Ist zwar schon ein bisschen älterer Artikel, aber dennoch sehr interessant...
Die Datenbrille, das neue Smartphone
14. Juli 2020, 15:13 Uhr
Vor ein paar Jahren noch vorrangig im Proof-of-Concept- beziehungsweise Pilotprojektstadium hat sich immersive Technologie im Business-Umfeld mittlerweile etabliert. Welche Mehrwerte besonders industrielle Augmented-Reality-Anwendungen bieten und warum Covid-19 eine Chance für die Branche darstellt.
Die weltweite Corona-Pandemie beeinflusst derzeit viele Bereiche des täglichen Lebens und entpuppt sich neben ihren zahlreichen Herausforderungen und negativen Effekten zunehmend auch als Treiber der Digitalisierung: von der erhöhten Nachfrage nach Online-Video-Tools über praxisnahe E-Learning-Konzepte bis hin zum Internet als infrastrukturelle Basis. Während diese – aber auch weitere Technologien wie Cloud-Computing – besonders von der Krise zu profitieren scheinen, kommt das Team des Softwareentwicklers Softeq in einem Technologie-Blogbeitrag bezüglich der Auswirkungen der Corona-Krise zu dem Schluss, dass darüber hinaus auch neue IoT-, Smart-City- und Virtual-Reality-Projekte angeschoben werden.
So könnte der stark gebeutelte Tourismussektor etwas aus der Krise lernen und mit Extended Reality (XR) die Welt nach Hause bringen. Ein Beispiel dafür ist Travel World VR. Die Produktionsfirma hat sich auf die virtuelle Realität im Marketing spezialisiert, um Reiseerlebnisse förder- und verkaufbar zu machen. Auch Kultureinrichtungen wie Museen rüsten derzeit auf und bieten mitunter virtuelle Touren durch ihre Sammlungen an. Softeq prognostiziert zudem, dass die meisten Regierungen mit aller Kraft versuchen werden, sich gegen den wirtschaftlichen Abschwung zu stemmen. Technologische Fortschritte, die dabei helfen können, ein ähnliches Szenario wie das jetzige zu vermeiden, werden vermutlich mit großen Investitionen unterstützt – von Smart-City-Initiativen bis hin zu Plattformen, die das Katastrophenmanagement vereinfachen und bei der Vermeidung solcher Situationen helfen.
Auch IoT-Projekte und Virtual Reality werden im Fokus einiger Branchen stehen, um sich unabhängiger von der analogen Welt zu machen. Denn während Telefon- sowie Videokonferenzen und Task Management Tools helfen, dass Firmen in dieser schwierigen Zeit einigermaßen produktiv bleiben, stellen geschlossene Produktionsstätten speziell im industriellen Sektor die geübte Praxis von Vor-Ort-Trainings auf den Prüfstand. Wie können derzeit beispielsweise Industriearbeiter an neuen Maschinen geschult werden? Eine mögliche Lösung bietet auch hier der Einsatz immersiver Technologien.
Zusammenspiel von Soft- und Hardware
Ein Lösungsanbieter, der in diesem Bereich auf umfassende Erfahrung und auf mehr als 400 Kunden weltweit blicken kann, ist Ubimax. Das Unternehmen mit Hauptsitz in Bremen bietet eine Komplettlösung für industrielle Augmented-Reality-Anwendungen inklusive Datenbrillen und anderer tragbarer Computer an. Die Leistungen reichen dabei von der Hardware-Beratung über die Konfiguration der Software bis zum Roll-out und dem anschließenden Service im laufenden Prozess. „Ubimax ist ein Softwareunternehmen, wobei es sich um eine Client-Server-Anwendung handelt“, beschreibt Ubimax-CEO Hendrik Witt die zugrundeliegende Technologie. Die eigene Software namens „Frontline“ lässt sich zwar auf gängigen Devices wie Tablets und Smartphones nutzen. „Um jedoch die volle Leistungsfähigkeit dieser Software ausspielen zu können, brauchen wir Hardware wie Wearables, Datenbrillen oder Smartwatches“, erklärt Witt.
