War mir nicht sicher, ob es in diesem "high frequency posting" Forum überhaupt sinnvoll ist, ein längeres Posting zu verfassen, aber es liess mich dann nicht locker und das Wetter spielt mit. Also hier meine Gedanken zu dem was letzte Woche passiert ist. Vorab: keiner muss unten aufklappen und kann diese (überflüssigen) Gedanken komplett überlesen und wie üblich mit schwarzen Sternen versehen.
******************
Ich habe mich auf diesen KPMG Bericht gefreut, ich dachte: endlich nach Jahren der Vorwürfe wird Wirecard die Gelegenheit haben, sämtliche Vorwürfe ein für alle mal für immer zu entkräften. Ich hatte gehofft, dass bei jedem zukünftigen Artikel über Büros in Dubai, über Busunternehmen auf den Philippinen, über den Verkäufer des Indien-Unternehmens, über was auch immer, man zukünftig immer auf den KPMG-Bericht verweisen könnte. Es hätte dann idealtypisch gehießen: „WTF soll denn dieser Vorwurf, das ist doch schon alles geklärt worden: eine der angesehensten WP-Gesellschaften, 40 professionelle Prüfer, 7 ganze Monate, hunderttausende von Seiten, es wurde alles geprüft. Es gibt die Kunden, es gibt die Verträge, es gibt die Salden, es gibt die Unterschriften, es gibt die Prozesse dahinter, es gibt die Kontrollen, wir kennen den Verkäufer der indischen Gesellschaft, der nichts mit Wirecard zu tun hat, die Bilanzierung ist OK. Nimm Deine Anschuldigung und verzieh Dich in Deine Höhle aus der Du gekrochen bist!“
Man hätte der FT, McC, Frazer, MCA, etc komplett den Wind aus den Segeln genommen, der bestehende Bewertungsabschlag wäre über die nächsten Monate mehr und mehr abgebaut worden. Man hätte sich auf Produkt-News und neue Kooperationen freuen können, das operative Geschäft hätte profitiert. Dass ein solches Szenario so kommen wird/könnte, wurde mE auch von Wirecard avisiert, sei es durch einzelne Interviews als auch die Adhocs/Tweets.
Und dann lese ich den KPMG Bericht und war völlig fassungslos. Ich hätte quasi auf jeder Seite kotzen können und dachte, dass das alles nicht wahr sein darf und jede Trinkhalle besser geführt wird. Ich las "Dokument des Grauens" und "Klitsche" in den Gazetten und meine erste Reaktion darauf war "ja, stimmt!!". Und mir kann keiner, wirklich keiner der Long-Positionierten hier im Forum erzählen, dass er kein Unbehagen beim Lesen des Berichts hatte. Wir müssen das nicht mehr im Detail durchgehen, aber: oftmals keine Belege für die Entkräftung, fehlende Verträge, fehlende Belege, fehlende (Vorstands-)Protokolle, fehlende Unterschriften, fragwürdige Bilanzierungen, verschobene Interviews, kein Kooperationswille auf Seiten Wirecards, verschachtelte Beteiligungen, die keiner versteht, Rechnungsbeträge werden „am Screen“ besprochen, wildes Excel-Spreadsheeting als Grundlage, etc, etc, etc.
Wie interpretiere ich das jetzt? Es gibt/gab Vorwürfe, die geprüft werden sollten von der KPMG. Die KPMG kommt daraufhin zurück und sagt sinngemäß „wir haben keinen Beleg für den Vorwurf, aber können ihn auch nicht entkräften.“ Das Forum hier sieht das als Freispruch, was es aus rein rechtlicher Sicht wahrscheinlich auch ist. Man sagt ja auch „aus Mangel an Beweisen“ bzw es gilt „im Zweifel für den Angeklagten“. Aber das ist Strafrecht, an der Börse gelten nun mal (leider) andere Regeln. An der Börse sagt man sich eher, dass es da draußen zigtausende von guten Investitions-Möglichkeiten gibt, warum sollte ich mir gerade jenes aussuchen, das seine Umsätze nicht richtig erklären kann. Konfrontiere ich BMW mit dem Vorwurf von fake Umsätzen, liefern die mir wahrscheinlich innerhalb von zwei Tagen den vom Kunden unterschriebenen Kauftrag und den Kontoauszug mit dem Geldeingang, bei Wirecard können 40 Prüfer innerhalb von 7 Monaten nichts/kaum etwas belegen, höchstens plausibilisieren.
