Wie der Neue Markt wieder Vertrauen gewinnen kann
Vom strahlenden Börsenstern zum Prügelknaben / Wege aus der Krise des Neuen Markts (1)
hst. FRANKFURT, 10. Juli. Sündenbock gesucht: Nach diesem Motto schieben sich alle Beteiligten am Debakel des Neuen Markts den Schwarzen Peter zu. Standen vor wenigen Monaten noch Emissionsbanken, Analysten und windige Jungunternehmer am Pranger, so wird gegenwärtig vor allem die Deutsche Börse AG angegriffen. Ihr wird vorgeworfen, bei der Zulassung der Gesellschaften nicht ausreichend die Spreu vom Weizen getrennt und zudem mit einem mangelhaften Regelwerk dazu beigetragen zu haben, daß dem Neuen Markt auf Seiten der Anleger das Image einer Spielhölle für Spekulanten anhaftet und er auf Unternehmensseite mancherorts als Spielwiese für Abzocker verunglimpft wird.
Doch Schuldzuweisungen helfen nicht weiter. Viel wichtiger ist, was getan werden muß, damit der Neue Markt dauerhaft seine volkswirtschaftlich entscheidende Funktion als Finanzierungsquelle für junge Wachstumsunternehmen erfüllen kann. In einer Serie von Beiträgen wird diese Zeitung in den kommenden Tagen dieser Frage aus dem Blickwinkel der verschiedenen Gruppen nachgehen. Die Deutsche Börse wird ihr Regelwerk für den Neuen Markt überarbeiten müssen. Aktiengeschäfte vom Unternehmensmanagement sollten vor und nicht nach erfolgter Transaktion verkündet werden. Der Nemax 50 sollte auf höchstens 30 Gesellschaften zusammengestrichen werden, um tatsächlich die besten Gesellschaften abzubilden. Dem Beispiel des amerikanischen Vorbilds Nasdaq folgend, sollten die Börsenregeln einen Ausschluß von Gesellschaften vorsehen, bei denen der Börsenwert auf wenige Millionen geschrumpft ist. Wie die Deutsche Börse am Dienstag bestätigte, wird darüber bereits mit den Emittenten verhandelt. Wahrscheinlich werden schon von Herbst an entsprechende Ausschlußregeln für Unternehmen mit geringem Börsenwert oder insolvente Gesellschaften gelten.
Die Emittenten müssen ihr Kommunikationsverhalten kritisch hinterfragen und den Anlegern auch tatsächlich das liefern, was sie versprochen haben. Transparenz darf sich nicht in der Vorlage vielfach geschönter Quartalsberichte erschöpfen. Der Mißbrauch von Ad-hoc-Mitteilungen als Werbebotschaft muß verhindert werden. Das verlorene Vertrauen der Anleger kann nur zurückgewonnen werden, wenn die Gesellschaften zu einer soliden Informations- und Geschäftspolitik zurückfinden. Damit der Neue Markt doch noch zum Qualitätsmarkt wird, muß der Anlegerschutz weiter verbessert werden. Diejenigen Unternehmer, die mit krimineller Energie Geschäftszahlen fälschen und die Anleger in betrügerischer Absicht in die Irre führen, müssen mit schmerzlichen Sanktionen bestraft werden. Die deutschen Aufsichtsämter für Wertpapier- und Bankgeschäfte müssen künftig ähnlich effizient wie die amerikanische Aufsichtsbehörde SEC arbeiten.
Die Banken ihrerseits müssen ihre Emissionspolitik ändern. Die Ausgabepreise neuer Aktien dürfen nicht ausgereizt und nur wirklich börsenreife Unternehmen dürfen an den Neuen Markt gebracht werden. Auf Analystenseite ist nicht ein weiterer Ehrenkodex für die professionellen Marktauguren entscheidend, sondern vielmehr, daß Analysten nicht länger als verlängerte Werkbank für die Investmentabteilungen der Banken agieren, indem sie mit ihren Kaufstudien die Werbetrommel rühren. Auch die Investmentgesellschaften haben während des Booms wie auch im Crash eine zweifelhafte Rolle gespielt. Gerade auf dem Höhepunkt der Hausse haben sie reihenweise Branchen- und Neuer-Markt-Fonds aufgelegt und diese an viele Privatanleger verkauft. Schließlich müssen auch die zahlreichen Venture-Capital-Gesellschaften, die infolge des zurückliegenden Booms wie Pilze aus dem Boden geschossen sind, ihre Geschäftspraxis auf den Prüfstand stellen. Wenn sie mit den Geldern der Risikokapitalgeber weiter fragwürdige Geschäftsmodelle finanzieren, dürfen sie sich nicht wundern, wenn ihnen die Anleger ihren Ausstieg aus der Beteiligung über die Börse versperren.
