23.10.2001 17:30
Kanzler Schröder
„Wir sollten keine Rezession herbeireden“
Die Bundesregierung stemmt sich gegen Pläne zur Bekämpfung der Konjunkturflaute.
Von Andreas Hoffmann
(SZ vom 24.10.2001) Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) warnte davor, eine Rezession herbeizureden.
Zuvor hatten die sechs führenden deutschen Wirtschaftsforschungsinstitute verlangt, weitere Sozialreformen anzupacken. Bei der Vorlage ihres Herbstgutachtens schlugen sie vor, das Gesundheitswesen schnell zu reformieren.
Zugleich forderten sie ein stärkeres Vorgehen gegen die lahmende Konjunktur. Rot-Grün solle beim Abbau der Staatsschulden kurzfristig pausieren und die für 2003 geplante Steuerreform um ein Jahr vorziehen. Die Forscher begründeten ihre Forderungen mit der schwierigen wirtschaftlichen Lage in Deutschland.
„Wir stehen am Rande einer Rezession“, sagte Willi Leibfritz vom Münchner ifo-Institut am Dienstag in Berlin. Derzeit stagniere das Wachstum, für das ganze Jahr rechne er nur mit einem Plus von 0,7 Prozent.
Erst 2002 werde sich die Lage bessern und das Bruttoinlandsprodukt auf 1,3 Prozent steigen. Noch im Frühjahr blickten die Ökonomen optimistischer in die Zukunft und sagten für das laufende und das kommende Jahr ein Plus von 2,1 und 2,2 Prozent voraus.
Inzwischen räumen sie ein, die Folgen des Ölpreisanstiegs und der abgekühlten Weltwirtschaft unterschätzt zu haben. Bereits vor den Terroranschlägen in den USA sei die Konjunktur hier zu Lande schwach gewesen.
„Pause beim Sparkurs“
Angesichts der „kritischen Situation“ solle der Bund die Lage nicht zusätzlich verschärfen, sagte Gustav Adolf Horn vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung in Berlin.
Er plädierte, wie seine Kollegen, für eine kurzfristige Pause beim Sparkurs. Etwa 20 Milliarden Mark sollten Bund, Länder und Gemeinden im nächsten Jahr an zusätzlichen Schulden aufnehmen. Zugleich sollte Rot-Grün die Steuerreformstufe des Jahres 2003 auf 2002 vorziehen.
Dies würde zur „Stabilisierung der Nachfrage beitragen und die Angebotsbedingungen verbessern“. Das von Verkehrsminister Kurt Bodewig (SPD) vorgestellte Straßenbauprogramm verbessere die Rahmenbedingungen, „bringt aber keinen konjunkturellen Impuls“, sagte Udo Ludwig vom IWH in Halle.
In ihren Empfehlungen sind die Ökonomen aber uneins. In einem Minderheitenvotum plädiert das Kieler Institut für Weltwirtschaft dafür, den Sparkurs beizubehalten. Der Grund: In besseren Zeiten würden die Politiker kaum Schulden abbauen.
Einig waren sich die Wirtschaftsforscher darin, dass Rot-Grün die Sozialversicherung stärker reformieren müsse. „Notwendig ist eine schnelle Strukturreform in der Gesundheitspolitik“, sagte Leibfritz.
Hauptproblem seien die steigenden Sozialabgaben, insbesondere die Krankenkassenbeiträge. So drohe „bei den Sozialabgaben wieder verloren zu gehen, was mit einer Senkung der Steuern gewonnen wird“. Auf Nachfragen ließen sie aber offen, wie eine Reform aussehen sollte.
Die für 2002 prognostizierte Besserung der Wirtschaftslage nützt dem Arbeitsmarkt indes wenig. Die Zahl der Arbeitslosen wird in diesem Jahr laut Gutachten um 44000 auf 3,845 Millionen Menschen abnehmen, 2002 aber um 15000 auf 3,86 Millionen ansteigen. Die Steuereinnahmen dürften in diesem Jahr um 3,7 Prozent sinken, im nächsten Jahr aber um sechs Prozent klettern.
Die Bundesregierung lehnt die Vorschläge der Institute ab. Kanzler Schröder warnte vor zu viel Negativstimmung: „In Deutschland droht keine Rezession, und wir sollten auch keine herbeireden.“
Finanzminister Hans Eichel (SPD) sagte, er sehe „keine Veranlassung“ für entsprechende Maßnahmen. Der nationale Spielraum sei wegen des Euro-Stabilitätspakts eng begrenzt.
Gesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) verwies auf bereits in den Bundestag eingebrachte Reformen und auf langfristige Ziele. „Die Reform des Gesundheitswesens geht Schritt für Schritt entschlossen voran“, sagte sie der Süddeutschen Zeitung.
Dagegen fühlte sich die Opposition bestätigt. Die CDU-Vorsitzende Angela Merkel sagte, es sei ein Skandal, dass Schröder der Wirtschaftsflaute untätig zusehe. CSU-Chef Edmund Stoiber erklärte, die neuen Zahlen zeigten, dass Schröder mit seiner „Politik der ruhigen Hand“ endgültig gescheitert sei. Auch die Wirtschaftsverbände forderten weitere Reformen.
Das Herbstgutachten:
www.sueddeutsche.de/wirtschaft/branchenpolitik/28250/
Der Kommentar der Sueddeutschen:
SZ-Kommentar
Am Rande der Rezession
VON NIKOLAUS PIPER
Wie sich die Zeiten ändern: Die rot-grüne Bundesregierung muss ihren Sparkurs mit Zähnen und Klauen verteidigen – nicht gegen die Gewerkschaften oder die Linken in den eigenen Reihen, sondern gegen den ökonomischen Sachverstand der Republik.
