Indien zwischen Mythen und Mausklick
In München widmet sich die alljährliche Frühjahrsbuchwoche "Indien zwischen Mythen und Mausklick". In diesem Rahmen fand eine Diskussion über das Cyberland Indien statt.
Indien ist geballt in die virtuelle Zukunft aufgebrochen. Auf dem Subkontinent sind eine Fülle von Computer-Unternehmen entstanden und weltweit arbeiten Inder höchst erfolgreich in der IT-Branche. In Deutschland führte diese Tatsache dazu, dass gegen die so genannte "Green Card" mit Slogans wie "Kinder statt Inder" (Vgl. Kinder statt Inder) Front gemacht wurde.
Die Teilnehmer der Diskussion in der Lothringer 13, einem Raum für aktuelle Kunst und neue Medien, gingen der Frage nach, worin das Geheimnis liegt, dass ausgerechnet Indien in den letzten Jahren zu einer der führenden Nationen bei der Software-Entwicklung wurde. Eine These dazu lautet, dass die bildhafte Sprache der indischen Mythen- und Märchenwelt schon im Kindesalter die Fähigkeit fördert, abstrakte Zeichen und Kürzel der Computersprache in eine grafisch nachvollziehbare Bildsprache umzusetzen. Auf dem Podium saßen Ramesh Krishnan von den Siemens Business Services, John Kottayil von der bayerischen Standortmarketing-Agentur gotoBavaria, Javaji Munirathnam von der Total systems GmbH und als Moderator der Journalist Florian Schneider.
In Indien wurde das Dezimalsystem und die Null als Recheneinheit um 600 n. Chr. eingeführt, über die arabische Welt kam sie dann im 12. Jahrhundert nach Europa.
Alle Inder waren sich in der Diskussion einig, dass es eine direkte Beziehung zwischen den indischen Märchen und der Mathematik gibt. Die indischen Märchen vermitteln Vorstellungen von Logik und sind poetische Denksportaufgaben, mit denen die Kinder herausgefordert werden, ihr Denken zu schulen. Ramesh Krishnan erzählte als Beispiel das Märchen von den Reiskörnern:
Es war einmal ein König, der sich nicht mehr an Literatur erfreuen konnte. Es war ihm, als habe er alles schon mal gehört. Also versprach er dem Dichter, der ihm ein beindruckendes Gedicht vortragen würde, die Erfüllung eines Wunsches, egal wie groß der auch sein möge. Viele Poeten kamen, aber nichts fand Gnade in den Ohren des Königs. Bis eines Tages ein sehr kluger Verseschmied an den Hof kam und dem Herrscher ein Gedicht präsentierte, dass ihn berührte. Der König war begeistert und fragte nach dem Wunsch des Dichters. Der bat um Reis, zog ein Schachbrett hervor und meinte, auf das erste Feld solle ein Korn gelegt werden und dann auf jedes weitere der 63 Felder jeweils doppelt so viele Körner wie auf das vorherige. Dem König schien der Wunsch bescheiden und er rief seine Mathematiker zusammen, damit sie errechnen wollten, wie viele Sack Reis das ergebe. Die rechneten und rechneten und stellten fest, dass die Zahl astronomisch groß sein würde, alle Reisfelder des Reiches würden nicht ausreichen, um die versprochene Menge beizubringen, denn das wären 9'223'372'063'854'775'808 Reiskörner (Lösung). [Den Schluss fassen wir jetzt mal ganz westlich kurz zusammen: der König versuchte den Dichter über den Tisch zu ziehen, wird aber von ihm durchschaut und letztlich gehen die beiden friedlich auseinander und der Poet hat für den Rest seines Lebens genug Reis für die ganze Familie.]
Im indischen Alltag spielt Mathematik von der Kindheit an eine große Rolle. Tief verwurzelt ist die Vorstellung, das eigene Leben nach Berechnungen auszurichten. Dazu gehört nach Meinung von Javaji Munirathnam auch das Horoskop, das v.a. bei den Hochzeiten nach wie vor ausschlaggebend ist und auf Mathematik basiert.
Die arabischen Gelehrten haben durch den intensiven Austausch mit dem Subkontinent immer wieder auf indisches Wissen zurück gegriffen. Als Beispiel wurde der Mathematiker al-Khwarizmi (ca. 780-850) genannt, nach dem auch im Deutschen die Algebra und der Algorithmus benannt sind. Er bezog sich explizit auf die Zahlenreihen indischer Mythen.
