Wirtschaftswoche 18.10.2001
Gezüchtete Gesundheit
Haut aus der Tube, Gelenke aus dem Reagenzglas: Körpereigenes Ersatzgewebe revolutioniert die Medizin
Dieter Haser bläst wieder Trompete. Für den 36-jährigen ist das etwas Besonderes. Denn im vergangenen Jahr schien seine Karriere im heimischen Stadtorchester jäh beendet: Der Techniker glitt mit der rechten Hand in eine hydraulische Presse. Der zerquetschte Zeigefinger war nicht mehr zu retten. Nur für Hasers Mittelfinger, dessen Gelenk völlig zerstört war, gab es Hoffnung: Statt ihn mit Schrauben und Nägeln zu versteifen, wagten sich Ärzte des Freiburger Universitätsklinikums an eine medizinische Revolution: Sie ersetzten das Gelenk durch ein neues - maßgeschneidert gezüchtet aus den Knorpel - und Knochenzellen des Patienten selbst.
Tissue Engineering nennt sich die Wissenschaft, die ganz neue Heilungschancen verspricht. Schon heute lässt sich Haut nachzüchten, um damit zum Beispiel chronische Wunden und Verbrennungen zu behandeln. In Tuben gelangt das Gewebe zum Patienten. Auch neue Mundschleimhäute bieten die Forscher an. Eines Tages wollen sie auch Lebern, Herzen und Nieren aus dem Labor liefern - allesamt hergestellt aus patienteneigenen Zellen, damit der Körper das Gewebe nicht abstößt
Eines der weltweit führenden Unternehmen auf dem Gebiet der Gewebezüchtung ist die am Neuen Markt notierte Freiburger BioTissue Technologies AG, eine Ausgründung aus der dortigen Uniklinik. Die Badener bringen Anfang November Ersatzknochen und -knorpel auf den Markt, bei denen es zum ersten Mal gelungen ist, sie räumlich wachsen zu lassen, sodass ein Körper und nicht bloß eine Fläche entsteht. "Das ist ein Durchbruch", rühmt Eszter Tánczos die Erfindung, im Vorstand für Entwicklung, Forschung und Herstellung zuständig.
Die Nachzüchtungen versprechen Hilfe etwa bei den weit verbreiteten Kniegelenksverletzungen oder bei Arthrose, einer fortschreitenden Gelenkserkrankung. Knorpel, die sich bei Erwachsenen im Gegensatz zu Knochen nicht von alleine regenerieren, können dabei völlig zerstört werden. Alleine in Deutschland leiden mehr als 1,5 Millionen Menschen an Arthrose, weltweit sind es bis zu 20 Millionen. Knochen lassen sich nach Unfällen oder Krebsbehandlungen verlängern oder wiederaufbauen. "Tissue Engineering bietet für viele Gewebe- und Organerkrankungen neue, verbesserte oder gar erstmalige Heilungschancen", betont Alexander Burger, Biotechnologie-Analyst der Landesbank Baden-Württemberg.
Trompetenspieler Haser ist einer der Ersten, dem geholfen werden konnte. Dirk Schaefer und Christoph Klemt, Chirurgen am Freiburger Universitätsklinikum, hatten ihm dazu ein Gramm Knorpel aus der Rippe sowie ein kleines Stück Knochen aus dem Beckenkamm entnommen. Im Labor päppelten Mitarbeiter von BioTissue die Zellen mit Wachstumsfaktoren und Nährstoffen auf. Dann setzten sie sie auf eine Art Gerüst, auf dem die Zellen zum vollständigen Fingergelenk heranreiften. Nach der Transplantation kam es zu keinerlei Abstoßreaktionen - Hasers Immunsystem hatte das neue Gelenk als etwas Eigenes anerkannt.
BioTissue-Managerin Tánczos ist überzeugt, dass solche Eingriffe bald zum Klinikalltag gehören. Der Markt ist riesig. Je älter die Menschen in den Industriestaaten werden, "umso mehr nehmen altersbedingte Erkrankungen wie Abnutzungserscheinungen an Gelenken, verstärkte Neigung zu Knochenbrüchen, altersbedingte Organerkrank-ngen oder Hauterkrankungen und damit der Bedarf an Ersatzgewebe zu", prognostiziert Landesbank-Analyst Burger. Er schätzt, dass sich alleine die Umsätze mit Ersatzknorpel bis zum Jahr 2011 fast vervierfachen - von heute 6,5 Milliarden Dollar auf rund 25 Milliarden Dollar (siehe Grafik).
Die Tissue Engineering Initiative aus Pittsburgh in den USA sieht einen jährlichen Markt von 80 Milliarden Dollar weltweit für alle Gewebezüchtungen voraus. Burger hält die Größenordung für übertrieben. "Man darf nicht vergessen, dass das Tissue Engineering nicht für die Notfallmedizin taugt, da die Gewebezucht im Normalfall mehrere Tage bis Wochen benötigt."
Die wachsende Nachfrage lockt auch die großen Pharmakonzerne an. Das Schweizer Pharmaunternehmen Novartis ist bei der US-Tissue-Engineering-Firma Organogenesis eingestiegen. Der amerikanische Pharmakonzern Baxter hat für BioTissue den weltweiten Vertrieb der Ersatzhaut übernommen. Dagegen steht das ebenfalls am neuen Markt gelistete Unternehmen Co.don aus Teltow bei Berlin - ebenfalls auf die Züchtung von Knochen und Knorpel spezialisiert - noch ohne starken Partner da.
Anders als in der Biotechnologie, wo deutsche Unternehmen der Konkurrenz aus den USA und Großbritannien oft hinterherhinken, sind die deutschen Experten für Gewebezucht technologisch führend. "Die Amerikaner waren zwar sehr früh mit ersten Produkten auf dem Markt, doch seitdem hat sich technisch nicht mehr viel getan", urteilt die Ärztin Tánczos. So basiert US-Hautersatz auf Vorläuferzellen, die aus der Vorhaut von Kindern gewonnen werden. Sie sind jedoch immunologisch längst nicht so gut verträglich wie patienteneigene Hautzellen.
Mithilfe des Forschungsvorsprungs hofft die gebürtige Ungarin in einigen Jahren annähernd hohe Umsätze zu erzielen wie der US-Branchenriese Organogenesis, der im vergangenen Jahr 34 Milliarden Dollar erwirtschaftete. Für dieses Jahr peilt BioTissue noch vergleichsweise bescheidene 1,5 Millionen Mark an. Mit den neuen Ersatzprodukten für Mundschleimhaut, Knorpel und Knochenersatz soll es dann steil aufwärts gehen und spätestens im Jahr 2003 die Gewinnschwelle erreicht werden (siehe Investor´s Info). Zusätzlich Schub erhofft sich Tánczos von einer mit körpereigenen Zellen beschichteten Gefäßprothese. Tánczos: "Die Entwicklung ist bald abgeschlossen."
Wesentlich länger wird es dauern, bis die ersten Organe im Labor heranwachsen. Erst einmal müssen die Forscher herausfinden, wie sich verschiedene Zellen zu einem hochkomplexen Gebilde wie eine Leber formen. "Wir werden vorerst sicher keine vollständigen Herzen züchten, sondern etwa nach einem Herzinfarkt die zu Grunde ge-gangenen Herzzellen durch nachgezüchtete ersetzen", hofft Tánczos. Zukunftsmusik ist eine Behandlungsmethode, mit der Doktor McCoy in der US-Fernsehserie "Raumschiff Enterprise" einem Patienten half: Er ließ ihm einfach per Pille eine neue Niere wachsen.
Jürgen Rees