattan gefeiert. Doch nach einer Serie von Unglücksfällen und Pannen sind sämtliche Vorschusslorbeeren verwelkt - fast scheint es, als liege ein Fluch über dem Neubau wie über dem ganzen Konzern.
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Vier Monate später traf es seinen Arbeitskollegen Cedric Hunte. Der Betonfacharbeiter hatte sich gerade zur Mittagspause niedergelassen, als eine Windböe im 45. Stockwerk des Rohbaus eine Sperrholzplatte von der Fassade riss. Die Platte traf Hunte am Kopf; der 36-Jährige starb im Krankenhaus.
Granit aus Russland, Marmor aus Italien
Unglücksfälle wie die von Gray und Hunte, so tragisch sie auch sind, erregen in New York an sich nicht sehr viel Aufsehen - doch sie passierten auf der prominentesten Baustelle der Stadt: Auf dem Grundstück One Central Park entsteht die neue prunkvolle Firmenzentrale des Medienriesen AOL Time Warner. Mit einem Etat in Höhe von 1,7 Milliarden Dollar ist sie das zurzeit teuerste Immobilienprojekt in den USA.
Ab 2004, so die Planung, sollen hier schrittweise die Geschäftsführer von AOL Time Warner ebenso wie die neuen Zentralredaktionen der "Time" und des Nachrichtensenders CNN einziehen. Geplant ist außerdem ein siebenstöckiges Einkaufszentrum mit Dependancen von Hugo Boss und Armani, ein 4000-Quadratmeter-Fitnessclub und zwei Megarestaurants für die Gastro-Könige Thomas Keller und Jean-Georges Vongerichten, veredelt mit russischem Granit und italienischem Marmor. Schließlich bleibt noch genug Platz für zwei Konzerthallen, 198 Eigentumswohnungen mit Fernblick und ein Fünf-Sterne-Hotel mit 251 Zimmern.
"Tragödien wie diese verhindern"
Doch es sind weniger die Superlative, die in New York derzeit das Stadtgespräch bestimmen, sondern die tragischen Zwischenfälle und die unzähligen Pannen und Pleiten. So haben herunterfallende Bauteile bereits etliche Passanten verletzt. Im benachbarten Trump International Hotel gingen Fenster zu Bruch. Mehrfach musste die ganze Baustelle evakuiert und Straßen und Gehwege gesperrt werden. Bis heute sind die AOL-Time-Warner-Türme ein provisorisch verbrettertes Flickwerk.
Das US-Arbeitsministerium verdonnerte bereits drei der Bauunternehmen wegen Sicherheitsmängeln und der Mitverantwortung am Tod von Gray und Hunte zu Geldbußen von insgesamt 177.000 Dollar. "Es muss alles getan werden, um Tragödien wie diese zu verhindern", sagt Ministerin Elaine Chao.
200 Feuerwehrleute im Einsatz
Umso peinlicherist es, dass der lokale TV-Sender Channel 11 - ausgerechnet eine AOL-Timer-Warner-Tochter - mit versteckter Kamera Dutzende Bauarbeiter erwischte, wie sie sich schon vor Dienstbeginn in einer Kneipe gegenüber das Bier hinter die Binde kippten.
Die Zahl der Todesopfer hätte sich erst jüngst im April beinahe vervielfacht, als im Nordturm mitten in der Nacht ein Feuer ausbrach und sich blitzschnell über vier Stockwerke ausbreitete. 200 Feuerwehrleute waren im Einsatz, um die Flammen unter Kontrolle zu bringen und eine Katastrophe zu verhindern. Zwölf von ihnen wurden verletzt.
Symbol für Überheblichkeiten
Der Imageverfall hatte drastischer kaum sein können, wenn man die Vorschusslorbeeren in Rechnung stellt, mit denen das Projekt an den Start ging. Nach dem Terror-Trauma vom September 2001 war die künftige AOL-Time-Warner-Zentrale zunächst zum Sinnbild der Neugeburt Manhattans erkoren worden. Bürgermeister Mike Bloomberg kam zum Richtfest, signierte einen Stahlträger, auf den die Arbeiter "God Bless America" gepinselt hatten, und verglich den Koloss mit dem Empire State Building. Der Jazzmusiker Wynton Marsalis, der mit seinem Orchester ebenfalls hier einziehen soll, spielte die Nationalhymne. Richard Parsons, der neue CEO des Konzerns, sprach vom "Rockefeller Center des 21. Jahrhunderts".
