Saddams Waffen - sie gelten als Kriegsgrund. Waren sie es wirklich? Wo die Beweise nicht reichten, besserten Geheimdienste nach
Von Jochen Bittner und Frank Drieschner
Seit elf Wochen sucht die U.S. Army im Irak nach den Bio- und Chemiewaffen, deretwegen dieser Krieg begonnen worden war. Gefunden hat sie bislang so gut wie nichts. Stattdessen gibt es fast täglich neue Meldungen von der Heimatfront der Koalitionsstaaten. Geheimdienstleute erklären frank und frei, die amerikanische Öffentlichkeit sei über Saddam Husseins Gefährlichkeit getäuscht worden. Verteidigungsminister Donald Rumsfeld räumt ein, die Waffen seien möglicherweise schon vor dem Krieg vernichtet worden. Ohnehin seien sie, ergänzt sein Stellvertreter Paul Wolfowitz, als Kriegsgrund nicht so wichtig gewesen.
Was verbirgt Saddam Hussein? Das war die Frage von gestern, die Vorkriegsfrage, auch wenn glaubensfeste Kriegsbefürworter wie Tony Blair sich immer noch zuversichtlich geben, die geheimen Waffenkammern des Iraks würden bald entdeckt. Die Frage von heute lautet: Was verbergen George W. Bush und Tony Blair? Schon jetzt spricht viel dafür, dass die beiden die Welt getäuscht haben.
Hören wir noch einmal den amerikanischen Präsidenten. Also sprach George W. Bush am 17. März dieses Jahres, zwei Tage vor Abschuss der ersten Cruise Missiles, in seiner Rede an die Nation: „Geheimdienstinformationen, die diese und andere Regierungen zusammengetragen haben, lassen keinen Zweifel daran, dass das Regime des Iraks weiterhin einige der tödlichsten Waffen besitzt und verbirgt, die je entwickelt wurden.“
Keinen Zweifel? Im Detail werden Anhörungen in Washington und London noch zu klären haben, welche Information welches Geheimdienstes fragwürdig, schlicht falsch oder womöglich doch zutreffend gewesen sein könnte. Im Großen und Ganzen aber lässt sich feststellen, dass die Kriegsbefürworter in einem entscheidenden Punkt nicht die Wahrheit gesagt haben: in der Frage nämlich, wie sicher sie sich ihrer Verdachtsmomente und Befürchtungen eigentlich sein konnten. Denn es gab sehr wohl begründete Zweifel an vielem, was Bush, Powell, Rumsfeld und Blair im Weltsicherheitsrat und daheim gegen Saddam Hussein anführten, um die eigenen Bürger und die zweifelnden Verbündeten auf Kriegskurs zu bringen. Doch die Zweifler, amerikanische wie britische Geheimdienstexperten, wurden totgeschwiegen. Nur solche Informationen sollten an die Öffentlichkeit gelangen, die ins Bild vom brandgefährlichen Weltbösewicht Saddam Hussein passten. – Schon sprechen ehemalige CIA-Mitarbeiter von „einem nachrichtendienstlichen Fiasko von monumentalen Ausmaßen“.
Den Reigen der Enthüllungen eröffnete ein, allerdings anonymer, Vertreter des Secret Service, der gegenüber der BBC behauptete, auf Drängen von 10 Downing Street sei die Sprache des Berichts verschärft, eben „sexier“ gemacht worden. Der Geheimdienst MI 6 hätte schon damals vor allem davon abgeraten, die These aufzustellen, der Irak könne binnen 45 Minuten biologische oder chemische Waffen einsetzen. Ian MacCarthy, Staatsminister im britischen Verteidigungsministerium, räumte inzwischen ein, dass diese Information, die im „Waffendossier“ der Regierung vom September vergangenen Jahres enthalten und von Tony Blair im Vorwort aufgegriffen worden war, nur auf einer einzigen Quelle beruht habe und nicht – wie eigentlich beim Umgang mit geheimdienstlichen Erkenntnissen wünschenswert – durch andere Informationen bestätigt worden sei. Die Sunday Times schob nach: Um die Formulierung des Dossiers habe es damals ein intensives Gerangel gegeben. Alistair Campbell, Blairs Informationsdirektor, notorisch für seine hemdsärmelig-bulligen Methoden, habe vom Secret Service eine knackigere Sprache verlangt. Allerdings: Am Ende räumte der MI-6-Informant der BBC ein, dass der Report „in der Substanz“ gestimmt und nichts Unrichtiges enthalten habe.
