Chinas Wildwuchsvon Christiane von Hardenberg, Tim Bartz
Unaufhaltsam wächst China zur globalen Wirtschaftsmacht heran. Doch die Arbeiter im Billiglohnland fordern ihren Anteil am Erfolg. Der Westen wehrt sich gegen rücksichtslose Geschäftsmethoden. Und die Immobilien- und Kreditblase gefährdet den Boom.
Die chinesische Volkswirtschaft soll wachsen - um jeden Preis. Doch der von Peking vorangetriebene Aufstieg zur Industrienation stößt nun an seine Grenzen.Überhitzte Konjunktur: Häuserpreise explodierenJeder Unternehmensvorstand beginnt zu lächeln, sobald das Gespräch auf China kommt", sagt Goldman-Sachs-Chefvolkswirt Jim O'Neill. Ob er sich in der Automobil- oder der Chemiebranche umhört, das Geschäft brummt in China. 11,9 Prozent wuchs die chinesische Wirtschaft im ersten Quartal diesen Jahres, so stark wie seit Ende 2007 nicht mehr. Doch wie lange währt das Wirtschaftswunder noch? Vergangene Woche schickten schlechte Konjunkturdaten Chinas Börsen auf Talfahrt. Die Furcht vor einem rasanten Absturz der chinesischen Wirtschaft macht die Runde, im Blickpunkt steht der überhitzte Immobilienmarkt.
Die Haus- und Wohnungspreise, vor allem in der Hauptstadt und den Küstenmetropolen, sind 2009 drastisch in die Höhe geschossen. In Peking muss man mittlerweile für eine 100-Quadratmeter-Wohnung das 17-Fache eines durchschnittlichen Jahresgehalts auf den Tisch legen. Die Regierung, die die breite Masse mit einem Eigenheim versorgt wissen will, steuert gegen die Überhitzung: Für den Kauf einer Zweitwohnung muss man mindestens 50 Prozent Eigenkapital hinterlegen. In manchen Städten darf nur der eine Wohnung erwerben, der bereits ein Jahr Steuern vor Ort gezahlt hat. In Peking ist der Kauf von Drittwohnungen untersagt. Infolge dieser Maßnahmen dürften die Preise in der zweiten Jahreshälfte bis zu 20 Prozent fallen, prognostizieren Ökonomen.
Skeptiker fürchten Schlimmeres: Die Immobilienblase werde platzen. Eine harte Landung der chinesischen Wirtschaft sei programmiert, warnen sie seit Monaten. Dem widerspricht Tao Wang, Chefvolkswirt bei UBS in Hongkong: Noch herrsche ein enormer Nachholbedarf auf dem Wohnungsmarkt. Bislang hätten nur 48 der 215 Millionen städtischen Haushalte ihr eigenes Heim. Das hieße, dass gerade einmal 20 bis 30 Prozent der wohlhabenden Chinesen versorgt seien, so Wang.Wie hart umkämpft der Markt ist, zeigte sich Anfang April in der ostchinesischen Stadt Hangzhou: Mehr als 4000 Bewerber prügelten sich derart um die 244 Wohnungen, dass die Projektentwickler die Polizei rufen mussten.
Hinzu kommt, dass sich Chinesen für ihr Eigenheim nicht so stark verschulden wie beispielsweise Amerikaner. Die Immobilienkredite summieren sich in dem Land gerade einmal auf 15,3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, in den USA waren es zu Boomzeiten 79 Prozent. Folglich sind auch die Banken weit weniger exponiert: Im Schnitt machen Immobilienkredite lediglich 20 bis 30 Prozent ihres Kreditportfolios aus, schätzen Ökonomen. Weniger gut sieht es allerdings für die Provinzen aus, für die die Steuern auf Landverkäufe zu den Haupteinnahmequellen gehören. Ihre Einnahmen könnten 2010 um 17 Prozent zurückgehen, schätzt Credit Suisse. Allein, mit 2400 Milliarden Dollar Devisenreserven, die die Zentralbank lagert, dürfte das Geld aus Peking weiter fließen.