Was mache ich jetzt aus meinem Investment? Wenn ich konsequent wäre, dann gäbe es eigentlich nur eine Lösung: sich eingestehen, dass man falsch lag, dass man in eine Pommesbude investiert hat, die 10-15% Verluste einsacken (habe schlimmeres erlebt) und sich ein neues gutes Investment suchen. Es besteht nun auch permanent das Risiko, dass neue Artikel kommen und man jetzt schon vorab weiß, dass sich Wirecard nicht richtig wehren kann, weil man nichts belegen kann. Die Analystenwelt hat Wirecard auch fallen lassen (DZ, Lampe, HSBC, MorganStanley, Exane, Oddo, Goldman). Mich würde aber ungemein stören, dass ich eine Aktie bei 90 Euro verkaufe, die aus rein fundamentaler Sicht auch locker beim Doppelten notieren könnte. Außerdem gehe ich weiterhin zu einem hohen Prozentsatz davon aus, dass in der Tat bei Wirecard keine Bilanzkosmetik betrieben wurde. Zudem sind ja erste Fortschritte zu erkennen, zB die neue Engine, neuer AR, andere Kommunikation (auch wenn die immer noch unterirdisch ist). Dazu könnte es noch zu neuen Konstellationen kommen (MB Abgang, mögliche M&A?), die helfen könnten. Von daher sitze ich das erst mal aus, Überzeugung in ein Investment sieht aber anders aus.
So, und nun noch zu dem für das Forum scheinbar wichtigstem Thema, der Schuld. Meine Sicht ist wie folgt: wie bei jedem meiner Investments bin ich selbst verantwortlich. Ich habe nicht eine Telekom oder BASF Aktie gekauft, sondern eine Aktie von einem Unternehmen mit zweifelhaftem Ruf und negativer Presse-Coverage, bei dem sich die LVs tummeln, die Kommunikation des Unternehmens unterirdisch ist, etc. D.h. ich habe mich für die Königsklasse der Einzelaktien-Investments entschieden und wollte mit den Großen mitpupsen. Ich war bereit, das Risiko zu nehmen und dazu stehe ich.
In zweiter Linie sehe ich hier die Verantwortung bei Wirecard: fürchterliche Kommunikation und über Jahre hinweg mehr oder weniger komplettes Management-Versagen was Strukturen, Kontrollen, Governance, etc betrifft. Auch hier gilt: man bewegt sich in der Königsklasse, ist im Dax notiert, hatte mal 20 Mrd. Marktkapitalisierung, wurde seit zig Jahren attackiert, hätte das alles kommen sehen können. Da kann ich das Unternehmen nicht (mehr) führen wie ein Start-Up und muss mich vorbereiten/verteidigen.
Hier im Forum hingegen gibt es einen anderen Fokus: der liegt - natürlich wieder mal - bei den LVs, die mehr oder weniger an allem Schuld sein sollen. Klar ist: Wirecard hat den LVs die Möglichkeit auf dem Silbertablett geliefert. Dazu gesellt sich das traditionelle Presse-Bashing und natürlich die Foren-"Basher", deren IP-Adressen an Ermittler gegeben werden sollen. Ja, das kann man gerne so sehen, aber ob das der Realität entspricht und ob es einem hilft, die richtigen Entscheiden zu treffen, würde ich mal stark anzweifeln.
Ich freue mich wie immer über konstruktives Feedback und auch über Gegenargumente, wo meine obige Einschätzung vllt zu harsch ist.
P.S. Egbert, solche Berechnung wie Deine letzte Woche sind für mich gewagt: "Übrigens, wegen der rund 30 Prozent leerverkauften Wirecard-Aktien steht der Kurs auch mindestens 30 Prozent tiefer als ohne Leerverkäufe. In realo sähen wir also eher 117 Euro." Das unterstellt nämlich, dass es keinerlei anderen Marktteilnehmer gibt, die die Kurse beeinflussen und bei 117 Euro verkaufen würden. Aber vllt würde die DWS (oder sogar ich) bei Kursen über 100 Euro verkaufen, von daher kann man mE diesen direkten Zusammenhang nicht ziehen.
P.S. Dbill, zu Deinem "spätestens mitte Mai sind die (LV) weg" und "Jetzt zu verkaufen ist das dümmste, was man tun kann": wenn wir hier im Forum jedes mal nen Euro bekommen hätten als so ein Satz kam bzw brokersteve nachgekauft hat, dann wären hier einige Multimillionäre unterwegs....nichts für ungut!