Den kollektiven Irrtum fast aller Anleger, Banken und Unternehmen in der ganzen Welt, daß mit dem Internet und der New Economy ein goldenes Zeitalter vermeintlich unbeschränkter Gewinne für alle Beteiligten eingeläutet wird, haben die Banken allein natürlich nicht zu verantworten. Vielmehr müssen sich Medien wie auch die privaten und institutionellen Anleger fragen lassen, ob sie bei der kollektiven Jagd nach dem schnellen Börsengewinn nicht das kritische Urteil über die Risiken junger Wachstumsaktien aus den Augen verloren haben. Die Warnsignale überzogener Börsenbewertungen der Technologieaktien waren - im Rückblick - deutlich genug.
Der Aufstieg und Fall des Neuen Markts ist in der deutschen Börsengeschichte ohne Beispiel. Von der Gründung des neuen Marktsegments mit den beiden Unternehmen Mobilcom und Bertrand am 10. März 1997 ist die Zahl der notierten Gesellschaften in nur etwas mehr als vier Jahren auf heute 343 Unternehmen angeschwollen. Vom Start bis zum historischen Kurshoch am 10. März 2000 ist der Nemax All Share
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von 505,28 Punkten um rund 1600 Prozent auf 8559,32 Punkte in die Höhe geschossen. Auf dem Höhepunkt der um sich greifenden Börsenbegeisterung verdreifachte der Index des Neuen Markts in nur sechs Monaten seinen Wert. Leider ging es in den folgenden 16 Monaten ebenso rasant nach unten. Der Absturz führte zu durchschnittlichen Kursverlusten am Neuen Markt von 85 Prozent. Entsprechend brach der Börsenwert aller am Neuen Markt notierten Unternehmen von 234 Milliarden Euro im März 2000 auf gegenwärtig 58 Milliarden Euro ein, wobei die heute deutlich höhere Zahl der notierten Gesellschaften zu berücksichtigen ist. Neun Unternehmen sind bislang aus dem Neuen Markt infolge von Übernahmen, Insolvenz oder dem Wechsel in den Geregelten Markt ausgeschieden. Elf weitere Gesellschaften befinden sich in akuten Zahlungsschwierigkeiten. Die Stimmung unter den Anlegern ist inzwischen so düster, daß kaum noch Unternehmen den Gang an den Neuen Markt wagen. Börsenpläne werden auf Eis gelegt. Die vormals sprudelnde Finanzierungsquelle Neuer Markt ist versiegt. Gemeinsame Anstrengungen sind notwendig, um das zerstörte Vertrauen von Anlegern und Emittenten in den Neuen Markt wiederherzustellen. Das ist eine volkswirtschaftlich wichtige Aufgabe. Denn nicht zuletzt dem Neuen Markt ist es zu verdanken, daß es in Deutschland in den vergangenen Jahren einen wahren Gründerboom gegeben hat, von dem zuvor kaum jemand zu träumen wagte. Dank der unbestrittenen Erfolge des Neuen Markts ist die Aufholjagd der deutschen Volkswirtschaft in wichtigen Schlüsseltechnologien des 21. Jahrhunderts rasch vorangekommen. Nicht vergessen werden darf, daß in den Wachstumsunternehmen zahlreiche neue Arbeitsplätze geschaffen worden sind. Gelingt es nicht, den Neuen Markt von seinem Negativimage zu befreien, werden sich vielversprechende deutsche Wachstumsunternehmen eine ausländische Börsenplattform für ihre Finanzierung suchen. Konkurrierende Marktplätze für junge Unternehmen gibt es in Europa wie auch in Amerika reichlich.
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11.07.2001, Nr. 158 / Seite 25