Proletarische Revolution: Arbeiter fordern Rechte
Wir wollen mehr Lohn und Rechte!" heißt es auf den Plakaten vor den Fabriken von Honda, Toyota oder Hyundai. Und nicht nur dort. Fast täglich werden neue Streiks und Arbeiterunruhen aus ganz China gemeldet, vom Perlflussdelta im Süden des Landes bis Tianjin nah der Hauptstadt Peking. Unruhen sind nichts Neues in einem Land, in dem die Einkommensschere immer deutlicher auseinanderklafft: 127.000 Proteste soll es nach Angaben der Nichtregierungsorganisation China Labour Bulletin 2008 - neuere Daten liegen nicht vor - gegeben haben. Ein Drittel davon haben Arbeiter angezettelt. Neu ist, dass selbst in chinesischen Medien darüber berichtet wird. Neu ist auch, dass die Regierung die Proteste in Maßen duldet. Denn eigentlich passen Streiks nicht in die KP-Ideologie, die doch an sich die Interessen der Arbeiter vertritt.
Doch die Zeiten haben sich gewandelt: "Die Unterdrückung von Arbeiterorganisationen wie vor zehn Jahren sehen wir heute nicht mehr", sagt Geoffrey Crothall von China Labour Bulletin. Medienberichten zufolge soll die sonst aufseiten des Managements stehende Gewerkschaft bei Honda in Foshan den Streik sogar angezettelt haben. Denn solang die Auseinandersetzungen nicht eskalieren, kommen der Führung in Peking die Forderungen der Arbeiter sehr gelegen. "Lohnerhöhungen helfen, die Haushaltseinkommen zu steigern und den Konsum anzukurbeln", sagt Tao Wang von der UBS in Hongkong. Das passe zu den Zielen der Regierung, die die heimische Nachfrage stärken wolle. Zwar sind Zuschläge wie der 66-prozentige Zuwachs beim Elektronikhersteller Foxconn die Ausnahme. Doch in den vergangenen Wochen haben elf Provinzen ihre Mindestlöhne um 15 Prozent oder mehr angehoben. "Das sind gute Nachrichten, denn höhere Löhne, vor allem am unteren Einkommensende, federn Ungleichgewichte und soziale Spannungen ab", sagt Wang.
Befürchtungen, dies bedeute das Ende von Chinas Position als Billiglohnland, sind übertrieben: Während der Mindestlohn in den exportorientierten Provinzen zwischen 130 und 150 Dollar im Monat liegt, steht er in vielen Regionen des Landes noch bei 95 Dollar. Hinzu kommt, dass der Anteil der chinesischen Arbeitskosten am Produkt äußerst gering ist - beim iPod etwa sind es vier Dollar. Auch rechnet Wang nicht damit, dass die Unternehmen die höheren Kosten sofort an die Kunden weiterreichen werden. "Kurzfristig werden vor allem die Gewinnmargen schrumpfen."
Faule Kredite: Müll in der Bankbilanz
Transparenz gilt nicht unbedingt als eine chinesische Tugend. Um so bemerkenswerter die Offenheit, mit der die Bankenaufsicht Ende November 2009 Einblick gab in die prekäre Lage der heimischen Geldhäuser: Die großen Staatsbanken brauchten umgehend neues Eigenkapital in Milliardenhöhe, mahnte die China Banking Regulatory Commission (CBRC). Sonst drohten Schieflagen angesichts der enormen, von Peking forcierten Kreditvergabe an Staatsfirmen und Provinzregierungen, die den Wohnungsbau ankurbeln. Denn: Faule Darlehen türmen sich zu einem gewaltigen Berg in den Bankbilanzen und fressen deren Eigenkapital auf. So schätzt die Ratingagentur Standard & Poor's, dass in den nächsten Jahren Kredite von bis zu 300 Milliarden Euro ausfallen.
Seither häufen sich Maßnahmen der Politik, um die Folgen der ungezügelten Kreditvergabe abzumildern, mit der China sein Wirtschaftswachstum befeuert: Die Geldhäuser müssen mehr Mindestreserve bei der Zentralbank halten, um weniger Darlehen ausreichen zu können. Höhere Eigenkapitalquoten sind auch vorgeschrieben.