Die Clients sind typischerweise per WLAN verbunden – de facto sind jedoch sämtliche Formen der Wireless-Konnektivität denkbar – und kommunizieren mit einer Server-Infrastruktur, die beispielsweise in der Cloud betrieben wird. Witt: „Das bedeutet auch, dass wir flexibel einsetzbar sind. Denn die Technologie, die wir brauchen, die tragen wir am Körper – oder zumindest in der Hosentasche.“ Ubimax bediene sich dabei der Infrastruktur, die meist schon existent ist wie Mobilfunk oder Enterprise-WiFi. „Das macht uns sehr flexibel vom Einsatzpunkt und -ort her und es macht uns in Zeiten von Corona natürlich auch interessant.“
Mit dem Rücken zur Wand
Derzeit steigt laut Witt die Nachfrage seitens Bestands- aber auch Neukunden und stärkt zusehends die Verhandlungsbasis des Anbieters. So lauteten die Fragen vor der Krise noch: „Könnt ihr am Preis drehen? Das ist viel zu riskant – wie viele setzen das schon ein? Was für Sicherheiten bietet ihr?“ Jetzt sind die Forderungen hingegen andere, wesentlich dringlichere: „Wann könnt ihr liefern? Und wieviel?“ Die Frage nach dem Preis ist mittlerweile nachgelagert. Die Angst vor dem Risiko sei mit einem Mal wie weggeblasen, „wenn man mit dem Rücken an der Wand steht und über seinen Schatten springen muss“, konstatiert der Ubimax-CEO. „Und da haben wir jetzt die Chance, aus der deutschen Sicht heraus wieder den Anschluss zu bekommen – leider, muss man schon fast sagen.“
Denn Deutschland hat sich in Hinblick auf die Innovationsführerschaft beim Einsatz von Augmented und Virtual Reality das Heft aus der Hand nehmen lassen. „Als wir 2014 mit Augmented Reality hierzulande begonnen haben, war Deutschland recht weit vorne dabei.“ Das habe mit der Automobilindustrie zu tun, wie der CEO gegenüber funkschau erläutert. „Industrie 4.0 ist ja quasi eine deutsche Erfindung. Es wurde daher viel Geld investiert, weil auch der Personalkostendruck sehr hoch ist, Fachkräftemangel herrscht und so weiter. Im Grunde waren damit die Vorzeichen gut gesetzt.“ Danach sei allerdings das berühmt-berüchtigte „deutsche Phänomen“ zum Tragen gekommen: der mangelnde Mut zum Fehler. „Man kommt nicht so richtig weiter hierzulande, weil es an Risikoaffinität mangelt. Genau die braucht es aber, wenn man IT-Innovationen in den Markt bringen will. Das ist der Punkt, wo sich das Blatt gewendet hat. In der Folge hat der amerikanische Markt gegenüber dem europäischen hier einen leichten Vorsprung“, so Witt. Die Covid-19-Krise mache die deutsche Wirtschaft aber wieder risikoaffiner.
Für die Unternehmen, die sich trotz „notgedrungenem Mut“ zum Risiko damit schwertun, ein solches Investment zu tätigen, hat Ubimax ein Leasingmodell konzipiert, das der Anbieter seit Ende letzten Jahres, anfangs als Testphase, an den Mann bringt. Kunden des Everything-as-a-Service-Angebots „XaaS“ sollen dabei von einem einfach zu kalkulierenden und skalierenden Ansatz profitieren, so das Versprechen. Ein Bezahlmodell, das besonders vor dem Hintergrund der Pandemie nur allzu gerne in Anspruch genommen wird. „Das Angebot ist allerdings nicht für jeden Kunden gleich wichtig“, so Witt. „Aber für die Unternehmen, die nicht so stark investitionsmäßig getrieben sind, sondern aus dem operativen Geschäft heraus leben, war das natürlich ein Segen.“ Diese hätten das Modell sehr gut angenommen. „Zumal es sehr leicht für sie war und ist, auf diese Weise die Technologie schnell einzuführen.“
Die Anwendungsfelder
Auf die konkreten Einsatzfelder von AR im Industrieumfeld angesprochen, zieht Witt gerne den Vergleich zu Microsoft . „Frontline ist die Plattform und unsere Solution Suite ist wie Microsoft Office. So wie Microsoft Word, Excel und Powerpoint hat, so haben wir unsere verschiedenen Industrielösungen“, erklärt er. Entsprechend bietet Ubimax vier Lösungen, die alle auf einer einheitlichen Plattform aufbauen, mit jeweils unterschiedlicher Adressierung:
- Beispiel Kommissionierung in der Logistik: Hier werden Waren online bestellt und müssen zusammengetragen werden. Das übernehmen in manchen Fällen automatisierte Systeme, also Roboter, in den meisten Fällen führen jedoch Menschen diese Tätigkeit aus. Dafür brauchen sie Instruktionen (Wo muss was wann hin?). Auch sollten sie freihändig arbeiten können, um den sicheren Transport der Ware zu gewährleisten.
- Beispiel Fertigung: Oft gibt es Schritt-für-Schritt-Anleitungen. Ein klassischer Fall ist der Zusammenbau in der Automobilindustrie, wo Dinge, meistens komplexe Produkte, zusammengebaut werden müssen. Hier benötigt der Mensch tendenziell Informationen, weil sich die Varianten von Produkt zu Produkt ändern können.
- Anwendungsfall Wartung und Instandhaltung: das Durchführen einer Wartungsprozedur für eine Maschine oder Anlage. Ähnlich wie bei einer Schritt-für-Schritt-Anleitung, allerdings liegt hier der Fokus auch auf dem Thema Datenerfassung. Es werden Messwerte erfasst, um final einen automatisch generierten Wartungsbericht zu erstellen.