Weitere Beispiele? Da waren diese Aluminiumröhren, hochfeste Spezialrohre, die, glaubte man dem amerikanischen Präsidenten, einem fürchterlichen Zweck dienen konnten: der „Produktion von Kernwaffen“. Das sagte Bush noch am 28. Januar dieses Jahres in seiner Rede zur Lage der Nation. In Wirklichkeit waren die Röhren dazu völlig ungeeignet. Sie konnten allenfalls beim Bau von Raketenwerfern Verwendung finden, und genau das, berichtet die Zeitschrift Newsweek, hatten Experten des Außenministeriums ihrem Chef Colin Powell auch mitgeteilt. Es passte nur nicht ins Bild.
Oder die Sache mit dem angeblichen Uran-Einkaufsversuch in Niger, auf die sich die USA gegenüber den Vereinten Nationen beriefen – gestützt auf so plump gefälschte Dokumente, dass ein Laie das mit einer kleinen Recherche im Internet hätte herausfinden können, wie ein Experte später kommentierte.
Wie war das möglich? Wollte Powell die Welt täuschen – oder wurde er getäuscht?
Fragen wir Ray McGovern. McGovern ist ein pensionierter CIA-Mann, ein enger Mitarbeiter des früheren CIA-Chefs George Bush senior, dem er später, im Weißen Haus, drei Jahre lang tägliche Lageanalysen lieferte – ein Mann also, der die Schnittstelle von Geheimdienstarbeit und Politik bestens kennt.
Nun, sagt McGovern, was die vermeintliche Irak-Niger-Connection betreffe, müsse man ein wenig weiter zurückschauen: in den August des Jahres 2002, als Vizepräsident Dick Cheney den Regimewechsel im Irak ankündigte und, so sieht es McGovern, möglichst schnell die Zustimmung des Kongresses zu einem Krieg gewinnen wollte. Dazu, sagt McGovern, hätten Rumsfeld und Cheney wenigstens eines von zwei Dingen gebraucht: irakische Nuklearwaffen – oder einen Beweis, dass Saddam Hussein Massenvernichtungswaffen an Terroristen weitergebe.
Man hatte aber bloß ein paar Aluminiumrohre.
Was dann geschehen sei, vermutet der ehemalige Insider McGovern, müsse man sich etwa so vorstellen:
„Also sagten sich Rumsfelds Strategen: Hatten wir da nicht diese Informationen, dass der Irak versuchte, sich Uran zu beschaffen?
Ja, klar, aber CIA-Chef George Tenet und seine Leute haben das verworfen.
Ach, lass uns George doch noch mal fragen.
George selbst fragt daraufhin seine Experten, und die sagen ihm: Nein, das stinkt immer noch.
Die Strategen gehen zu Rumsfeld und sagen: George sagt immer noch, das stinkt.
Sagt Rumsfeld: Wie lange wird es dauern, bis das jemand rausfindet?
Tenet: Wahrscheinlich ein paar Tage.
Rumsfeld: Wann müssen wir die Dokumente denn herausgeben?
Tenet: Na ja, die Internationale Atomenergiebehörde drängelt schon.
Rumsfeld: Wie lange können wir die hinhalten?
Tenet: Wahrscheinlich ein paar Monate?
Rumsfeld: Also, wo ist das Problem?“
Das ist, wohlgemerkt, nur die Vermutung eines gut informierten Experten – freilich gibt es bislang auch keine bessere Erklärung des unbestreitbaren Sachverhalts, dass die USA den Waffeninspektoren der Vereinten Nationen plump gefälschte Dokumente präsentiert haben.
Und McGovern geht noch weiter. Seiner Ansicht nach haben die Geheimdienste, getrieben von den Scharfmachern im Weißen Haus und im Pentagon, nicht nur Details gefälscht und übertrieben, sondern insgesamt ein völlig falsches Bild gezeichnet. Saddam Hussein, der vor dem 19. März noch so gefährlich schien, dass die Fortsetzung der friedlichen Waffensuche unter Aufsicht der UN als unvertretbares Risiko galt, hätte demnach die Sicherheit der Vereinigten Staaten in Wahrheit nie bedroht.
Man muss diesen Ausführungen allerdings einen Hinweis hinzufügen: McGovern und andere CIA-Leute, die sich jetzt zu Wort melden, hätten einen verständlichen Grund, in ihrer Kritik an der US-Regierung nicht die allerhöchste Objektivität walten zu lassen - nicht nur darum, weil noch immer keine Waffen gefunden wurden und die Suche nach den Schuldigen für das Debakel begonnen hat. Schwerer wiegt womöglich der Umstand, dass mit dem Regierungswechsel nach der Ära Clinton im Jahre 2001 ein paar ausgewiesene CIA-Skeptiker die Macht im Pentagon übernommen hatten und ihre alten Widersacher dies spüren ließen. Die CIA musste ganze Abteilungen an das Pentagon abtreten und schließlich sogar hinnehmen, dass Donald Rumsfeld in seinem Verteidigungsministerium einen kleinen Gegengeheimdienst gründete.
