Dienstag, 10.10.2017 13:07 von Sven Weisenhaus | Aufrufe: 358

Offener Brief an einen Börsennovizen

Sehr verehrte Leserinnen und Leser,

neulich schrieb mir ein persönlicher Bekannter - ein Börsennovize - eine E-Mail. Darin bat er mich um Rat bezüglich einer Position, die er vor einigen Monaten gekauft hatte. Mit ein paar nützlichen Tipps konnte ich ihm rasch helfen.

Ein wohlbekanntes Muster

Daraufhin erhielt ich eine Antwort von ihm, die unter anderem einige Rechtfertigungen enthielt, warum er denn nun doch „zockt“, obwohl ich ihm – natürlich! – Vorsicht ans Herz gelegt hatte. Ich musste schmunzeln, als ich diese Zeilen las, denn darin zeichneten sich die Anfänge eines mir wohlbekannten Musters ab, das wohl jeden Börsianer in seiner Anfangszeit prägte.

Weil dieses Muster – wie alle anderen an der Börse – ebenso konstant und vorhersehbar ist, antworte ich dem jungen Mann an dieser Stelle. So besteht die Chance, dass auch andere Börsennovizen davon profitieren (was jedoch höchstwahrscheinlich nur ein einfältiger Wunsch bleiben wird). Aber vielleicht taugt das Folgende auch als Auffrischung für manch erfahrenen Börsianer – oder entlockt ihm hier und da ein Schmunzeln.

Können Regeln vor dem Börsen-Unheil schützen?

Lieber M.,

herzlichen Glückwunsch zu deinen ersten erfolgreichen Schritten auf dem Börsenparkett! Ich freue mich wirklich darüber, dass du dir ein Herz gefasst hast und dich auf das Abenteuer Börse einlässt. Du schreibst, ich solle „keine Angst“ haben, dass du dich zu stark engagierst. Deine Positionen wären ja noch so klein, dass dich sogar die Gebühren schmerzen.

Tja, ich will ehrlich zu dir sein: Ich habe keine Angst, dass du irgendwelche Dummheiten an der Börse machst. Wirklich – überhaupt nicht! Es ist vielmehr so, dass ich absolut sicher bin, dass du Dummheiten machen wirst!

Es ist ohne Frage vernünftig, dass du dir Regeln setzt, aber sie werden dich nicht vor den Gefahren der Börse schützen. Auch mit kleinen Positionen kannst du am Ende „Haus und Hof“ aufs Spiel setzen. Jetzt wirst du sicherlich verblüfft sein: Wie kann man mit kleinen Einsätzen viel Geld verlieren?

Ein Börsenspaziergang

Um das zu verstehen, müssen wir ein wenig tiefer in das Wesen der Börse eindringen. Vielleicht kennst du den Spruch, der Ludwig Erhard zugeschrieben wird: „Wirtschaft ist zu 50 % Psychologie.“ Da ist sicherlich was dran, aber über die Börse muss es heißen: „Börse ist zu 90 % Psychologie.“ Weitere 5 % sind Disziplin; dazu zählen auf jeden Fall Regeln wie deine („Ich gehe nur kleine Positionen ein.“) Der Rest teilt sich irgendwie auf in Glück und Technik (also z.B. welche Chartmethode man wählt oder wie man seine Ein- und Ausstiege bestimmt).

Deine Regel über die kleinen Positionen ist also schon mal super – aber wenn dir die Börsenpsychologie in die Quere kommt, dann wirst du im Eifer des Gefechts diese und alle anderen Regeln einfach über den Haufen werfen. Und das kann viel schneller gehen, als du jetzt vielleicht glauben magst.

Machen wir also einen kleinen gedanklichen Spaziergang über das Börsenparkett, um zu sehen, wie so etwas geschehen kann. Ach so – ja – die Börse ist natürlich kein übersichtlicher Ballsaal mit einem blankpolierten Parkett, auf dem sich die Teilnehmer gemächlich bewegen und kleine Nettigkeiten austauschen. Manche sagen, die Börse sei eher ein Haifischbecken.

Was die Börse wirklich ist

Aber dieser Vergleich gefällt mir nicht. Ein „Becken“ klingt zu sehr nach Aquarium, also auch einem sehr übersichtlichen Raum, in dem die Haifische ziemlich gut sichtbar sind. Die Wirklichkeit sieht aber ganz anders aus. Da sitzt du einsam vor deinem Monitor, nachdem du deine Trades gemacht hast. Du siehst die Haifische nicht und denkst nicht einmal an sie.