- Der aktuell spannendste Bereich im Kontext Corona ist laut Witt Remote Support. „Wenn man so will, das ‚Skype oder Microsoft Teams für die Datenbrille‘“, sagt er. Dabei befindet sich ein Mitarbeiter beispielsweise an einer Maschine und hat ein Problem. Mit einer Datenbrille kann er nun mit einem Experten, der nicht vor Ort sein muss, gemeinsam dieses Problem lösen. Aus Sicht des Spezialisten ergeben sich diverse Möglichkeiten: Der Experte kann Bilder oder PDF-Dokumente zeigen, visuelle AR-Marker setzen oder Recordings erstellen, um sich nochmal im Nachgang auszutauschen – all diese Informationen lassen sich aufzeichnen, erfassen, abspeichern und weiter verwerten. „Das ist dann definitiv mehr als nur Skype. Und da gibt es natürlich einen riesigen Run drauf“, bekräftigt Witt.
Grundsätzlich lassen sich Remote-Support-Anwendungen auch im B2C-Umfeld einsetzen: Überall dort, wo ein Produkt nicht funktioniert. „Der Backofen geht nicht – dann ruft man eben den Hersteller an. Das sehen wir auch“, so Witt. „Unsere Lösung ist nicht nur auf Profi-Datenbrillen zu bekommen, sondern auch auf Smartphones oder Tablets verfügbar, sodass man sie theoretisch mit hoher Wahrscheinlichkeit auch im Privatkontext einsetzen kann.“ Doch bis dahin kann noch Zeit ins Land ziehen: „B2B ist der Treiber und B2C wird früher oder später nachziehen“, ist der CEO überzeugt.
Den Business Value herauskitzeln
Für die Kunden soll Ubimax wie ein One-Stop-Shop fungieren: Man kann die Kern-Software-Lösung bekommen, aber auch die jeweilige Hardware. „Wir stellen das alles zusammen, konfigurieren das – gerade im Remote-Support- Bereich – und dann schiffen wir diese Brillen an einen Kunden in die Welt. Auspacken, einschalten, funktioniert“, verspricht Witt.
Was jedoch so simpel klingt, offenbart bei näherer Betrachtung einen erheblichen Rattenschwanz. Denn neben der Supply Chain bildet das Software-Unternehmen die Beratung und den Service drum herum an. Stichwort Change Management: Wie macht man das? Wie führt man das ein? Denn schließlich handelt es sich um eine Technologie, mit der die meisten Nutzer noch nie zuvor Berührungspunkte hatten. „Da geht es darum, über den Mehrwert zu kommunizieren und die Leute mitzunehmen“, führt Witt aus. „Wie lange nutze ich sowas? Im Remote Support ist das jetzt nicht so ausgeprägt, weil es eher den Charakter eines Telefonats hat und man nutzt es nicht acht Stunden am Stück.“ Aber in der Logistik oder in anderen Bereichen sei das anders und man müsse sich damit beschäftigen, ob man die Technologie als „Hard Cut“ oder graduell einführt.
Im Grunde bringe man aus Ubimax-Sicht die Digitalisierung an den Werksmitarbeiter. „Digitalisierung findet ja häufig bei Maschinen und Anlagen durch Sensoren – Stichwort IoT – statt oder in der Office-Welt softwarebedingt durch sämtliche Prozessautomatisierungen“, so Witt. „Aber der Werker als solches, der physisch arbeitet, seine Hände braucht – da ist Digitalisierung noch nicht so stark angekommen und wir versuchen ihn mit modernster Kommunikationstechnologie in Verbindung mit unserer Software in dem Werk bei seiner physischen Arbeit bestmöglich zu unterstützen.“
Ein gutes Beispiel findet sich in der Automobillogistik mit den sogenannten Pick-by-Light-Systemen. „Dort gibt es überall Boxen, und da leuchtet ein Licht, wo ich was rausgreifen soll – das geht relativ schnell. Das Problem ist aber, dass die Automobilbranche so dynamisch ist, dass sie die Kartons immer an anderen Orten und in anderen Konstellationen hinstellen müssen.“ Das sei verbunden mit entsprechen hohen Rüstkosten, da alles verdrahtet ist. Die Lampen, Displays und andere Geräte – jedes Verstellen soll hier bis zu 100.000 Euro kosten. „Das macht es sehr inflexibel. Und wir können de facto die gleiche Geschwindigkeit leisten und sind flexibler, weil alles am Körper ist.“
Update vom 15. Juli 2020: Kurz nach Veröffentlichung dieses Beitrages hat die funkschau-Redaktion die Nachricht erhalten, dass Teamviewer Ubimax übernehmen wird. Der Spezialist für Fernwartungssoftware erwirbt gemäß der Vereinbarung 100 Prozent an Ubimax zu einem Preis von 136,5 Millionen Euro, frei von Barmitteln und Schulden, der teilweise in bar und teilweise in Aktien gezahlt wird. Nähere Informationen dazu hier.
www.funkschau.de/markt-trends/...-neue-smartphone.178072.html
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