Elsbeth Stern
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Die Psychologin Elsbeth Stern forscht an der ETH Zürich. Die Professorin ist führend auf den Gebieten Intelligenz und Lernen
Wenn alle Menschen völlig identische Gene hätten, dann könnten diese auch keine Unterschiede in der Intelligenz erklären. Tatsächlich trifft das aber nur für eineiige Zwillinge zu: Unterscheiden sie sich in einem Merkmal, lässt sich das nicht auf ihre Gene zurückführen. So findet man bei gemeinsam aufgewachsenen eineiigen Zwillingen auch eine sehr hohe Übereinstimmung im IQ. Einen Rückschluss auf den Einfluss der Gene lässt das aber noch nicht zu, weil Zwillinge von der Befruchtung bis ins Erwachsenenleben hinein einer Vielzahl von Einflüssen gemeinsam ausgesetzt sind. Elternhaus, Ernährung, Freundeskreis, Kita oder Schule – das alles fassen Forscher als »Umwelt« zusammen.
Dasselbe gilt auch für zweieiige Zwillingspaare, insbesondere für gleichgeschlechtliche. Ihr genetischer Code ist nicht identisch, sondern weist eine mit »normalen« Geschwistern vergleichbare Übereinstimmung auf. Hätten Gene keinerlei Einfluss auf das Zustandekommen von Intelligenzunterschieden, sollten sich zweieiige Zwillingspaare genauso stark ähneln wie eineiige. Das ist aber ganz eindeutig nicht der Fall, wie alle Studien zeigen. Zudem ist die Übereinstimmung im IQ bei zweieiigen Zwillingspaaren kaum höher als bei »normalen« Geschwisterpaaren, obwohl diese aufgrund ihrer Altersdifferenz deutlich unterschiedlicher aufwachsen.
Angesichts dieser Befundlage müssen wir uns endgültig von der Vorstellung verabschieden, alle Menschen ließen sich zu geistigen Überfliegern und damit gleich machen. Statistische Analysen, in denen – grob gesagt – die Übereinstimmung bei eineiigen Zwillingspaaren mit jener bei zweieiigen in Beziehung gesetzt wird, lassen derzeit den Schluss zu: In entwickelten Ländern mit allgemeiner Schulpflicht sind mindestens 50 Prozent der Intelligenzunterschiede auf Variationen in den Genen zurückzuführen.