Ich stelle mir dir Börse daher eher wie einen dichten Dschungel vor. Und weil die Börse überraschend unlogisch ist, gibt es in einem Börsendschungel auch Haifische. Aber diese sind natürlich gut versteckt (ganz tief im Wald und hinter Bäumen und Büschen), so dass man sie kaum sieht und selten an sie denkt.

In den Dschungel führen verschiedene Wege, – manche davon sind sogar ausgeschildert („Zu den Aktien“, „Zu den Sparplänen“, „Zu den Zertifikaten“ usw.). Du bist z.B. den Aktien-Weg gegangen und hast an einer der nächsten Abzweigungen die Richtung „nur kleine Aktien-Positionen“ gewählt. So weit, so gut. Aber nun wirst du im Dschungel von Mücken gepiesackt, die es bekanntlich in jedem Dschungel gibt. Im Börsen-Dschungel sind die Mücken aber Lakaien der Haifische. Sie sollen dich immer weiter in den Dschungel hineintreiben, und zwar genau ins Maul der Haifische.

Von Haifischen, Mücken und Viren

Die Mücke, die dich gerade piesackt, summt dauernd: „Du hast zu kleine Positionen. Das lohnt sich nicht! Wegen der hohen Gebühren ist gleich nochmal so viel weg, wenn du verlierst  – und wenn du gewinnst, bleibt auch nichts übrig. Aber hey! Du hast doch schon die ersten Gewinne. Du hast es also drauf! Es ist also Zeit, die Positionen zu vergrößern!“

Vielleicht hörst du diese Mücke erst ganz leise und vielleicht kannst du sie auch eine Weile ignorieren. Aber verlass dich drauf, sie wird immer aufdringlicher werden. Irgendwann musst du dich entscheiden: Hörst du auf die Mücke oder rennst du einfach aus dem Dschungel raus?

Doch Mücken surren nicht nur, sie stechen auch. Und im Börsendschungel überträgt ihr Stich den berüchtigten Börsenvirus. Je stärker du damit infiziert bist, desto weniger Kraft hast du, den Einflüsterungen der Mücken zu widerstehen. Du wirst somit immer tiefer in den Dschungel getrieben, und die Chance sinkt, ihn jemals wieder verlassen zu können.

Das Spiel beginnt immer wieder von Neuem

Du ahnst natürlich, worauf das hinausläuft: Du hörst auf die Mücke und vergrößerst deine Positionen. Wenn es schlecht läuft, kann es jetzt schon passieren, dass du „alles“ verlierst. Dann fliegst du quasi automatisch aus dem Dschungel raus. Das wäre zwar bitter, aber ist noch kein Beinbruch: Du bist jung, kannst dir wieder neues Startkapital erarbeiten und ziehst dann wieder in den Dschungel (zumindest, wenn du stark genug vom Börsenvirus infiziert bist).

Das Spiel beginnt dann von Neuem, und du denkst, du seist besser geworden – aber der Ablauf ist jedes Mal derselbe: Du stellst Regeln auf und die Mücken bringen dich irgendwann dazu, sie zu brechen. Mit etwas Glück gewinnst du auch mit den größeren Positionen. Du wirst sicherer und kommst schlussendlich zu der Überzeugung, dass die Mücken Recht haben: Du hast es echt drauf!

Worüber man weder mit Frau noch Mutter sprechen kann

Inzwischen ist genügend Zeit vergangen, dass du vielleicht auch im „richtigen“ Leben weiter vorangekommen bist, Erfolge feiern und Verantwortung übernehmen konntest. Du bist jemand geworden! Spätestens dann stellt dir die Börse ein Bein. Dein System läuft nicht mehr, die (kleinen) Verluste häufen sich – sei es, weil die Märkte drehen oder aus sonst einem Grund. Inzwischen hast du im wahren Leben gelernt, dass man nur entschlossen genug und notfalls auch gegen alle Widerstände handeln muss, um voranzukommen. Dass man das System zu seinem Glück zwingen kann.

Da werden dann mal gerne Stopps weggelassen oder nicht beachtet und Verlustpositionen laufen immer weiter ins Minus. Oder man geht noch größere, noch häufigere oder noch riskantere Positionen ein, setzt quasi alles auf eine Karte. Das ist der Anfang vom Ende. An der Börse lässt sich nichts erzwingen. Daher erleben gerade gestandene Manager und Unternehmer gerne mal die spektakulärsten Pleiten an den Börsen. Für alle anderen stehen am Ende derart schmerzhafte, oft horrende Verluste, über die man weder mit seiner Mutter noch mit seiner Frau sprechen kann und will.