Der Anschlag vom 11. September gab den CIA-Gegnern weiteren Auftrieb, denn der CIA war es nicht gelungen, die Attentäter rechtzeitig zu enttarnen. Warum sollte man ausgerechnet solchen Leuten glauben, als diese zu dem Schluss kamen, es gebe kaum Hinweise auf eine Mittäterschaft Saddam Husseins? "Was den Irak betrifft", sagte Pentagon-Berater Richard Perle im vergangenen Jahr der ZEIT, "ist die CIA unfähig." Vor dem Kongress beantwortete Perle die Frage, ob Saddam Hussein Massenvernichtungswaffen besitze, so: "Na klar. Wie weit er mit seinem Atomwaffenprogramm ist, wissen wir nicht genau. Meine Vermutung ist: weiter, als wir glauben. Saddam Hussein ist immer weiter, als wir glauben, weil wir uns ständig darauf beschränken zu sagen, was wir beweisen können."
Wichtiger war freilich immer, was die Scharfmacher nicht beweisen können, aber umso fester glauben: dass nämlich Saddam Hussein mit al-Qaida verbündet sei und irgendwie hinter dem Anschlag vom 11. September stecken müsse. Dieser Beweislast haben sich die Pentagon-Hardliner offenbar entledigen wollen. Lieber ließen sie, schreibt Harold Meyerson vom linken American Prospect, die CIA als „Haufen vulgärer Empiriker“ dastehen.
Aus Misstrauen gegen die CIA beauftragte Verteidigungsminister Rumsfeld zunächst den treuen Bundesgenossen und ehemaligen CIA-Direktor James Woolsey damit, die Irak-Connection des Osama bin Laden auszuforschen – ohne das erhoffte Ergebnis. Dann ließ er eine eigene Abteilung zur Geheimdienstauswertung gründen, das Office of Special Plans. An die Spitze setzte er einen weiteren ideologisch sattelfesten Gefolgsmann, Abram Shulsky. Jedes Mitglied der Gruppe wusste, dass sich um die Existenz der Abteilung Verschwörungstheorien ranken würden. Ihre Aufgabe ist es bis heute, die Erkenntnisse der CIA und aller anderen Geheimdienste nach übersehenen Informationsbrocken zu durchsuchen – und, besonders markant, neu zu interpretieren.
Dabei waren im Fall des Iraks die unbestreitbaren Fakten alarmierend genug. Saddam Hussein hat jahrzehntelang daran gearbeitet, die Rolle des weltschlimmsten Schurken möglichst überzeugend zu geben. Dass er über die Skrupellosigkeit zum blindwütigen Massenmord verfügt, hat er mehrfach unter Beweis gestellt. Seit 1982 hat der Irak nicht nur Senfgas und Tabun hergestellt, sondern während des Krieges gegen Iran mehr als 100000 Geschosse mit chemischer Munition abgefeuert – nach eigenen Angaben, wohlgemerkt. Bis zu 300000 Schiiten sollen seit Ende des zweiten Golfkrieges 1991 im Süden des Landes ermordet worden sein. 2001 berichtete amnesty international von widerwärtigen Foltermethoden und zahlreichen öffentlichen Hinrichtungen. Im September desselben Jahres begrüßt Saddam Hussein ausdrücklich die Anschläge von New York und Washington.
So weit der Befund, der freilich nach den Vorstellungen von Rumsfeld & Co. noch ein wenig interpretiert werden musste. Wem, wenn nicht diesem Terroristen mit eigenem Staat, wäre es zuzutrauen, biologische und chemische Waffen an den anderen großen Amerika-Hasser, Osama bin Laden, weiterzureichen?
Der Verdacht ist plausibel. Aber bis heute gibt es keine harten Beweise dafür, dass Saddam Hussein tatsächlich Massenvernichtungswaffen hatte, die er an al-Qaida hätte weitergeben können.
Alle Berichte der UN-Inspektoren seit 1998, alle seriösen Studien, Schätzungen und Hochrechnungen über die Größe des irakischen Waffenarsenals sagen nur so viel aus: Die Menge der Bio- und Chemiekampfstoffe, die noch im Land verborgen sind, liegt zwischen null und mehreren Tonnen.