So kann man jedenfalls das jüngste Herbstgutachten der sechs führenden Wirtschaftforschungsinstitute lesen und die Debatten deuten, die es ausgelöst hat.
Tatsächlich sagen die Experten mit großer Deutlichkeit: Deutschland steht am Rande einer Rezession, die Konjunktur braucht Stützung. Und zu diesem Zweck schlagen sie das Vorziehen der nächsten Stufe der Steuerreform auf den 1. Januar 2002 vor, was die Bundesbürger um 13,5 Milliarden Mark entlasten und den Staat entsprechend belasten würde.
Die Gutachter fordern eine „vorübergehende Aussetzung der Sparpolitik“ – so wird die Gemeinschaftsdiagnose jetzt allgemein gewertet. Doch dies ist ein Missverständnis.
Die Forscher weisen lediglich auf einen gravierenden Mangel der Konsolidierungspolitik nicht nur, aber auch in Deutschland hin: Der Finanzminister hat sich das Haushaltsdefizit als Zielgröße gewählt und will dieses bis 2006 abbauen.
Ein solches Vorgehen hat klare Vorteile: Die Neuverschuldung ist eine anschauliche Größe, mit der man leicht gegenüber Bundestagsfraktionen und Wählern operieren kann. Die Nachteile wiegen aber noch schwerer: Das Defizit hängt von der Konjunktur ab und entzieht sich daher immer wieder der Kontrolle – und wäre es die durch den besten Finanzminister der Welt.
In guten Zeiten ist das kein Problem. Dann hilft die Konjunktur beim Defizitabbau und der Finanzminister steht als blendender Konsolidierer da. In schlechten Zeiten aber, wie sie seit einem knappen Jahr herrschen, bekommt die Regierung ein massives Glaubwürdigkeitsproblem: Die Haushaltszahlen werden ohne eigenes Zutun schlechter. Will sie das offiziell erklärte Defizitziel einhalten, muss sie eigentlich zusätzlich Ausgaben kürzen oder Steuern erhöhen. Beides schädigt die Konjunktur und kann dazu führen, dass die Haushaltskonsolidierung noch weiter erschwert wird.
In genau diese Glaubwürdigkeitsfalle ist die Bundesregierung getappt, als sie die Erhöhung von Tabak- und Versicherungsteuer ankündigte, um ihr Paket zur inneren Sicherheit zu finanzieren.
Steuererhöhungen im Abschwung – gröber kann man kaum gegen die Gebote der Konjunkturpolitik verstoßen. Schließlich kommen diese Erhöhungen zu der ohnehin geplanten Anhebung der Ökosteuer noch dazu. Der Ausweg aus dem Dilemma ist von der Wirtschaftswissenschaft längst vorgezeichnet und wird im Herbstgutachten auch ausführlich erläutert: Konsolidierungspolitik sollte dafür sorgen, dass die Staatsausgaben mittelfristig langsamer wachsen als die Gesamtwirtschaft, dies aber zuverlässig.
Ausschläge des Defizits durch konjunkturbedingte Steuerausfälle oder einmalige Mehrausgaben würden dann hingenommen. Das ist das Konzept des „atmenden Haushalts“ oder der „ruhigen Hand“, eine Metapher, die der Bundeskanzler berühmt gemacht hat, ohne die Konsequenzen daraus zu ziehen oder ziehen zu können.
In den vergangenen Tagen hat die Hand jedenfalls ziemlich gezittert, etwa als der Verkehrsminister etwas vorlegte, was man nicht Konjunkturprogramm nennen durfte, was aber natürlich eines ist.
Das Glaubwürdigkeitsproblem besteht im übrigen auch in Europa: Der Stabilitätspakt für den Euro setzt an den Staatsdefiziten an; diese steigen jetzt überall konjunkturbedingt, deshalb erwarten die Investoren an den Finanzmärkten überall Sparmaßnahmen und eine Erstarrung der Politik. Das schlägt sich im Euro-Kurs nieder.
Was tun? Über das empfohlene Vorziehen der Steuerreform lässt sich streiten. Auch die Konjunkturforscher sind sich uneins: Das Kieler Weltwirtschaftsinstitut widerspricht der Mehrheit der Institute mit der Begründung, eine Steuersenkung auf Pump nähre nur die Befürchtung im Volk, dass es bald Steuererhöhungen an anderer Stelle geben werde und bewirke daher gar nichts. Ob dies so wäre, oder ob jene Forscher Recht haben, die auf den Nachfrageimpuls der Steuersenkung setzen – niemand weiß es.
Wichtig ist jetzt vor allem, dass in Berlin das Bewusstsein für den Ernst der Lage geschärft wird: Deutschland hat nicht nur ein Problem mit dem Haushalt und mit der Konjunktur, sondern leidet unter einem tief greifenden Mangel an wirtschaftlicher Dynamik. Und der ist hausgemacht.
Deutschland wurde von dem aus Amerika importierten Abschwung am stärksten getroffen, es ist das Land mit den niedrigsten Wachstumsraten in der EU, der Anteil des Staates an der Wirtschaftsleistung liegt mit 48,4 Prozent um drei Prozentpunkte höher, als die Regierung geplant hat. Viele Probleme hat die rot-grüne Koalition geerbt, die schwache Konjunktur zeigt, wie wenig sie von dieser Erblast abgetragen hat.
Vor allem sollte niemand rosarote Wolken malen. Er lasse sich keine Rezession herbeireden, sagte der Bundeskanzler. Ihm sei ein Blick ins Gutachten empfohlen: Die Auslastung der Betriebe in Deutschland liegt unter dem langjährigen Durchschnitt, seit Sommer stagniert die Produktion. Werden die Zahlen nur noch ein klein wenig schlechter, dann ist dies eine Rezession, hochoffiziell.