Parsons hatte natürlich auch an sein Unternehmen gedacht. Der 230 Meter hohe Doppelturm - eine makabre Referenz ans World Trade Center - sollte den vereinten Aufbruch der beiden ungleichen Konzernhälften ins 21. Jahrhundert symbolisieren. Doch alle Pracht und aller Glanz stehen plötzlich in ganz anderem Licht da: Plötzlich spiegelt der Bau den Größenwahn der Profiteure des einstigen Börsenbooms wider, als die Fusion des Internet-Stars AOL mit dem Medienhaus Time Warner noch eine gute Idee schien und nicht ein Verlustgeschäft, das mitgeholfen hat, das Unternehmen im vergangenen Jahr um 26 Milliarden Dollar in die roten Zahlen zu stürzen. Mehr noch - One Central Park ist inzwischen zum Symbol für alle Überheblichkeiten und Unbill geworden, die den Moloch AOL Time Warner seit der Fusion plagen.
"Viele, viele, viele Beschwerden"
Angesichts der AOL-Finanzkrise dürfte es den Top-Managern auf der an diesem Freitag stattfindenden Jahreshauptversammlung des Unternehmens auch schwer fallen, ihrer Basis den Mega-Bau zu erklären. Denn auch für die AOL-Time-Warner-Aktionäre ist diese "monströse Fehlkalkulation", so der "New York Observer", inzwischen ein Beleg für die Hybris ihrer Manager, namentlich des Konzernchefs Steve Case, der nun "im Interesse des Unternehmens" abdankt. Statt die negativen Folgen der missratenen Fusion einzudämmen, so schimpfte ein Anleger auf der letzten Hauptversammlung, lasse Case in Manhattan "das Tadsch Mahal nachbauen".
Möglich, dass sich der entstandene Imageschaden nie wieder reparieren lässt, denn unter diesen Umständen kommen auch die Details ins Blickfeld, die in der Geschichte der Stadt schon andere Großprojekte begleitet haben mögen, aber bislang immer hingenommen wurden.
Der Trick mit den fiktiven Etagen
So habe es seit der Grundsteinlegung Ende 2000 "viele, viele, viele Beschwerden" gegeben, sagt Stadträtin Gale Brewer. Eine Anwohnerinitiative zog sogar vor Gericht: Die Zwillingstürme, die die feine Millionärsmeile am Central Park South verdunkeln, verstießen gegen Flächennutzungspläne und Umweltrichtlinien. Eine Richterin wies die Klage zwar ab, stellte aber klar, "dass dieses Bauwerk nicht über seine Schranken hinauswachsen" dürfe. Das sicher zu stellen, seufzt Klägeranwalt James Periconi, sei unmöglich.
Denn das wahre Ausmaß des Glas- und Stahl-Giganten kennen selbst die designierten Bewohner nicht. So fand ein PR-Manager beim zufälligen Nachzählen der Fensterreihen heraus, dass die "80 Etagen", mit denen die Makler den Privattrakt des Wolkenkratzers vermarkten, reine Fantasie sind (in Wahrheit sind es nur 53 Etagen). Und dass seine Wohnung im "67. Stock", die er für zwei Millionen Dollar gekauft hat, tatsächlich nur im 40. Stock liegt. "Furchtbar enttäuschend", ließ sich der Mann via "New York Times" vernehmen.
Das billigste Apartment für 1,6 Millionen
Dahinter steckt eine bautechnische Bilanzfälschung. Die größere, verkaufsträchtigere Etagenzahl entsteht nur auf dem Papier, indem man die Traufhöhe durch die New Yorker Durchschnitts-Deckenhöhe von 2,60 Metern dividiert - obwohl die Etagen der unten liegenden Einkaufscenter und Konzertsäle und der Dachwohnungen meist höher sind und die reale Etagenzahl folglich wesentlich niedriger. Das Erfinden von solchen "Eitelkeits-Etagen", wie sie das Bauamt kokett nennt, ist in Manhattan legal und gängig. AOL Time Warner exerziert so am Bau vor, was die Aktionäre ihren Bilanzmanagern jetzt in mehreren Gerichtsklagen vorwerfen: Unregelmäßigkeiten bei der Bilanzierung.
Das Etagengeflunker soll die hohen Preise rechtfertigen - bisher mit wenig Erfolg. Immerhin kostet das billigste Appartement 1,6 Millionen Dollar, das teuerste (im nicht-existierenden "80. Stock") 45 Millionen Dollar. Insgesamt ist bisher aber nicht mal die Hälfte der Wohnungen verkauft.
Vielleicht ist Parsons Schlagwort vom "Rockefeller Center des 21. Jahrhunderts" am Ende ja doch nicht so unpassend. Das zentrale Hochhaus im originalen Rockefeller Center, einst Heimstatt der Radio Corporation of America (RCA), wurde 1988 aus Geld- und Mietermangel an General Electric verkauft. Seitdem leuchtet über der Skyline nicht mehr der legendär-ehrwürdige RCA-Schriftzug, sondern das Kühlschrank- und Waschmaschinen-Logo "GE".