Die griechischen Medien äußern bereits erkennbar Unwohlsein, weil sie ahnen, dass der Grexit kaum mehr verhindert werden kann (SPON-Link in # 318).
Der Grund, warum die Griechen jetzt mehrheitlich im Euro bleiben wollen, ist der gleiche, der sie damals zum Beitrittsbetrug bewog: Der Euro garantiert ihnen Wohlstand auf Kosten anderer Eurozonen-Länder, weil die EMU-Mitgliedschaft der Joker für prinzipiell "ewigen" Zugang zu den EU-Hilfsmilliarden ist. Seit 2010 haben die Griechen über 400 Mrd. an Hilfen aus dem Eurosystem (inkl. ELA) gesogen. Doch die Strukturreformen, die allein ein Verbleiben im Euro langfristig möglich bzw. tragfähig machten, wurden nur halbherzig angegangen und unter Syriza sogar zu einem erheblichen Teil rückabgewickelt.
Das ist nicht im Interesse der Eurozone, zu deren Statuten zählt, dass jedes Land finanziell für sich selbst verantwortlich sein soll.
Ich bin mir inzwischen fast sicher, dass in Brüssel hinter den Kulissen bereits die Entscheidung für einen Grexit gefallen ist. Daher auch die vorwegnehmenden Klagen in der griech. Presse, und daher auch der neuerliche Versuch Amerikas (NYT, # 312), die Griechenrettung zu einem geostrategischen Muss zu deklarieren und damit indirekt zu erzwingen.
Europa wandelt daher auf schmalem Grat. Zum einen gebietet der selbst verordnete US-Vasallen-Status, dass die geostrategischen Interessen der Amis über die ökonomischen Interessen Europas gestellt werden sollen (siehe Russland-Sanktionen, die allein in den ersten vier Monaten 2015 einen Schaden von 6,8 Mrd. Euro verursacht haben).
Andererseits würde die Währungsunion (EMU), wenn Europa in den Verhandlungen mit den Griechen klein beigäbe, voraussichtlich infolge politischer Instabilität zerfallen: Es wäre eine Einladung an Podemos in Spanien und andere PIIGS-Protestler, es den Griechen gleichzutun und ebenfalls semi-militant den Maastricht-Gehorsam zu verweigern.
Grexit-Gegner (darunter etliche Griechen inkl. Tsipras) argumentieren zwar genau umgekehrt: Wenn Griechenland in die Pleite geschickt würde, dann wüchse sich dies via Ansteckungen (Derivate, Bondmarkt) zu einem Flächenbrand in der gesamten Eurozone aus, die dabei ökonomisch zerfiele. Da scheint mir allerdings eher der Wunsch Vater des Gedankens zu sein. Denn der Aufweicheffekt aus einer "Drachmisierung" des EMU-Systems wäre ökonomisch langfristig weitaus schwerwiegender. Die resultierende umfassende Transferunion wäre in den Nordländern inkl. Osteuropa (Baltikum), wo sich bereits jetzt Proteste häufen (# 313), politisch kaum vermittelbar.
Unter Abwägung allen Für und Widers scheint sich Brüssel inzwischen intern auf einen Grexit festgelegt zu haben. Das Problem ist, dass niemand die Veranwortung für einen Grexit auf sich nehmen will. Draghi könnte ihn sofort auslösen, wenn er ELA aufkündigte. Das tut er deshalb nicht. Merkel mit ihrem hehr-verklärten Europa-Bild riskierte bei einem Grexit - der letztlich einem Scheitern ihrer Bemühungen gleichkommt - ihre politische Zukunft (Link in # 312). Und die EU-Kommission hat das rechtliche Problem, dass der Austritt eines Landes aus der Eurozone "rechtlich nicht vorgesehen" ist. Es gibt keine juristische Handhabe - nur Umwege via EU-Austritt gemäß Paragraph 50 des Lissabonner Vertrags, der allerdings von Griechenland selbst veranlasst werden müsste.
Ein Grexit ist daher mMn nur machbar, wenn es am 30. Juni wegen Nichtzahlung der IWF-Gelder zu einem ungeordneten Staatsbankrott kommt. Dann müsste Draghi auch den ELA-Ersatzgeldhahn abdrehen.
Weil niemand die Schuld für einen Grexit auf sich laden will, obwohl ihn unter der Hand recht viele (und immer mehr) wollen, hat sich die EU-Politik offenbar auf die Strategie der Kompromisslosigkeit verlegt: In den Verhandlungen mit Tsipras bleibt die EU-Seite im Knackpunkt (Schuldenerlass oder Umschuldung der Griechenschulden auf den ESM-Rettungsschirm) hart. Damit wird der Schwarze Peter an Tsipras weiter gereicht. Tsipras hat zwei Optionen:
1) Entweder er beharrt weiter auf Schuldenerlass. Dann scheitern die Verhandlungen, und am 30. Juni erfolgt wegen Nichtzahlung der IWF-Schulden der ungeordnete Default.
2) Alternativ geht Tsipras heute im letzten Moment auf die EU-Kernforderung ein, dass es keinen Schuldenschnitt geben wird. Damit bräche er aber sein zentrales Wahlversprechen. Die Zahlung der nächsten Tranche an GR machen die nationalen Regierungen der Eurozone, die darüber abstimmen müssen, auch davon abhängig, dass das griech. Parlament noch VOR dem 30. Juni, also am kommenden WE, eine entsprechende Vereinbarung per Gesetz in Stein meißt (FAZ-Artikel im Anhang). In Athen wird Tsipras jedoch keine Mehrheit bekommen, wenn er von seiner Kernforderung ablässt. Das Gesetz käme mithin nicht zustande, die letzte Tranche würde deshalb nicht fließen, und es folgte ebenfalls am 30. Juni der ungeordnete Staatsbankrott.
Aus der FAZ (Link in # 317):
Die zentrale Frage ist und bleibt, ob sich am Ende der Inhalt einer konkreten Reformvereinbarung („Staff Level Agreement“) mit Athen festklopfen lässt. Ohne diese seien alle Überlegungen über das weitere Vorgehen sinnlos, sagten Diplomaten. In dieser Vereinbarung muss auch genau definiert sein, welche Reformmaßnahmen („prior actions“) Athen sofort ergreift. Diese Vereinbarung muss die Regierung schnellstmöglich in ein Reformgesetz gießen und anschließend zur Abstimmung im Parlament stellen – möglichst noch am Wochenende.
Das sind gleich zwei große Stolpersteine: Erstens wollen die Gläubiger sichergestellt wissen, dass die Vereinbarung gesetzlich sattelfest ist, und mindestens einige der „prior actions“ müssen auch ins Werk gesetzt sein, bevor Kredite ausbezahlt werden können. Zweitens ist unsicher, ob Tsipras ein solches Gesetz durchs Parlament bekäme: Teile seiner Syriza-Partei werden es ablehnen. Wie viel Unterstützung es von der Opposition bekäme, ist offen. Ohne eine unterzeichnete Vereinbarung wird auch keine nationale Regierung ihr Parlament um Zustimmung zu einer Kreditfreigabe bitten. Der deutsche Bundestag dürfte ohnehin erst beraten, wenn das griechische Gesetz beschlossen ist. Und in Berlin wird man sich Zeit ausbedingen, die Vereinbarung gründlich zu studieren.
Selbst wenn sich Griechenland schnell mit den Kreditgebern einigt, ist unwahrscheinlich, dass das Geld noch vor dem 30. Juni im Land ankommt, wenn die Regierung eine hohe Kreditrate an den Internationalen Währungsfonds zurückzahlen muss.