Das Wort „schmerzhaft“ ist unterstrichen, denn entscheidend für deinen weiteren Börsenweg ist, dass diese Verluste so richtig weh tun. Börsenaltmeister André Kostolany sagte einmal: „Das an der Börse verdiente Geld ist Schmerzensgeld: Erst kommt der Schmerz, dann kommt das Geld.“ Erst dieser Schmerz zwingt dich (und viele andere), das Richtige über die Börse zu lernen: Wie man seine eigene Psyche in den Griff bekommt.

Eine Auszeit am Seitenrand

Natürlich nimmst du dir nach einem solchen Rückschlag eine Auszeit (sofern du nicht sogar ganz aus dem Dschungel fliehst und nie mehr zurückkehrst). Dabei landen die meisten Börsenopfer – also wahrscheinlich auch du in einem Gebirge ganz am Rand des Börsendschungels (deshalb auch oft „Seitenrand“ genannt).

Dort triffst du auf all die wundersamen Gestalten, die mit den so typischen Blessuren „verziert“ sind, welche die Börse so schlägt. Du hörst dort auch viele Gerüchte und erhältst noch mehr gute Ratschläge. Es gibt jede Menge ultimative Tipps für „unfehlbare“ Systeme und andere Methoden, die angeblich garantiert zum Börsenerfolg führen.

Nur: Sie kommen stets von denen, die ebenfalls hier gestrandet sind. Selbst ausprobiert haben die meisten Tippgeber ihr „perfektes“ System bisher nicht – und wenn, dann war der Erfolg bescheiden. Falls du eine Weile auf der Lichtung verweilen würdest, könntest du feststellen, dass immer dieselben Leute wieder und wieder in dem Gebirge auftauchen – mit neuen Blessuren und neuen Tipps.

Ein ganz gefährlicher Ort!

Dieses Seitenrand-Gebirge ist bei genauer Betrachtung ein verlockender Ort, denn hier wurde noch nie ein Haifisch gesichtet. Einige clevere Leute bleiben daher auch dort und mimen den erfahrenen Ratgeber für die ständig neu herbeiströmenden Börsenopfer. Diese sind zunächst dankbar für diese Zuwendung, aber die meisten ziehen natürlich ihrer Wege, wenn sie diese Dampfplauderer durchschauen. Einige sind hingegen so traumatisiert, dass sie sich gar nicht mehr von dem Gebirge hinab in den Dschungel trauen. Ihnen reicht es nun, in der relativen Sicherheit des Seitenrand-Gebirges hin und wieder ein bisschen echte Börsenluft zu schnuppern, die darüber hinwegstreicht.

Du ahnst es natürlich: Im Grunde ist das Seitenrand-Gebirge ein gefährlicher Ort, eine Art Börsensackgasse. Du musst unbedingt da weg – egal ob du ganz aus dem Dschungel fliehst oder dich noch tiefer hinwagst. Am Seitenrand darfst du niemals länger stehen bleiben!

Aber was ist dann zu tun? Es gibt eine Unmenge von Ratschlägen, doch dazu mehr, wenn es soweit ist. Hier erst einmal drei der wichtigsten: (Wundere dich nicht, dass sie zunächst so banal klingen – auch an der Börse ist es das Einfache, das so schwer zu machen ist.)

Die drei wichtigsten Regeln für den Börsenerfolg

1. Erkenne dich selbst!

Dieser Standardspruch jedes Esoterikkurses gilt für Börsianer wortwörtlich. Du musst so ehrlich zu dir selbst sein, dass es weh tut. Das Wichtigste ist, unbedingt herauszufinden, was dir liegt. Bist du ein Trader oder eher ein Langfristanleger? Und welche Technik liegt dir, der fundamentale Zahlenkram oder die Charttechnik? Es gibt etliche Möglichkeiten und natürlich musste du etliche davon selbst ausprobieren, damit du das Passende für dich herausfindest.

Misstraue dabei selbst gutgemeinten Ratschlägen! Denn was für andere taugt und sie vielleicht sogar überaus erfolgreich macht, kann für dich genau das Verkehrte sein. Prüfe, teste alles (!) aus, und frage dich stets, ob du dich mit den jeweiligen Umständen auf Dauer wohlfühlen kannst. Nur wenn du diese Frage eindeutig mit „Ja“ beantwortest, kann es sein, dass du das Richtige für dich gefunden hast.

