Mit den einfachsten Fragen tun die Ökonomen sich am schwersten. Was ist Wohlstand? Wie misst man ihn? Steigert Wachstum automatisch die Lebensqualität? Auf das, was Millionen Bürger interessiert, finden die Wirtschaftsexperten keine befriedigenden Antworten.
Sie sind seit Jahrzehnten gedrillt in der Disziplin des Bruttoinlandsprodukts (BIP). Berechnet wird es als die Summe aller Güter und Dienstleistungen, die in einem Jahr in einem Land oder einer Staatengemeinschaft als Endprodukte erzeugt werden. Das ist für die Ökonomen der wichtigste, wenn nicht sogar der alleinige Maßstab. Dabei amüsierte sich schon 1968 Robert Kennedy, der später ermordete Bruder des US-Präsidenten: "Das BIP misst alles, außer dem, was das Leben lebenswert macht." Denn dieser Indikator erfasst alle wirtschaftlichen Aktivitäten, ob sinnvoll oder sinnlos, nützlich oder schädlich, ohne sie zu bewerten.
Das hat absurde Folgen: Der Bau und die laufende Produktion der Bohrinsel "Deepwater Horizon" haben das BIP gesteigert. Die Versuche, die Folgen der Ölschwemme nach der Explosion der Plattform einzudämmen, haben es noch einmal kräftig erhöht. Doch wenn Deepwater Horizon nie gebaut worden wäre, ginge es der Menschheit zweifellos besser. Auch wie das Einkommen verteilt und die Arbeit organisiert ist, ignoriert das BIP, obwohl beides für die Lebensbedingungen eine große Rolle spielt.
Weit über die Wirtschaftspolitik hinaus gilt das BIP-fixierte Wachstumsdiktat. Maßnahmen, die nach diesem Kriterium als "wachstumsschädlich" kritisiert werden können, etwa im Bereich der Sozialpolitik, haben von vornherein einen schweren Stand. Eine Senkung der Kriminalität etwa verbessert zweifellos unsere Lebensqualität, sie mindert aber das BIP, weil dann ja weniger Gefängnisse gebraucht werden und Unternehmen wie Privathaushalte weniger Sicherungseinrichtungen anschaffen.
Dennoch gilt das BIP in Medien und Politik als der Wohlstandsindikator. Ein anderes Maß, das die vielen Dimensionen des materiellen Wohlergehens einer Nation prägnant auf den Punkt bringt, haben wir nicht. Doch die Bürger sind zunehmend kritisch. Die Suche nach anderen Maßstäben nimmt zu, eine neue Wachstumsskepsis breitet sich aus. Die Enquetekommission des deutschen Bundestages, die in dieser Woche zu ihrer ersten Sitzung zusammentrat, ist ebenfalls Ausdruck der Unzufriedenheit mit dieser Situation. Die 17 Abgeordneten und 17 Experten sollen in den nächsten zweieinhalb Jahren prüfen, "wie die Einflussfaktoren von Lebensqualität und gesellschaftlichem Fortschritt angemessen berücksichtigt werden können".
Bundestagspräsident Norbert Lammert erinnerte bei der Konstituierung an die Finanzkrise. Ein guter Hinweis: Wie kaum ein anderer Sektor hat die Finanzindustrie in den vergangenen Jahren das BIP-Wachstum vorangetrieben. Doch was davon hat wirklich unseren Wohlstand vergrößert? Das fragen sich nicht nur die Menschen, die unmittelbar unter den Billionenverlusten seit Ausbruch der Krise leiden.
Wenn unser Wohlergehen mit dem falschen Maßstab gemessen wird, findet mit hoher Wahrscheinlichkeit auch die falsche Politik statt. Doch Einsicht ist nur der erste Schritt zur Besserung. Auf die Enquete-Kommission warten auf dem Weg zu einer besseren Definition und Messung viele Fallstricke.
