Mittwoch, 20.05.2009 09:29 von Jochen Steffens | Aufrufe: 643

Der Dow Jones aus einem anderen Blickwinkel

Eines der Probleme, mit denen man als Börsianer täglich zu tun hat, ist die Gefahr, sich zu schnell auf bestimmte Überzeugungen festzulegen. Bestimmte Analysen ergeben, dass der Markt steigen oder fallen soll und schon hat eine festgefahrene Meinung die eigene Wahrnehmung fest im Griff. Von diesem Moment an werden Nachrichten, Kursverläufe, Konjunkturdaten und andere Indikatoren nur noch in Richtung dieser neu gewonnenen Erkenntnis interpretiert. Störende Fakten, die auf ein anderes Szenario hinweisen, werden schlichtweg ausgeblendet. Nachrichten hingegen, welche die eigene Überzeugung stützen, werden höher bewertet. In der Psychologie gibt es einen Begriff dazu, der dieses Phänomen treffend beschreibt: „Selektive Wahrnehmung“. Der Mensch nimmt nur das wahr, was er wahrnehmen will.

Selektive Wahrnehmung in der Charttechnik


Gerade in der Charttechnik sehe ich immer wieder, dass Charttechniker nicht das analysieren, was tatsächlich im Chart zu erkennen ist, sondern lediglich das, was sie in den Chart hineinsehen wollen. Da die Charttechnik sowieso schon eine Analysemethode ist, die eine Vielzahl von Auslegungen zulässt, muss eine derartige selektive Wahrnehmung eines Charts geradezu ins finanzielle Verderben führen.

 

Andere Wahrnehmungsverzerrungen

 

Doch das sind nicht die einzigen Stolpersteine. Viele Charttechniker neigen dazu, sich von weiteren Wahrnehmungsverzerrungen leiten zu lassen. Einige suchen, wenn sie eine Abwärtsbewegung sehen, immer nach Umkehrhinweisen, andere sehen jeden Chart aus Gewohnheit bullisher / bearisher als er ist, je nach dem, was in den letzten Monaten / Jahren passiert ist. Und ganz erstaunlich, sogar der Rahmen um einen Chart kann eine Analyse beeinflussen. Dazu ein Beispiel:

 

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Das ist der Dow Jones Average von 1896 bis 2009. Wenn Sie diesen Chart analysieren, auch ohne viel charttechnisches Verständnis zu haben, geraten Sie leicht in Gefahr, zu bearish zu werden. Dieser Aufwärtstrend kann doch nicht so weiter gehen, er muss nun einbrechen. Das liegt zum einem daran, dass in dem Chart einfach die Luft nach oben fehlt. Der Mensch empfindet den oberen Rahmen als Begrenzung und kann sich ein „darüber hinaus“ nur schwer vorstellen. Zum anderen mag bei vielen diese Einschätzung auch daraus resultieren, dass man durch die vielen schlechten Nachrichten im Zusammenhang mit dem Crash voreingenommen ist.

 

Chartanalyse des Dow Jones

 

Ein Chartanalyst würde nun folgendes schreiben: „Es kam zu einem Ausbruchsversuch aus dem langjährigen roten Trendkanal, der immerhin knapp 70 Jahre Bestand hatte. Dieser Ausbruchsversuch wurde nicht bestätigt und muss daher als Übertreibung eingestuft werden. Der Rückfall in den Trendkanal ist bearish zu werten. Wir müssen mindestens mit einem Rückfall an die untere Trendkanallinie im Bereich der Unterstützung bei 4.000 Punkten rechnen (rotes Rechteck). Da einer Übertreibung nach oben gerne auch eine Übertreibung nach unten folgt, ist sogar ein Trendbruch nach unten nicht auszuschließen. Weiter fallende Kurse mit einem Extrem-Szenario von 1.000 Punkten sind denkbar.“

 

Vielleicht würde er noch anfügen: „Dieses Szenario weist darauf hin, dass die aktuelle wirtschaftliche Rezession sich ausweitet und zu einer massiven Weltwirtschaftskrise führen wird.“ Soweit der Chartanalyst. Der Sarg ist zu, wir können nun alle nach Hause gehen und ein paar letzte Stunden mit der Familie verbringen, bevor der gesamte Planet um uns herum das Licht ausmacht...

 

Ein Trick, um etwas mehr Objektivität zu finden

 

Es gibt aber einen Trick, um etwas mehr Objektivität in der Chartanalyse zu gewinnen. Wenn ein Künstler, ein Musiker oder eine Manager in einer Sackgasse steckt und nicht mehr weiter weiß, wird von entsprechend versierten Quellen (z.B. einem Coach) geraten, einmal das Blickfeld zu ändern.