Mitte Januar verbot die CRBC den Instituten sogar, bis Monatsende überhaupt noch Kredite auszureichen. Dafür soll der Weiterverkauf von Darlehen an Investoren ermöglicht werden - eine Praxis, die im Westen die Finanzkrise mit heraufbeschwor. Und die Staatsbanken nehmen derweil wie gefordert Kapital in Milliardenhöhe auf - die Agricultural Bank sammelt beim weltgrößten Börsengang gar 23 Milliarden Dollar ein.
Doch obwohl die Kreditvergabe, die 2009 um ein Drittel oder 1150 Milliarden Euro gestiegen war, im laufenden Jahr bislang nur noch um moderate 15 Prozent wuchs, bleibt die Lage kritisch. Vor allem der aufgeheizte Immobilienmarkt ängstigt Experten. "Eine Verschlechterung der Kreditqualität in der Zukunft ist fast sicher", sagt Charlene Chu, Analystin der Ratingagentur Fitch in Peking. Die finanzielle Lage der Banken sei deutlich angespannter als es erscheine, heißt es. Das Vertrauen in ihre intransparente Bilanzierungspraxis ist eben nicht sehr ausgeprägt.
Wie lang dieses Va-banque-Spiel noch gut geht, ist ungewiss. Klar ist hingegen: Wenn es brennt, werden das Finanzministerium und der Staatsfonds Huijin wie schon mehrfach in der Vergangenheit die reichlich vorhandenen Devisenreserven in die Schläuche füllen und löschen.
Frustrierte Geschäftspartner: Ärger über Protektionismus
China hat die Gunst der Stunde genutzt: Auch im Krisenjahr 2009 gingen seine Manager und Funktionäre weltweit auf Einkaufstour - mehr als 65 Unternehmenseinkäufe im Wert von jeweils über 100 Millionen Dollar hat die Heritage Foundation in Washington im vergangenen Jahr verzeichnet, so viele wie nie seit Beginn des chinesischen Expansionkurses 2005. Ob beim schwedischen Autohersteller Volvo, bei der Private-Equity-Firma Blackstone oder beim australischen Bergbaukonzern Rio Tinto - China hat seinen Einfluss ausgebaut.
Denn während viele westliche Firmen ums Überleben kämpften, waren und sind Chinas Kassen mit Devisenreserven von rund 2400 Milliarden Dollar gefüllt. Und die Wirtschaft wuchs so schnell wie in keinem anderen Land auf dieser Erde: 9,1 Prozent zum Vorjahr. Mitgewachsen sind Chinas Selbstbewusstsein und sein Einfluss in der Weltwirtschaft. Doch damit steigt auch Pekings Bringschuld gegenüber dem Westen.
Chinas rücksichtslosen Erfolgshunger bekommen zunehmend westliche Unternehmen im Reich der Mitte zu spüren. General-Electric-Chef Jeffrey Immelt warnte vergangene Woche vor wachsendem Protektionismus seitens der chinesischen Regierung. Und er steht damit nicht allein: Sowohl die amerikanische als auch die europäische Handelskammer in Peking spüren unter ihren Mitgliedern wachsenden Unmut über die Praktiken der Chinesen. Denn nach Pekings Vorstellungen sollen von dem rasanten Wachstum vor allem chinesische Firmen profitieren. "Die Konjunkturmaßnahmen haben staatliche Firmen gestärkt und den Einfluss der Regierung ausgebaut", sagte Barry Naughton von der University of California in San Diego.
Doch westliche Unternehmen und Regierungen sind nicht bereit, Chinas egozentrische Politik auf Dauer hinzunehmen. EU und USA liefen im Frühjahr Sturm gegen die Einführung eines umstrittenen Forschungsgesetzes - mit Erfolg. Nach jahrelangen Querelen, vor allem mit den USA, haben die Chinesen im Juni ihre Wechselkurspolitik gelockert. Der Renminbi ist nicht mehr an den Dollar gekoppelt, sondern darf in einer gewissen Bandbreite schwanken. Wertet der Renminbi tatsächlich wie erhofft um etwa fünf Prozent im Jahr auf, werden chinesische Exporte teurer. Optimisten werten den Schritt als Einlenken der chinesischen Führung. Doch dahinter könnte schlicht ökonomische Ratio stehen: Ein teurer Renminbi stärkt Chinas Konsum und macht Investitionen im Ausland noch günstiger.
Quelle: www.capital.de/politik/...-Wildwuchs/100031311.html?mode=print