In die erste Falle sind die Auftraggeber der Kommission schon getappt. Sie erlagen der Versuchung, die Experten für das BIP auch zu Experten für BIP-Alternativen zu erklären. Zwei Drittel der berufenen Experten sind Ökonomen. Doch Ökonomen sind nicht die ersten Experten für Fragen der Umwelt oder der Bildung, und selbst was den materiellen Wohlstand angeht, haben die meisten eine sehr verengte Wahrnehmung, die etwa Verteilungsaspekte weit in den Hintergrund schiebt.
Schon der französische Präsident Nicolas Sarkozy hatte 2008 allein Ökonomen in eine Kommission berufen, die gesellschaftlichen Fortschritt neu bestimmen sollte. Die Bundesregierung tat es ebenso (siehe rechte Spalte). In beiden Fällen war das Ergebnis dementsprechend einseitig, wenig überzeugend und folgenlos.
Dass das BIP-Wachstum so überbewertet wird, hängt ja gerade damit zusammen, dass die Ökonomen den gesellschaftlichen Diskurs so dominieren. Im Bruttoinlandsprodukt kristallisieren sich die Grundüberzeugungen und methodischen Festlegungen der Ökonomen. Bleibt die Dominanz der Ökonomen unangefochten, wird sich auch an der Dominanz des BIP nichts ändern. Noch lässt sich der Mangel des fehlenden Sachverstandes abseits der Wirtschafts-, Finanz- und Umweltpolitik zumindest abmildern, indem die Kommission zusätzlich Gutachten von Experten aus anderen wichtigen Fachgebieten einholt.
Zu den Fallstricken gehört auch der Wunsch, eine neue Messzahl zu entwickeln, die genauso ist wie das BIP, nur besser. So steht im Arbeitsauftrag der Kommission, sie solle, wenn möglich, einen neuen, ganzheitlichen Wohlstandsindikator entwickeln. Er soll alles gewichten, was gut und schön ist: materiellen Lebensstandard, Umweltqualität, Bildungschancen, Lebenserwartung, soziale Sicherung und Zufriedenheit.
Doch wo soll die allgemein akzeptierte Gewichtung dieser Ziele herkommen? Hier spielen unterschiedliche Interessenlagen und Weltanschauungen hinein. Ein Geringverdiener und ein gutsituierter Angestellter sehen Zielkonflikte zwischen Wirtschaftswachstum und Artenvielfalt sehr unterschiedlich. Ein Anhänger der FDP wertet den Zielkonflikt zwischen sozialer Absicherung von Kindern und einer hohen Arbeitsmoral anders als ein Anhänger der Linken. Solche von individuellen Interessen und Weltanschauungen gespeisten Unterschiede kann kein noch so kluger und wohlmeinender Experte in einer allgemeingültigen Bewertung auflösen.
Das soll nicht heißen, dass Erfolgsmaße wie der Human Development Index der Vereinten Nationen oder der Fortschrittsindex des von Stefan Bergheim geleiteten Zentrums für gesellschaftlichen Fortschritt keine Daseinsberechtigung hätten. Diese stellen neben das BIP auch Indikatoren, die näher am Menschen sind, wie die Lebenserwartung oder die Bildungschancen. Solche Indikatoren haben einen gewaltigen Vorteil: Sie machen die Folgen von ungleichen Lebensbedingungen sichtbar. Wenn nennenswerte Teile der Bevölkerung schlechte Bildungschancen oder eine schlechte Gesundheitsversorgung haben, dann zieht das den Durchschnitt nach unten, auch wenn andere Bevölkerungsteile umso besser versorgt werden. Das ist ganz anders beim BIP, wo ein Plus von einer Milliarde Euro für einen Hedge-Fonds-Manager ein Minus von jeweils 1000 Euro für eine Million Menschen ausgleicht.