Die indische IT-Industrie hat sich zuerst vor allem durch private Initiativen entwickelt, inzwischen wird sie manifest von der Regierung gepflegt und gefördert . Ihr Mittelpunkt liegt immer noch im Süden des Landes, als Zentren gelten die Städte Bangalore, das auch indisches Silicon Valley genannt wird, und Hyderabad. Die Gründe für diese Ballung liegen wohl vor allem in der hohen Bildungsrate Südindiens. Heute arbeiten ungefähr fünf Millionen Menschen in der indischen IT-Branche, 14% des Exports hängen von diesem Industriezweig ab. Der Schwerpunkt liegt dabei auf Dienstleistung, indische Firmen sind eher im Service als in der Produktion von kompletten Software-Programmen tätig.
Alle großen Konzerne der Welt haben in Indien Dependancen, teilweise haben sie auch Forschungszentren eingerichtet. Die amerikanischen Universitäten sind direkt vor Ort um die Anwerbung talentierter Studenten bemüht. Der Grund für die Niederlassung westlicher Firmen hat nur bedingt etwas mit der Kostenstruktur zu tun. Es ist nicht richtig, dass Spitzenprogrammierer in Indien nur $5000 pro Jahr verdienen, es sind tatsächlich zwischen $800-4'200 pro Monat. Interessant für ausländische Investoren sind nach Meinung von Ramesh Krishnan vielmehr die flexiblen Gesetze und Verordnungen sowie das Fehlen von Gewerkschaften. Dazu kommt die Menge an hoch qualifizierten Fachkräften vor Ort, die alle fließend Englisch sprechen und somit fast überall auf der Welt einsetzbar sind.
International ist eine deutliche Häufung von Indern in Spitzenpositionen der IT-Branche zu sehen. Schon in den 60er Jahre waren viele indische Ingenieure und Wissenschaftler in den USA bei der NASA und bei innovativen Firmen wie Boeing beschäftigt. Mehr als 1000 Firmen in Silicon Valley wurden von Indern gegründet. Im Ausland zu arbeiten ist für viele IT-Spezialisten interessant, dabei spielt Geld nicht unbedingt die Hauptrolle. Die hoch Qualifizierten wollen neue Herausforderungen annehmen und dazulernen.
Arbeit ist aber nicht das ganze Leben, heute kommen keine "Gastarbeiter" mehr, sondern Hochgebildete, die mehr wollen, als hier nur Geld verdienen. Warum bisher relativ wenige Inder das so genannte Green-Card-Programm der Bundesregierung annehmen, hat mehrere Gründe. Erstens sind die Bedingungen dieses Angebots bei weitem nicht so umfassend wie in den USA, dann gibt es die Sprachbarriere und nicht zuletzt hat Deutschland aufgrund der vielen rechtradikalen Übergriffe nicht das beste Image. Viele "kleine" Schwierigkeiten sind für IT- Spezialisten, die international umworben werden, ausschlaggebend um die Bundesrepublik zu meiden. Dazu gehören die vielen Vorschriften und ausländerrechtlichen Hemmnisse wie z. B. beim Nachzug von Partner oder Familie. Außerdem ist die Integration in die Gesellschaft in Deutschland nicht gegeben. In den USA saugen die Micro-Communities sofort den Zuwanderer auf, er ist sozusagen Inder unter US-Indern.
Am Schluss der Diskussion entbrannte mit dem Publikum eine Debatte darüber, ob die Abwerbung gut ausgebildeter Inder den Subkontinent intellektuell ausbluten lässt. Die drei Experten sahen das nicht so, denn im Zuge der Globalisierung seien die Märkte nicht mehr unter nationalen Gesichtspunkten zu begrenzen, viele westliche Firmen ließen sich in Indien nieder, so würden wechselseitig Arbeitsplätze und Austausch geschaffen. In der IT-Branche gibt es keine Einbahnstrassen mehr, es handelt sich um eine weltweites Netzwerk. Zudem könne ein freiheitlich-demokratisches System - und bei allen Schwierigkeiten sei Indien eines - seine Bürger nicht an der Ausreise hindern. Eine Entschädigung an den indischen Staat, z.B. Deutschlands, für die Anwerbung von Spezialisten lehnten sie ab.
Heißer war die Diskussion darüber, ob der Wertzuwachs, den die indischen IT-Arbeiter weltweit leisteten, an sie zurück fließe und ob sie das geistige Eigentum an ihren Produkten hätten. Die Experten auf dem Podium antworteten eher ausweichend, denn obwohl indische Spitzenleute überall sitzen, und indische Firmen als Subunternehmer aktiv sind, verschwinden ihre Leistungen schnell in den globalen Ansprüchen multinationaler Konzerne, die am Schluss alle erarbeiteten Teile von Systemen und Programmen unter ihrem Namen auf den Markt bringen und verwerten.