Kommentar: Wachstum, Wachstum, Wachstum
Von Wolfgang Münchau, Hamburg
Nur wenn der Kanzler ein Konzept für nachhaltiges Wachstum vorlegt, kann er die Wahl noch gewinnen.
Eigentlich verdient es Gerhard Schröder nicht, wiedergewählt zu werden. Die Politik der ruhigen Hand, das Dogma konjunkturpolitischer Abstinenz, war eine der Ursachen für die schwere Rezession in Deutschland. Auch die Reformbilanz der Regierung ist nicht beeindruckend - eine passable Steuerreform, aber zu wenig in den Bereichen Gesundheit, Arbeit und Sozialpolitik. Deutschland ist nach wie vor Schlusslicht in der Wachstumsliga der Europäischen Union. Einen kleinen Aufschwung wird es in diesem Jahr wohl noch geben, aber die Wähler werden ihn nicht rechtzeitig vor der Bundestagswahl als solchen wahrnehmen.
Schröder ist politisch in Gefahr, die Lage ist aber längst nicht aussichtslos. Um die Wahl gewinnen zu können, muss der Kanzler ein überzeugendes wirtschaftspolitisches Konzept vorlegen, um eine klare Antwort auf eine einfache Frage zu geben: Wie kann Deutschland in den kommenden fünf bis zehn Jahren das Wirtschaftswachstum deutlich und nachhaltig steigern?
Mit dem Slogan "It’s the Economy, Stupid!" zog Bill Clinton einst in den US-Präsidentschaftswahlkampf und gewann. Für Schröder bietet sich eine abgespecktere Version an: "Es ist das Wachstum, du Dummkopf!" Bislang haben der Bundeskanzler und sein Finanzminister die Ziele der Wirtschaftspolitik zu diffus definiert. Sparsamkeit, Abbau der Arbeitslosigkeit und soziale Gerechtigkeit im Umbau der Sozialversicherung sind vernünftige wirtschaftspolitische Ziele. Doch Wirtschaftspolitik bedarf einer klaren Prioritätensetzung - und das Wachstum gehört an die oberste Stelle einer solchen Liste. Ohne ausreichendes Wirtschaftswachstum wird man das Problem der Arbeitslosigkeit nicht lösen, sondern nur verwalten.
Beispiel Bundesbank
Man nehme sich ein Beispiel an den Zentralbanken. Die Bundesbank oder die Europäische Zentralbank (EZB) lassen kaum eine Gelegenheit aus, klarzustellen, dass sie sich allein um Preisstabilität scheren. Nur durch eine solch klare Zielsetzung und deren fast penetrante Kommunikation haben sie dieses Ziel in den letzten Jahren erreicht.
Das Gleiche sollte auch für den Rest der Wirtschaftspolitik gelten. Wer sich zum Ziel setzt, den Mittelstand zu fördern, die Arbeitslosigkeit zu senken, das Bankensystem zu stärken, den Haushalt stabil zu halten und gleichzeitig das Wachstum zu fördern, übernimmt sich. Der Bundeskanzler sollte sich nur für das Wachstum interessieren - und den Rest anderen überlassen. Um den Haushalt kümmert sich Hans Eichel, um die Inflation die EZB; und für den Mittelstand und dessen ewige Klagen ist ein Herr Müller zuständig.
Zunächst sollte der Bundeskanzler akzeptieren, dass Deutschland wirklich ein Problem mit dem Wachstum hat. Schröder neigt dazu, dieses Problem zu verharmlosen, indem er darauf hinweist, dass die schwache Konjunktur in erster Linie durch die Rezession in der Bauindustrie verursacht wurde. Das ist statistisch richtig. Ohne die Bauindustrie läge Deutschland im vergangenen Jahr im oberen Mittelfeld der europäischen Wachstumsraten. Nur ist die Bauindustrie ein fester Teil der Wirtschaft. Das ist so, als würde man aus der Inflation Essen, Benzin und Fernseher herausrechnen, um sich Preisstabilität vorzugaukeln.
Politische und ökonomische Fehler
Mit dem Versprechen, die Arbeitslosigkeit auf 3,5 Millionen zu senken, beging Schröder einen sowohl politischen als auch ökonomischen Fehler. Zum einen kann kein Bundeskanzler den Wirtschaftszyklus kontrollieren; zum anderen ist die Arbeitslosigkeit nicht der Grund, sondern die Konsequenz niedrigen Wachstums.
Der Kanzler sollte eine klare Zielvorgabe für das potentielle Wirtschaftswachstum geben. Er könnte sagen: das potentielle Wachstum (das durchschnittliche Wachstum im Zyklus) soll von unter zwei Prozent auf knapp drei Prozent in den nächsten zehn Jahren gesteigert werden. Alle weiteren wirtschaftspolitischen Maßnahmen sollen diesem Ziel untergeordnet sein. Genauso wie die penetranten Notenbanker müsste der Bundeskanzler in allen wirtschaftspolitischen Debatten sein Ziel so lange wiederholen, bis man es nicht mehr hören kann. Das ist dann der Moment, wenn Konsumenten, Firmen, Investoren und die Finanzmärkte an das Ziel glauben und sich auch dementsprechend verhalten.
Reformen, auch Arbeitsmarktreformen, können langfristig helfen, Wachstum zu fördern. Noch wichtiger ist aber, dass der inländische Konsum wächst und vor allem, dass inländische Investitionen wieder anspringen. Die Frage, die sich ein rein wachstumsorientierter Kanzler stellen muss, ist dann: Wie müssen die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen sein, dass sich Investitionen lohnen?
In den USA hat die Notenbank zwei konkrete Ziele: Preisstabilität und Wachstumsförderung. US-Regierungen verfolgen ein Wachstumsziel. In Deutschland redet weder die Notenbank noch die Regierung von Wachstum. Kein US-Finanzminister würde es je wagen, mitten in einer Rezession vom Sparen zu sprechen. Wer das tut, so wie Hans Eichel, hat seine Prioritäten auf den Kopf gestellt und schadet der Wirtschaft.
Noch sind es acht Monate bis zur Wahl. Nach der mageren Bilanz der ersten vier Jahre muss der Bundeskanzler ein plausibles Konzept vorlegen. Bleibt er es schuldig, verdient er es nicht, die Wahl zu gewinnen.
© 2002 Financial Times Deutschland