In Bergheims Rangliste sind die USA nicht mehr das Maß aller Dinge, denn sie warten unter den reichen Ländern mit der niedrigsten Lebenserwartung auf und verursachen die zweithöchsten Umweltbelastungen. Im Fortschrittsindex rangieren sie deshalb weit unten. Zugleich sieht man in diesen Studien, dass die Wahrnehmung, in Deutschland stagniere die soziale Entwicklung oder falle zurück, in vieler Hinsicht falsch ist: So hat die Lebenserwartung in Deutschland seit 1991 um fast fünf Jahre zugenommen, ist das durchschnittliche Einkommen der Deutschen in den letzten zehn Jahren inflationsbereinigt um 20 Prozent gestiegen und ging dennoch die von den Bundesbürgern durch ihren Konsum verursachte Umweltbelastung zurück. Nach Bergheims Index war der gesellschaftliche Fortschritt in Deutschland in den letzten zehn Jahren größer als in der Schweiz und den Niederlanden.
Solche alternativen Ranglisten demonstrieren aber auch, dass man zu sehr verschiedenen Ergebnissen kommt, je nachdem, wie man Indikatoren auswählt und gewichtet. In Deutschland steigt der Fortschrittsindex seit 1990 recht steil an, wenn man sich nur auf Nationaleinkommen und Lebenserwartung bezieht. Fügt man die Bildung als weitere Komponente hinzu, verläuft die Kurve viel flacher. Was ist der "richtige" Wert? Als Richtschnur für das Handeln demokratischer Regierungen taugen derartige Indikatoren daher nur sehr begrenzt.
Es gibt einen wirkungsvollen und etablierten Mechanismus, um unterschiedliche Werturteile und Interessen in eine einheitliche Politik münden zu lassen: die demokratische Willensbildung. Die Bürger brauchen keine Expertenvorgabe dafür, wie sie verschiedene Ziele "richtig" gewichten sollen. Sie müssen nur wissen, wie die Parteien die Ziele gewichten, und sie brauchen bessere Informationen über Zusammenhänge und relevante Entwicklungen. Entscheiden können und müssen sie dann selbst.
In der besseren Information über Wechselwirkungen sollte die Enquete-Kommission ihr Hauptbetätigungsfeld sehen. Weil sie nicht hoffen kann, in einem Wurf die letztgültige Antwort auf die Frage nach dem Leben, dem Glück und dem Sinn unseres Tuns zu finden, muss sie sich darauf konzentrieren, bessere Verfahren und Institutionen vorzuschlagen, die den Bürgern bei der Entscheidungsfindung helfen. Schließlich gibt es zu fast allem bereits Statistiken. Sie sind nur entweder nicht glaubwürdig, weil sie manipuliert werden, oder sie werden dem Volk einfach hingekippt, ohne dass sie in annähernd ähnlicher Prominenz wie das BIP von Experten aufbereitet werden.
Konkret lautet der Vorschlag: Die Enquete-Kommission sollte in einem ersten Schritt die für die Lebensqualität der Masse der Bevölkerung wichtigsten Faktoren identifizieren. Das dürften vor allem Wohlstand einschließlich der Verteilung, Beschäftigungsmöglichkeiten und Arbeitsbedingungen, Bildungschancen, Umwelt und Gesundheit sein.
Für diese Faktoren sollte sie grobe Raster entwickeln, wie Fortschritte und Rückschritte aufzuzeigen sind. In einem dritten und wichtigsten Schritt sollte sie Vorschläge für regelmäßige Fortschrittsberichte unabhängiger Expertengremien vorlegen.
In der Praxis wird weder die Besetzung solcher Kommissionen über jeden Zweifel erhaben sein noch deren Arbeit. Das ist auch gar nicht nötig. Wenn sie einigermaßen pluralistisch und hochkarätig besetzt sind und einen klaren Arbeitsauftrag haben, der auf Informationsaufarbeitung lautet und nicht auf Bewertung oder Empfehlung von Einzelmaßnahmen, dann bringen sie schon einen großen Schritt voran: Sie rücken für die Menschen wichtige Themen abseits des BIP ins Rampenlicht und sorgen dafür, dass diese auf einer guten Informationsbasis öffentlich und prominent diskutiert werden.