 

Im Leben ist das zuweilen recht mühsam, in der Charttechnik hingegen sehr einfach. Tatsächlich rate ich auch erfahrenen Chartisten immer mal wieder: Dreht den Chart auf den Kopf und analysiert ihn dann noch einmal.  Entfernt dabei das Ende des Kurses von den Rahmen, beziehungsweise versucht euch den Chart möglichst ohne solche begrenzenden Rahmen anzusehen. Und genau das machen wir nun mit dem Dow Jones:

 

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Wenn ich ihnen nur diesen Chart zeigen würde, was würden Sie spontan sagen? Sie sehen einen klaren Abwärtstrend, mit einer eindeutigen Mittellinie, wie geht’s weiter? Ich habe es getestet und diesen Chart (ohne Zeit- und Punkteskala) an meine Kollegen geschickt, mit der Bitte um eine spontane Analyse. Die meisten sehen einen eindeutigen Abwärtstrend und rechnen damit, dass er weiter fortgeführt wird. Da der Chart auf dem Kopf steht, bedeutet das für den realen Dow Jones: steigende Kurse. So ergibt sich eine ganz andere Analyse als im ersten Chart.

 

Auch als ich nach einer genaueren Chartanalyse fragte, war das Ergebnis ähnlich. Die meisten rechneten mit weiter fallenden Kursen, damit, dass der Kursverlauf nun um die Mittellinie herum fluktuierend weiter abwärts läuft. Auch wurde ein Test der oberen Trendkanallinie in Betracht gezogen. Hier sollte es sich dann entscheiden: Kommt es zu einem Trendbruch oder nicht. Schlussendlich wurde auch die Möglichkeit einer Seitwärtsbewegung genannt (siehe Chart unten: blaues Rechteck), welche die Kurse ebenfalls zur oberen Trendlinie führen würde, allerdings seitwärts.

 

Insgesamt zeichnete man also für den umgekehrten Chart ein überwiegend bearishes Bild.  Auf den realen Dow Jones übertragen, waren die meisten Analysen damit eher bullish! Und das ist doch erstaunlich, weil die meisten Chartanalysen des Dows zurzeit eher bearish ausfallen.

 

Mögliche Bodenformation (im realen Chart: Top-Formation)

 

Allerdings wurde bei der Analyse des umgekehrten Charts auch die Möglichkeit einer inversen Schulter-Kopf-Schulter-Formation (SKS) erkannt.

 

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Dazu müsste der Kurs in diesem Chart allerdings zuvor noch eine weitere Abwärtsbewegung einleiten,  um eine rechte Schulter auszubilden (siehe im Chart die blaue Prognoselinie). Auf den realen Dow Jones übertragen heißt das, die Kurse müssten noch deutlich ansteigen, bevor sich diese Umkehrformation ausbilden kann. Diese mögliche SKS wird von einigen Analysten auch bei der Analyse des normalen Charts beschrieben und entspricht in etwa der bearishen Analyse zum ersten Chart.

 

Fazit

 

Ohne das Wissen, um welchen Chart es sich handelt, wurde der auf dem Kopf stehende Dow Jones übertragen gesehen deutlich bullisher interpretiert, als der reale Chart. Man erkennt daran, wie sehr die eigenen Erfahrungen und Erwartungen die Chartanalysen prägen. Sie sollten also immer bemüht sein, ihre eigene, selektive Wahrnehmung zu hinterfragen. Ein hilfreiches Mittel ist, sich Charts einfach einmal auf dem Kopf stehend anzusehen. Oft kommt es hier zu einem Aha-Effekt.

 

Für den Dow Jones bedeuten diese Analysen: Generell ist aus charttechnischer Sicht das Bild deutlich bullisher, als allgemein beschrieben. Allerdings sollten die letzten Tiefs nicht mehr unterschritten werden. Geschieht das, wäre die untere Aufwärtstrendlinie die letzte Bastion der Bullen, deren Bruch auf eine tiefe weltwirtschaftliche Rezession hinweisen würde. Hoffen wir also, dass sich der bullishe Eindruck durchsetzen wird.


Viele Grüße

 

Jochen Steffens

 

 


Über den Autor

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Stockstreet GmbH
Jochen Steffens ist als Chefredakteur diverser Fachpublikationen im Bereich Börse und als bekannter Kolumnist tätig. Seit mehr als zwölf Jahren arbeitet er als eigenverant-
wortlicher Daytrader mit dem Schwerpunkt Future-
handel. Als Geschäftsführer der Stockstreet GmbH ist er für die Börsenseite stockstreet.de verantwortlich.
Dort gibt er den täglich erscheinenden Börsen-
newsletter: „Steffens Daily“ heraus.

Für mehr Information: www.stockstreet.de
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