Eindeutig festzustellen ist indes, dass Saddam Hussein die Welt über sein Waffenprogramm belogen hat. 1991, zu Beginn der Unscom-Inspektionen im Irak, teilte die Regierung in Bagdad mit, sie besitze „weder biologische Waffen noch entsprechende Anlagen“. Die Lüge hielt bis 1995. Dann lief Saddam Husseins Mann für Biowaffen, sein Schwiegersohn Hussein Kamel, nach Jordanien über und offenbarte ein ausgedehntes Biowaffenprogramm, von einschlägiger Forschung bis hin zur Produktion. Das Regime in Bagdad musste die Existenz des Projektes eingestehen, behauptete jedoch, das 1974 begonnene Vorhaben 1991 eingestellt zu haben. Für diese Behauptung fanden die Inspektoren allerdings nie Beweise. Die Unmovic-Inspektoren um Hans Blix folgerten kurz vor ihrer Abreise aus dem Irak im März dieses Jahres: „Es besteht die starke Vermutung, dass 10000 Liter Anthrax nicht zerstört wurden und noch immer existieren könnten.“
Recht offen ging das irakische Regime mit seinem Chemiewaffenprogramm um. Bagdad gab zu, allein bis 1990 etwa 3800 Tonnen Kampfstoffe wie Senfgas, Tabun, Sarin oder VX-Gas produziert zu haben. Die Unscom-Inspektoren schafften es zwischen 1991 und 1998, einen großen Teil der Produktionsanlagen und 3000 Tonnen Vorstoffe zur Giftgasherstellung zu zerstören. Die Vernichtung des Arsenals war allerdings noch nicht abgeschlossen, als Saddam Hussein die Inspektoren im Dezember 1998 wegen Spionage aus dem Land werfen ließ. Niemand weiß, was aus 6000 Chemiebomben und 550 mit Senfgas gefüllten Artilleriegranaten geworden ist, die Unscom intakt im Irak zurücklassen musste.
Als die Mitarbeiter von Hans Blix im November vergangenen Jahres, vier Jahre nach ihrem Rauswurf, in den Irak zurückkehrten, fertigten die Behörden sie mit einer abenteuerlichen Erklärung ab; die Granaten seien inzwischen bei einem Brand im Lagerhaus vernichtet worden. Rückstandslos.
Sieht man von der unwahrscheinlichen Option ab, dass Saddam Hussein vier Jahre Sanktionen und Isolation in Kauf genommen hat, um während dieser Zeit (heimlich, damit es bloß keiner merkt!) die Reste seiner Massenvernichtungswaffen zu entsorgen, dann bleibt eine Reihe möglicher Erklärungen übrig, warum bis jetzt nichts gefunden wurde.
Vielleicht sind mit den amerikanischen Spürsoldaten im Irak doch nicht die geeigneten Spezialisten am Werke. (In diesem Fall wäre es wohl besser gewesen, den UN-Inspektoren mehr Zeit zu lassen.) Oder es braucht noch viel mehr Zeit, um in einem Land von der Größe Frankreichs sorgsam versteckte Depots aufzuspüren.
Möglich wäre auch, dass es im Irak außer ein paar mobilen Milzbrandwaggons einfach keine anderen Biowaffenfabriken gab. Oder es stimmt, was ein anonymer irakischer Wissenschaftler den Amerikanern anvertraute: dass Chemiewaffen auf Anforderung innerhalb kürzester Zeit in zivilen Arzneifabriken hätten produziert werden können – diese Theorie erklärt freilich nicht, wo die irakischen Chemiewaffenbestände aus den achtziger Jahren geblieben sind. Nicht auszuschließen ist auch, dass Saddam Hussein sein Arsenal kurz vor dem Angriff der Koalitionstruppen ins Ausland geschafft hat. Schließlich könnte auch eine Befürchtung wahr geworden sein, welche die CIA schon vor dem Krieg geäußert hat: In den Wirren der Gefechte könnten Depots geplündert worden sein, entweder von treu ergebenen Saddam-Hussein-Anhängern oder aber von Terroristen.
Denkbar wäre natürlich auch, dass Donald Rumsfeld Recht behält: Womöglich wurden die Bio- und Chemiewaffen des Iraks kurz vor dem Krieg vernichtet. Vielleicht war die Frage auch einfach nicht so wichtig, da die Antwort auf Saddam Hussein ja ohnehin feststand: Krieg.
Möglich ist natürlich auch etwas ganz anderes: dass nämlich gerade jetzt, da dieser Satz geschrieben wird, irgendwo zwischen Mossul und Basra ein Team amerikanischer Waffenexperten auf ein Lager mit Anthrax-Ampullen oder Chemiegranaten stößt. Dass man das vorher gewusst habe, wird man nun allerdings kaum noch behaupten können. Und ob damit der Krieg schon gerechtfertigt wäre – das ist wiederum eine ganz andere Frage.
zeit.de