Das klingt nach einer Menge Arbeit und das ist es auch. Aber jemand hat mal gesagt: Börse ist ein Job wie jeder andere auch – man kann ihn also lernen. Aber jede Lehre dauert mindestens drei Jahre; und das gilt eben auch für die Börse (hier sind es sogar eher mehr). Mache dir also keine Illusionen, dass es leicht wird!

2. Lerne zu verlieren!

Niemand verliert gerne. Im „richtigen“ Leben ist Verlieren ein Makel. Nur die Gewinner werden gefeiert. Wer im Endspiel der Fußball-WM verliert, ist zwar Vizeweltmeister, aber darf sich dafür keinen Stern aufs Trikot nähen und wird von der Masse schnell vergessen. Ähnlich ist es in der Schule, im Job oder in der Politik. Deshalb wurmt uns ein Verlust sehr häufig und erzeugt negative Gefühle.

An der Börse sind Verluste aber normal. Sie gehören dazu, weil man eben nicht immer gewinnen kann. Der Verlust an der Börse ist also kein Makel. Er darf daher auch keine negativen Gefühle in dir erzeugen! Negative Gefühle provozieren falsche Handlungen – führen z.B. dazu, dass du deine Regeln nicht befolgst. Aber wir haben oben schon gesehen, was dann passiert: eine Katastrophe.

Es ist also an der Börse überlebenswichtig, Verluste emotionslos zu betrachten. Das bedeutet nicht, dass du sie ignorieren oder auf die leichte Schulter nehmen solltest. Ganz im Gegenteil: Sie sind enorm wichtig, denn sie lehren dich, was für dich richtig und was für dich falsch an der Börse ist.

3. Kaufe billig, verkaufe teuer

Diese dritte Weisheit erscheint auf den ersten Blick so unglaublich simpel. Man möchte unwillkürlich ausrufen: Ja, wenn es doch so einfach wäre! Sie beinhaltet aber tatsächlich das größte Geheimnis des Börsenerfolgs und natürlich alle seine Komponenten: ein funktionierendes System, eine wirksame Verlustbegrenzung, richtige Einstiege und – noch viel wichtiger! – die richtigen Ausstiege.

Aber dieses „Geheimnis“ lässt sich nicht so ohne weiteres mit Worten vermitteln. Der wahre Kern dieser scheinbar so simplen Weisheit erschließt sich meist erst nach vielen Jahren, in denen man sich mit Punkt eins und zwei erfolgreich herumgeschlagen hat.

Und das Beste an den beiden ersten Tipps ist, dass du sofort beginnen kannst, sie umzusetzen – auch wenn du noch ganz am Anfang stehst. Natürlich wirst du sie nicht immer beherzigen, genauso wie du alle anderen Hinweise hier immer mal wieder vergessen wirst. Aber auch das ist völlig normal. Du kannst aber die Hinweise hier immer mal wieder zur Hand nehmen: als Auffrischung, als Richtschnur, zur Anregung. Mit Sicherheit erschließt sich vieles dann nach und nach, was jetzt vielleicht ein wenig „mystisch“ klingt.

In jedem Fall wünsche ich dir für deinen weiteren Weg im Börsendschungel viel Erfolg!

Mit besten Grüßen

Dein Torsten Ewert

(Quelle: www.stockstreet.de)


Über den Autor

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Stockstreet GmbH
Sven Weisenhaus ist Trader und Börsenanalyst. Seine Erfahrungen und Analysen zu den Themen Geldanlage, Börse und Finanzen veröffentlicht er als Redakteur in verschiedenen Publikationen. Er schrieb z.B. über mehrere Jahre einen auf die Elliott-Wellen-Theorie spezialisierten Börsendienst. Seit 2012 veröffentlicht er als Chefanalyst und inzwischen Geschäftsführer einen renommierten Börsennewsletter. Seit einigen Jahren gehört er zum Team von Stockstreet.de und schreibt dort unter anderem die Analysen des „Target-Trend-Spezial“ - einem börsentäglichen Dienst, der unter anderem den DAX nach der Target-Trend-Methode analysiert. Sven Weisenhaus hat auch die Redaktion des bekannten Newsletters "Börse-Intern" übernommen. Für mehr Information: https://www.stockstreet.de/
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